Birthler: Wir müssen immer sehen, dass im Stasi-Unterlagengesetz ja unterschiedliche Traditionen zusammengekommen sind. Das Gesetz erklärt sich allein aus der bundesdeutschen Rechtstradition heraus nur sehr schwer, da kann man es auch nicht richtig nachvollziehen. Wir sind ja - also, mit 'wir' meine ich jetzt so die ostdeutschen und die friedlichen Revolutionäre, wie sie immer so schön genannt werden - wir hatten ja eine ganz starke Tradition von Glasnost-Transparenz - Türen auf, Schränke auf, Fenster auf. Das war unser Gegenmittel gegen die Diktatur. Und dazu gehört, dass wir meinen: Solange das Herrschaftswissen der ehemals Herrschenden geheim bleibt, hat es auch noch Macht. Deswegen dieser Anspruch: Raus damit, natürlich - aber darauf kommen wir später noch - immer unter bestimmten eingrenzenden Bedingungen - Schutz der persönlichen Sphäre usw.. Zur gleichen Zeit gab es in der Bundesrepublik West ja schon seit Jahren eine ganz andere Debatte; die hatte auch einen emanzipatorischen, demokratischen Anspruch, zielte aber auf etwas anderes. Das begann im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung um die Volkszählung. Und man kämpfte gegen die Idee des gläsernen Menschen, kämpfte für informationale Selbstbestimmung. Das ist auch Streit, der im Grunde genommen im Kern die Persönlichkeitsrechte von Einzelnen schützen, auch emanzipatorisch ist, aber es ist schon klar: Hier wurden Reibungen programmiert. 1991 hat der Bundestag entschieden: Das ist uns zwar fremd, dieses Gesetz, aber wir verabschieden es trotzdem - auch im Respekt gegenüber dem Vermächtnis der friedlichen Revolution. Aber damals war schon klar - und das lässt sich ganz leicht auch an den Debatten nachvollziehen, die damals im Bundestag geführt wurden: Das wird zur Spannungen, zu Friktionen führen. Und da hat man in das Gesetz Paragraphen aufgenommen, die das auch noch zeigen. Also, man hat beispielsweise reingeschrieben: 'Das Stasi-Unterlagengesetz geht dem Datenschutzrecht der Bundesrepublik vor', und ein paar Paragraphen weiter heißt es: 'Das Stasi-Unterlagengesetz berührt Grundrechte aus Artikel 10 des Grundgesetzes', also Post- und Fernmeldegeheimnis. So etwas schreibt man ja nicht rein, wenn man nicht ahnt, da könnte es zu Problemen kommen. Man hat die Probleme also gesehen und gesagt: Wir wollen es trotzdem.
Thiel: Nun spricht Bundesinnenminister Otto Schily aber von 'Rechtsbruch' und drohte sogar mit einem Kabinettsbeschluss. Zustimmung für Ihre Haltung kam von den Bündnisgrünen und von Teilen der SPD-Fraktion. Wie stark haben Sie in den letzten Tagen und Wochen den politischen Druck empfunden? Gab es ihn?
Birthler: Also, ich erlebe eine heftige Debatte - eine öffentliche -, in der Argumente manchmal auch ein bisschen leidenschaftlich ausgetragen werden. Das tue ich auch, das nehme ich erst mal niemandem übel. Und dass Dinge, über die man unterschiedlicher Auffassung ist, dann gerichtlich ausgetragen werden, ist ja wohl auch demokratische Normalität. Helmut Kohl hat geklagt. Wenn er es nicht getan hätte, wenn wir gesagt hätten von uns aus, wir geben Akten über ihn oder andere Personen der Zeitgeschichte nicht heraus, dann hätten mit Sicherheit Redaktionen oder Verlage gegen uns geklagt, denn die haben nach dem Gesetz einen Anspruch darauf, die Akten zu nutzen. Von Rechtsbruch spreche ich nicht, ich sehe das auch nicht so. Wir haben ja neun Jahre in vielen Fällen auf ganz ähnliche Weise Akten herausgegeben, und niemals ist Rechtsbruch moniert worden, weder vom Kabinett Kohl - was ja viele Jahre die Rechtsaufsicht hatte über die Behörde -, noch in den letzten zwei Jahren vom Kabinett Schröder. Ich räume gerne ein - davon, dass niemand Einspruch erhebt, wird eine Sache nicht richtiger, wenn sie falsch ist. Nur, wenn man - deswegen habe ich das am Anfang gesagt - in die Gesetzgebungs-Geschichte schaut, dann wird ziemlich schnell deutlich, dass die Nutzung dieser Daten gewollt war. Und dass die Stasi zum überwiegenden Teil oder fast vollständig Daten illegal erhoben hat, das weiß ja nun jedes Kind. Das ist alles auf kriminelle Weise beschafft worden. Und wenn allein die Tatsache, dass Daten unredlich beschafft wurden, ein Grund ist, sie nicht zu nutzen, dann hätte das Stasi-Unterlagengesetz insgesamt nicht verabschiedet werden dürfen.
Thiel: Wie steht's um den politischen Druck? Man könnte ja fast den Eindruck gewinnen, dass Ihre Unabhängigkeit - also die Unabhängigkeit Ihres Hauses - und der bisher untadelige Ruf in Frage gestellt wird.
Birthler: Nun, das ginge ja nur per Gesetz, und das Gesetz stellt die Bundesbeauftragte - damals den Bundesbeauftragten - sehr unabhängig. Ich bin vom Parlament gewählt, und es gibt nur eine Möglichkeit, unmittelbar Einfluss zu nehmen seitens der Exekutive - das wäre durch einen Kabinettsbeschluss, also nicht durch das Votum eines einzelnen Ressorts, sondern durch Kabinettsbeschluss. Da greift dann die Rechtsaufsicht in Fällen, wo ich nicht mehr gesetzeskonform handle. Zugegeben, darüber gibt es Streit. Der Innenminister meint, das sei durchs Gesetz nicht gedeckt, wie wir handeln. Aber ich denke, wir haben gute Argumente auf unserer Seite. Und das bleibt letzten Endes auf dem gerichtlichen Wege zu klären, ob wir gesetzeskonform handeln oder nicht.
Thiel: In der Sachauseinandersetzung mit Ihrem Bundesinnenminister werden jetzt wieder Sachargumente ausgetauscht?
Birthler: Das war die ganze Zeit der Fall, allerdings auf verschiedenen Ebenen. Und das ist ja jedem Streit eigen, dass Argumente dann auch unterschiedlich gewichtet werden. Um mal ein Beispiel zu nennen - die Frage nach den Abhörprotokollen; so hat ja der ganze Streit begonnen. Vorausschicken möchte ich: Abhörprotokolle werden von meiner Behörde nicht herausgegeben, grundsätzlich nicht. Abhörprotokolle sind die wörtlichen Mitschriften von den Tonbändern aus abgehörten Telefonaten. Die Stasi hat aber nicht nur eine schriftliche Form von diesen Telefonaten angefertigt, sondern in zwei - drei Sätzen das für sie zusammengefasst, was operativ relevant war. Beispiel: 'X teilte Y am Telefon mit, dass das Büro der AL in Berlin-Wedding im Herbst 1987 geschlossen wird'. Das Ganze aus einem fünf- oder zehnminütigen Gespräch. Das hat der Stasi gereicht für den sogenannten Vermerk. Und um diese Informationen geht es. Und die stellen wir rechtlich gleich mit anderen Informationen, die die Stasi gesammelt hat, beispielsweise mit IM-Treff-Berichten oder wenn Sie eine Wohnung abgehört hat oder Briefe abgefangen hat, also all diese unterschiedlichen Informationen. In einer weiteren Verarbeitungsstufe erkennt man dann gar nicht mehr, ob das ein abgehörtes Telefonat war oder ob die Information woanders herstammt - beispielsweise in meiner Akte ein Zettel; da steht oben drüber: 'Über Birthler wurde bekannt - Doppelpunkt', und dann kommen eine ganze Menge Informationen zu meiner Person. Wenn ich Glück habe, kriege ich noch raus, wo her die Informationen stammen, weil ich mich erinnere. Meistens ist das nicht mehr herauszubekommen. Und davon gibt es ganz viel. Damit will ich sagen: Der Versuch, jetzt zu trennen - die Unterlagen darf ich benutzen, denn sie stammen nicht aus einem abgehörten Telefonat, und die andern darf ich nicht benutzen - das geht gar nicht, weil die Stasi mit Informationszusammenstellungen gearbeitet hat, aus denen man die Quelle oder die Art der Informationserhebung gar nicht mehr entnehmen kann.
Thiel: Nun gibt es ja inzwischen zwei Rechtsgutachten mit ganz unterschiedlichen Ergebnissen. Professor Kunig definiert, auch Personen der Zeitgeschichte - und um die geht es ja hier im Moment - als Betroffene und Dritte, wenn sie ohne ihr konkretes Wissen abgehört wurden, deshalb dürfe nicht herausgegeben werden. Die Professoren Marxen und Werle dagegen stufen Personen der Zeitgeschichte nur dann als Betroffene und Dritte ein, wenn ihre Privatsphäre betroffen ist. Gegensätzliche Positionen also, die einer richterlichen Überprüfung unterzogen werden, Sie sagten es, Frau Birthler. Reichen diese rein juristischen Interpretationen des Stasi-Unterlagengesetzes aus, oder müssen nicht vielleicht auch andere Aspekte herangezogen werden?
Birthler: Also, erst mal zur Sache. Natürlich ist das auch ein juristisches Thema. Ich werde aber gleich nochmal darauf zu sprechen kommen, warum dieses nicht hinreicht. Aber zunächst mal zu diesem juristischen Streit. Insgesamt im Stasi-Unterlagengesetz gilt, dass Unterlagen von Personen nur verwendet werden dürfen - ich spreche jetzt nicht von Täterakten, sondern von denen, die belauscht wurden -, wenn diese einverstanden sind. Das gilt in diesen Paragraphen. Und dann gibt es einen ganz bestimmten Absatz in diesen Paragraphen. Da wird eine Personengruppe besonders benannt, und das sind die Personen der Zeitgeschichte. Und da wird dann unterschieden, da wird gesagt: 'In deren öffentlicher Rolle haben sie Äußerungen getan - wenn die Stasi die erhoben hat, können wir sie verwenden. Wenn sie als Privatpersonen gehandelt haben oder telefoniert haben, dann sind sie so geschützt wie jeder andere auch'. Diese Regelung im Stasi-Unterlagengesetz lehnt sich an an das, was wir auch aus dem Presserecht kennen. Das weiß jeder Journalist: Prominente haben keinen so umfassenden Schutz zu beanspruchen wie Privatpersonen oder auch wie sie selbst als Privatpersonen. Und etwa so verfahren wir. Dass Informationen aus dem privaten Bereich tabu sind, versteht sich von selbst. Und die zweite eingrenzende Bestimmung ist die Zweckbindung des Stasi-Unterlagengesetzes. Dieser Punkt ist mir schon noch sehr wichtig, weil ich glaube, dass dadurch die ganze Debatte um die Akte Kohl eine Schieflage bekommen hat. Man muss ja mal sehen, dass diese Debatte losgetreten wurde, als man gehofft hat, in der Akte Kohl - die die Stasi zusammengetragen hat - würde sich etwas finden darüber, wie es mit den CDU-Spenden zugegangen wäre. Und da kann ich zwar die Neugierde verstehen, aber da muss ich sagen: 'Bedaure, für diesen Zweck ist das Stasi-Unterlagengesetz nicht gemacht worden'.
Thiel: Könnte nicht HVA-Wissen, was damals erlangt worden ist, auch wieder Rückwirkung genau auf diese Spendenaffäre haben? Könnte nicht das Wissen, was dort erlangt worden ist, eingesetzt worden sein, um vielleicht gerade da den Hebel anzusetzen?
Birthler: Sie sprechen genau diese gewisse Grauzone an, bei der man im Einzelfall abwägen muss. Also, es ist richtig, die Stasi hat ja auch Informationen beschafft über Unregelmäßigkeiten von Personen im privaten und geschäftlichen Bereich - es ging ja gar nicht nur um Politiker -, um sich Menschen gefügig zu machen oder um sie zu manipulieren. Und dann kann es sehr interessant sein, auch etwas darüber zu wissen. Entscheidend ist aber immer - und das müssen wir bei der Aktenherausgabe beachten -, ob diese Informationen für den, der den Rechercheantrag stellt, interessant sind, weil er die Stasi-Tätigkeit aufarbeiten will, oder ob er das Thema 'Stasi' nur vorschiebt, und es geht ihm im Grunde genommen um etwas anderes. Das ist nicht jedem Antrag sofort anzusehen, weil es Journalisten natürlich gelernt haben, geschickt zu formulieren. Aber bei der Aktenherausgabe kann man durchaus trennen, indem wir sagen: 'Bestimmte Teile der Akte geben für das Thema Stasiaufbereitung nichts her'. Wichtig ist mir vielleicht noch in dem Zusammenhang zu erwähnen, dass wir jetzt nicht über die konkrete Akte von Helmut Kohl reden. Ob da was drin steht zu dem Thema oder nicht, das steht ja dahin. Ich spreche nur prinzipiell über diese Frage, ob man Akten benutzen darf, wenn man irgendeine Unregelmäßigkeit - eine Spendenpraxis oder das Geschäftsgebaren oder die Tatsache, dass sich jemand hoch verschuldet hat oder so - ob man so etwas mit Hilfe der Stasi-Akten aufklären darf oder nicht. Und ich sage prinzipiell 'nein'. Es kann höchstens in dem einen oder anderen Einzelfall unvermeidbar sein, dass man auch solche Informationen mit heranzieht. Das ist dann aber eher eine Nebenwirkung, so wie es bei manchen Medikamenten Nebenwirkungen gibt.
Thiel: Die juristische Betrachtung hatten wir. Gibt es noch andere Aspekte, die zu beachten sind, wenn man über die Akte von Helmut Kohl redet?
Birthler: Helmut Kohl hat, wie andere Bürgerinnen und Bürger, auch ein Recht auf Schutz seiner Privatsphäre. Aber wir kennen aus dem Presserecht, und das muss ich jetzt nochmal heranziehen so als Analogie, dass man solche Abwägung nicht mit dem Lineal vornehmen kann, sondern von Fall zu Fall mal schauen muss, was schwerer wiegt - das öffentliche Aufklärungsinteresse, was ein hoher Wert ist, oder der Schutz der persönlichen Sphäre. Und wenn Sie Prozesse haben über die Frage, was muss - weiß ich - ein Sportler hinnehmen, wenn eine Zeitung über ihn berichtet, da werden Sie kein Gericht finden, das solche Dinge prinzipiell entscheidet, sondern immer an der einzelnen Information entlang entscheidet - hier meinen wir, ist das öffentliche Aufklärungsinteresse so groß, dass die Person es hinnehmen muss. Oder hier ist es eine unzumutbare Veröffentlichung aus dem persönlichen Bereich der Betreffenden. Und das liegt im pflichtgemäßen Ermessen, wie das im Beamtendeutsch heißt. Übrigens ist das auch bekannt aus der Archivgesetzgebung in den Ländern und auch im Bund, dass Archivare gegebenenfalls in pflichtgemäßem Ermessen entscheiden, was geben wir raus und was nicht. Die Forderung übrigens, dass Informationen aus den Stasi-Archiven zweckgemäß verwendet werden, die Verantwortung dafür liegt nicht nur bei der Stasi-Unterlagenbehörde, sondern auch bei allen, die diese Informationen nutzen.
Thiel: Sollte sich die Rechtsposition von Helmut Kohl durchsetzen, bedeutet das doch eigentlich das Ende Ihrer Arbeit. Befürchten Sie, dass die Akten geschlossen werden?
Birthler: Ich schicke voraus, dass ich davon ausgehe, dass wir rechtskonform handeln und bin deswegen nicht pessimistisch, was diese gerichtliche Klärung im Einzelfall betrifft. Aber man muss trotz allem sehen, dass hier nur ein ganz bestimmter Bereich unserer Arbeit betroffen ist von dieser Diskussion. Der ganze Bereich 'Einsicht in die eigene Akte', wo ja nach wie vor eine große Nachfrage ist - 10.000 Anträge im Monat, nach wie vor -, auch der ganze Bereich der Aufbereitung der Archive, all das wird von der Debatte nicht tangiert. Tangiert wird ein ganz wichtiger Teil der Aufklärung über die Stasi-Tätigkeit. Sie könnten ganze Forschungsfelder, die die DDR-Vergangenheit, Diktaturgeschichte betreffen, nicht mehr wirklich so gründlich bearbeiten, wie wir das in den letzten Jahren machen konnten. Es wird ja jetzt immer über Politiker und Prominente gesprochen, wenn wir über Betroffene und Dritte reden. Man muss aber sehen, dass auch ganz andere Personengruppen im Sinne des Stasi-Unterlagengesetzes als Betroffene gelten, beispielsweise Richter in der DDR oder die Organe, mit denen die Stasi zusammengearbeitet hat; die haben sich ja auch gegenseitig misstraut und haben sich gegenseitig belauscht. Und solange jemand belauscht wurde und nicht ausdrücklich mit der Stasi zusammengearbeitet hat, gilt er im Sinne des Stasi-Unterlagengesetzes als Betroffener. Wir dürfen diese Akten also nur benutzen, wenn derjenige einverstanden ist. Also ganze Forschungsfelder - bis hin auch zu deutsch-deutschen Beziehungen und der Einfluss, den die Stasi versucht hat, darauf zu nehmen - wären uns weitgehend verschlossen, wenn sich dieser restriktive Kurs durchsetzen würde.
Thiel: SPD-Fraktionschef Peter Struck hat in der vergangenen Woche angekündigt: "es wird bald eine Regelung geben, die der Innenminister und die Bundesbeauftragte mittragen werden". In den kommenden Tagen sind Gespräche mit dem Parlament angesetzt, Frau Birthler. Was erwarten Sie davon?
Birthler: Also, ich habe mich vor nicht langer Zeit mit einem ausführlichen Brief auch an den Innenausschuss gewandt, indem wir noch einmal unsere Praxis ausführlich dargestellt haben - das kann man ja auch nicht bei allen voraussetzen, dass das bekannt ist - und auch beschrieben haben, wie wir uns vorstellen können, die Aktenherausgabepraxis noch zu verfeinern - dass beispielsweise die Betreffenden erfahren, wenn jemand ihre Akte benutzen will. Das ist kein angenehmes Gefühl, irgendwann in der Zeitung oder im wissenschaftlichen Aufsatz zu lesen, dass Sachen aus meiner Akte auftauchen, und ich habe das nicht mal selber gesehen. Ich finde das völlig legitim, dass ich vorher einen Brief kriege, wo drin steht: 'Jemand will Ihre Akte nutzen; wenn Sie wollen, können Sie vorher selber reingucken'. Das haben wir schon in vielen Fällen gemacht: wir sind gesetzlich nicht dazu verpflichtet. Wir haben's gemacht, und ich könnte mir gut vorstellen, dass wir so was künftig regelmäßig machen. Was nicht geht, ist, dass wir uns daran binden, denn es gibt durchaus Leute, die sind gar nicht mehr erreichbar. Und wenn wir uns da an deren Einverständnis binden, dann bleibt die Akte sozusagen blockiert - bloß weil die keine Lust haben, reinzugucken. Aber soweit die Leute irgendwie erreichbar sind, kann man sagen: 'Entscheiden Sie sich bitte bis zu einem bestimmten Tag'. Und dann können sie erst mal in ihre Akte sehen. Das finde ich in Ordnung, auch wenn es verwaltungsmäßig nicht ganz einfach ist. Und das Zweite ist das, worauf ich vorhin schon zu sprechen kam - dass wir noch besser als bisher auf die zweckmäßige Nutzung des Gesetzes achten. Im Klartext: Das Stasi-Unterlagengesetz ist nicht dazu da, die CDU-Spendenaffäre aufzuklären, sondern die Stasi-Tätigkeit. Und das hat auch praktische Folgen, wenn man das so sieht. Vom Innenausschuss ist das gesehen worden als eine sehr hilfreiche Erklärung - dieser Brief -, und ich könnte mir gut vorstellen, dass man auf dieser Grundlage jetzt auch den Streit zumindest vorläufig beilegt und sagt: Jetzt wollen wir doch erst mal die gerichtliche Klärung abwarten. Da geht es zwar nur um einen Einzelfall, aber vielleicht lernt man daraus, in welche Richtung künftig auch weiter zu denken ist.
Thiel: Moratorium würde ja dann auch Aufschub bedeuten - vielleicht bis zu einer Entscheidung von Karlsruhe?
Birthler: Ein Moratorium gibt es nicht. Man muss schauen, wie der Begriff in letzter Zeit benutzt wurde; man muss sich erst einmal klar werden, was damit gemeint ist. Wir haben, was die Akten von Helmut Kohl betrifft, uns gegenüber dem Gericht einverstanden erklärt, diese solange nicht herauszugeben, bis das gerichtliche Verfahren zunächst erstinstanzlich geklärt ist. Und dann wird man sehen, wie es weitergeht. Das ist ein völlig normales Verfahren gegenüber dem Gericht. Wenn Sie keine Baugenehmigung haben, fangen Sie auch noch nicht an, Ihre Garage zu bauen. Also, das ist kein Moratorium, sondern eine Selbstverständlichkeit. Was für mich nicht akzeptabel ist, ist das Ansinnen, in allen anderen ähnlich gearteten Fällen nun auch die Akten zurückzuhalten; dazu habe ich nämlich keine Rechtsgrundlage. Ich habe vorhin davon gesprochen, dass wir nicht Akten so einfach herausgeben, sondern dass das nach Gesetz geregelt ist. Und danach habe ich nach meiner Überzeugung auch eine Herausgabepflicht. Wenn ich diese Pflicht verletze, müsste das begründet werden. Es gibt keinen Grund. Also verfahren wir weiter so, wie wir das seit neun Jahren unbeanstandet gemacht haben, und schauen erst mal, was in dieser Einzelentscheidung wird. Danach sind wir alle ein bisschen schlauer. Da muss man sich auch anschauen, wie das Urteil ausfällt. Helmut Kohl hat ja geklagt auf Unterlassung der Herausgabe sämtlicher ihn betreffende Akten, also nicht nur einer bestimmten Art von Informationen. Das ist auch insofern etwas erstaunlich, als er ja vor zwei Jahren schon mal hingenommen hat - ohne Widerspruch -, dass seine Akten zur Verfügung gestellt wurden. Nun muss man sehen, wie sich das entwickelt.
Thiel: Grundsätzlich steht noch eine verstärkte Westaufarbeitung an; Sie haben sich dieses Thema zu Ihrem Amtsantritt ja mit auf die Agenda geschrieben. Waren wir insgesamt zu zögerlich mit diesem Thema?
Birthler: Also, ich habe das Thema ja nicht erfunden, das ist ja schon eine ganze Weile in der Welt. Es gibt auch schon umfängliche Publikationen zu diesem Thema,. zum Teil aus unserem Haus selber, zum Teil auch von externen Wissenschaftlern. Neu vielleicht ist, dass erst in der letzten Zeit auch die westdeutsche Öffentlichkeit realisiert, wie stark das Thema 'Staatssicherheit' in ihre eigene Geschichte reingeragt hat. Die Stasi war ja nicht nur ein Instrument, was die eigene Bevölkerung einzuschüchtern hatte, sondern auch ein politisches Instrument, was die SED-Interessen auch jenseits der DDR-Grenzen durchsetzen wollte. Also, ganz bekanntes Beispiel ist, dass die Stasi zwei Stimmen in der entscheidenden Abstimmung des Bundestags über das Misstrauensvotum gegenüber der sozial-liberalen Koalition gekauft hat. Das heißt, die Stasi hat richtig bundesdeutsche Geschichte mitgeschrieben. Sie hat ja nicht unterschieden in ihrem Tätigkeitsbereich zwischen Ost und West, sondern sie hat zwischen 'Freund' und 'Feind' unterschieden, und die hatte sie im Osten und im Westen. Sie können also gut - mit Blick auf das Operationsgebiet der Stasi und etwas Mut - von einer 'gesamtdeutschen Institution' sprechen, wenn Sie vom MfS reden. Und insofern kommt man, wenn man das MfS aufklären will, nicht um die Leute herum, für die sich die Stasi besonders interessiert hat. Und das war die Elite der Bundesrepublik West.
Thiel: Wie weit ist der Stand der Auswertung der Rosenholz-Dateien, und welche Dimensionen haben wir in diesem Zusammenhang zu erwarten?
Birthler: Also, die Rosenholz-Dateien sind keine Akten. Das sind Mikrofilmaufnahmen von Karteikarten. Und aus diesen Karteikarten kann man in einer Reihe von Einzelfällen entnehmen, welcher Klarname zu welchem Decknamen der Stasi gehört hat. Was diese Spione oder IMs gemacht haben, das können wir nicht entnehmen diesen Rosenholz-Daten, sondern das entnehmen wir der sogenannten 'Vira-Datei'. Das eine erst vor gar nicht langer Zeit entschlüsselte Datenbank, die wir bereits hier haben in unserer Behörde. Und jetzt kommen so nach und nach diese Karteikarten wieder zurück, aber man darf davon wirklich keine großen Überraschungen erwarten, denn die Ermittlungsbehörden der Bundesrepublik hatten schon vor Jahren die Möglichkeit, diese Daten einzusehen und eine große Zahl von Daten herauszuschreiben, damit Ermittlungen in der Bundesrepublik noch aufgenommen werden können, bevor die Verjährungsfrist abgelaufen ist. Und da ist es ja auch zu zahlreichen Ermittlungen, Prozessen und Verurteilungen gekommen. Das schließt jetzt nicht aus, dass wir in dem einen oder anderen Fall noch eine Überraschung erleben oder hier oder da noch einen IM-Decknamen einen Klarnamen zuordnen können, das ist gut möglich. Aber die große Welle von Enthüllungen ist von den Rosenholz-Dateien nicht zu erwarten.
Thiel: Was mag denn noch kommen, wenn die ersten 100 Tage eigentlich Schonzeit sind - das haben Sie, Frau Birthler, ernüchtert im Januar festgestellt. Ihr Ausblick: Welchen Stellenwert hat Ihr Haus - Ihre Behörde - in 1.000 Tagen?
Birthler: Das sind ungefähr drei Jahre, und ich hoffe ja, dass wir dann diese Bugwelle von unbearbeiteten Anträgen, die wir immer noch vor uns herschieben, ein wenig kleiner gemacht haben. Wir bearbeiten ja jetzt zum Teil noch Akteneinsichtsanträge, die 97 und 98 gestellt wurden. Und ich kann verstehen, wenn Leute ungeduldig werden. Bei uns im Haus wird zwar fleißig gearbeitet, aber ich kann das nachvollziehen, wenn Leute sagen: 'Das muss schneller gehen'. Und wenn wir in drei Jahren sagen, wir sind jetzt fast dran, und die Leute müssen nur noch ein paar Monate warten, dann bin ich schon sehr zufrieden.
Thiel: Nun spricht Bundesinnenminister Otto Schily aber von 'Rechtsbruch' und drohte sogar mit einem Kabinettsbeschluss. Zustimmung für Ihre Haltung kam von den Bündnisgrünen und von Teilen der SPD-Fraktion. Wie stark haben Sie in den letzten Tagen und Wochen den politischen Druck empfunden? Gab es ihn?
Birthler: Also, ich erlebe eine heftige Debatte - eine öffentliche -, in der Argumente manchmal auch ein bisschen leidenschaftlich ausgetragen werden. Das tue ich auch, das nehme ich erst mal niemandem übel. Und dass Dinge, über die man unterschiedlicher Auffassung ist, dann gerichtlich ausgetragen werden, ist ja wohl auch demokratische Normalität. Helmut Kohl hat geklagt. Wenn er es nicht getan hätte, wenn wir gesagt hätten von uns aus, wir geben Akten über ihn oder andere Personen der Zeitgeschichte nicht heraus, dann hätten mit Sicherheit Redaktionen oder Verlage gegen uns geklagt, denn die haben nach dem Gesetz einen Anspruch darauf, die Akten zu nutzen. Von Rechtsbruch spreche ich nicht, ich sehe das auch nicht so. Wir haben ja neun Jahre in vielen Fällen auf ganz ähnliche Weise Akten herausgegeben, und niemals ist Rechtsbruch moniert worden, weder vom Kabinett Kohl - was ja viele Jahre die Rechtsaufsicht hatte über die Behörde -, noch in den letzten zwei Jahren vom Kabinett Schröder. Ich räume gerne ein - davon, dass niemand Einspruch erhebt, wird eine Sache nicht richtiger, wenn sie falsch ist. Nur, wenn man - deswegen habe ich das am Anfang gesagt - in die Gesetzgebungs-Geschichte schaut, dann wird ziemlich schnell deutlich, dass die Nutzung dieser Daten gewollt war. Und dass die Stasi zum überwiegenden Teil oder fast vollständig Daten illegal erhoben hat, das weiß ja nun jedes Kind. Das ist alles auf kriminelle Weise beschafft worden. Und wenn allein die Tatsache, dass Daten unredlich beschafft wurden, ein Grund ist, sie nicht zu nutzen, dann hätte das Stasi-Unterlagengesetz insgesamt nicht verabschiedet werden dürfen.
Thiel: Wie steht's um den politischen Druck? Man könnte ja fast den Eindruck gewinnen, dass Ihre Unabhängigkeit - also die Unabhängigkeit Ihres Hauses - und der bisher untadelige Ruf in Frage gestellt wird.
Birthler: Nun, das ginge ja nur per Gesetz, und das Gesetz stellt die Bundesbeauftragte - damals den Bundesbeauftragten - sehr unabhängig. Ich bin vom Parlament gewählt, und es gibt nur eine Möglichkeit, unmittelbar Einfluss zu nehmen seitens der Exekutive - das wäre durch einen Kabinettsbeschluss, also nicht durch das Votum eines einzelnen Ressorts, sondern durch Kabinettsbeschluss. Da greift dann die Rechtsaufsicht in Fällen, wo ich nicht mehr gesetzeskonform handle. Zugegeben, darüber gibt es Streit. Der Innenminister meint, das sei durchs Gesetz nicht gedeckt, wie wir handeln. Aber ich denke, wir haben gute Argumente auf unserer Seite. Und das bleibt letzten Endes auf dem gerichtlichen Wege zu klären, ob wir gesetzeskonform handeln oder nicht.
Thiel: In der Sachauseinandersetzung mit Ihrem Bundesinnenminister werden jetzt wieder Sachargumente ausgetauscht?
Birthler: Das war die ganze Zeit der Fall, allerdings auf verschiedenen Ebenen. Und das ist ja jedem Streit eigen, dass Argumente dann auch unterschiedlich gewichtet werden. Um mal ein Beispiel zu nennen - die Frage nach den Abhörprotokollen; so hat ja der ganze Streit begonnen. Vorausschicken möchte ich: Abhörprotokolle werden von meiner Behörde nicht herausgegeben, grundsätzlich nicht. Abhörprotokolle sind die wörtlichen Mitschriften von den Tonbändern aus abgehörten Telefonaten. Die Stasi hat aber nicht nur eine schriftliche Form von diesen Telefonaten angefertigt, sondern in zwei - drei Sätzen das für sie zusammengefasst, was operativ relevant war. Beispiel: 'X teilte Y am Telefon mit, dass das Büro der AL in Berlin-Wedding im Herbst 1987 geschlossen wird'. Das Ganze aus einem fünf- oder zehnminütigen Gespräch. Das hat der Stasi gereicht für den sogenannten Vermerk. Und um diese Informationen geht es. Und die stellen wir rechtlich gleich mit anderen Informationen, die die Stasi gesammelt hat, beispielsweise mit IM-Treff-Berichten oder wenn Sie eine Wohnung abgehört hat oder Briefe abgefangen hat, also all diese unterschiedlichen Informationen. In einer weiteren Verarbeitungsstufe erkennt man dann gar nicht mehr, ob das ein abgehörtes Telefonat war oder ob die Information woanders herstammt - beispielsweise in meiner Akte ein Zettel; da steht oben drüber: 'Über Birthler wurde bekannt - Doppelpunkt', und dann kommen eine ganze Menge Informationen zu meiner Person. Wenn ich Glück habe, kriege ich noch raus, wo her die Informationen stammen, weil ich mich erinnere. Meistens ist das nicht mehr herauszubekommen. Und davon gibt es ganz viel. Damit will ich sagen: Der Versuch, jetzt zu trennen - die Unterlagen darf ich benutzen, denn sie stammen nicht aus einem abgehörten Telefonat, und die andern darf ich nicht benutzen - das geht gar nicht, weil die Stasi mit Informationszusammenstellungen gearbeitet hat, aus denen man die Quelle oder die Art der Informationserhebung gar nicht mehr entnehmen kann.
Thiel: Nun gibt es ja inzwischen zwei Rechtsgutachten mit ganz unterschiedlichen Ergebnissen. Professor Kunig definiert, auch Personen der Zeitgeschichte - und um die geht es ja hier im Moment - als Betroffene und Dritte, wenn sie ohne ihr konkretes Wissen abgehört wurden, deshalb dürfe nicht herausgegeben werden. Die Professoren Marxen und Werle dagegen stufen Personen der Zeitgeschichte nur dann als Betroffene und Dritte ein, wenn ihre Privatsphäre betroffen ist. Gegensätzliche Positionen also, die einer richterlichen Überprüfung unterzogen werden, Sie sagten es, Frau Birthler. Reichen diese rein juristischen Interpretationen des Stasi-Unterlagengesetzes aus, oder müssen nicht vielleicht auch andere Aspekte herangezogen werden?
Birthler: Also, erst mal zur Sache. Natürlich ist das auch ein juristisches Thema. Ich werde aber gleich nochmal darauf zu sprechen kommen, warum dieses nicht hinreicht. Aber zunächst mal zu diesem juristischen Streit. Insgesamt im Stasi-Unterlagengesetz gilt, dass Unterlagen von Personen nur verwendet werden dürfen - ich spreche jetzt nicht von Täterakten, sondern von denen, die belauscht wurden -, wenn diese einverstanden sind. Das gilt in diesen Paragraphen. Und dann gibt es einen ganz bestimmten Absatz in diesen Paragraphen. Da wird eine Personengruppe besonders benannt, und das sind die Personen der Zeitgeschichte. Und da wird dann unterschieden, da wird gesagt: 'In deren öffentlicher Rolle haben sie Äußerungen getan - wenn die Stasi die erhoben hat, können wir sie verwenden. Wenn sie als Privatpersonen gehandelt haben oder telefoniert haben, dann sind sie so geschützt wie jeder andere auch'. Diese Regelung im Stasi-Unterlagengesetz lehnt sich an an das, was wir auch aus dem Presserecht kennen. Das weiß jeder Journalist: Prominente haben keinen so umfassenden Schutz zu beanspruchen wie Privatpersonen oder auch wie sie selbst als Privatpersonen. Und etwa so verfahren wir. Dass Informationen aus dem privaten Bereich tabu sind, versteht sich von selbst. Und die zweite eingrenzende Bestimmung ist die Zweckbindung des Stasi-Unterlagengesetzes. Dieser Punkt ist mir schon noch sehr wichtig, weil ich glaube, dass dadurch die ganze Debatte um die Akte Kohl eine Schieflage bekommen hat. Man muss ja mal sehen, dass diese Debatte losgetreten wurde, als man gehofft hat, in der Akte Kohl - die die Stasi zusammengetragen hat - würde sich etwas finden darüber, wie es mit den CDU-Spenden zugegangen wäre. Und da kann ich zwar die Neugierde verstehen, aber da muss ich sagen: 'Bedaure, für diesen Zweck ist das Stasi-Unterlagengesetz nicht gemacht worden'.
Thiel: Könnte nicht HVA-Wissen, was damals erlangt worden ist, auch wieder Rückwirkung genau auf diese Spendenaffäre haben? Könnte nicht das Wissen, was dort erlangt worden ist, eingesetzt worden sein, um vielleicht gerade da den Hebel anzusetzen?
Birthler: Sie sprechen genau diese gewisse Grauzone an, bei der man im Einzelfall abwägen muss. Also, es ist richtig, die Stasi hat ja auch Informationen beschafft über Unregelmäßigkeiten von Personen im privaten und geschäftlichen Bereich - es ging ja gar nicht nur um Politiker -, um sich Menschen gefügig zu machen oder um sie zu manipulieren. Und dann kann es sehr interessant sein, auch etwas darüber zu wissen. Entscheidend ist aber immer - und das müssen wir bei der Aktenherausgabe beachten -, ob diese Informationen für den, der den Rechercheantrag stellt, interessant sind, weil er die Stasi-Tätigkeit aufarbeiten will, oder ob er das Thema 'Stasi' nur vorschiebt, und es geht ihm im Grunde genommen um etwas anderes. Das ist nicht jedem Antrag sofort anzusehen, weil es Journalisten natürlich gelernt haben, geschickt zu formulieren. Aber bei der Aktenherausgabe kann man durchaus trennen, indem wir sagen: 'Bestimmte Teile der Akte geben für das Thema Stasiaufbereitung nichts her'. Wichtig ist mir vielleicht noch in dem Zusammenhang zu erwähnen, dass wir jetzt nicht über die konkrete Akte von Helmut Kohl reden. Ob da was drin steht zu dem Thema oder nicht, das steht ja dahin. Ich spreche nur prinzipiell über diese Frage, ob man Akten benutzen darf, wenn man irgendeine Unregelmäßigkeit - eine Spendenpraxis oder das Geschäftsgebaren oder die Tatsache, dass sich jemand hoch verschuldet hat oder so - ob man so etwas mit Hilfe der Stasi-Akten aufklären darf oder nicht. Und ich sage prinzipiell 'nein'. Es kann höchstens in dem einen oder anderen Einzelfall unvermeidbar sein, dass man auch solche Informationen mit heranzieht. Das ist dann aber eher eine Nebenwirkung, so wie es bei manchen Medikamenten Nebenwirkungen gibt.
Thiel: Die juristische Betrachtung hatten wir. Gibt es noch andere Aspekte, die zu beachten sind, wenn man über die Akte von Helmut Kohl redet?
Birthler: Helmut Kohl hat, wie andere Bürgerinnen und Bürger, auch ein Recht auf Schutz seiner Privatsphäre. Aber wir kennen aus dem Presserecht, und das muss ich jetzt nochmal heranziehen so als Analogie, dass man solche Abwägung nicht mit dem Lineal vornehmen kann, sondern von Fall zu Fall mal schauen muss, was schwerer wiegt - das öffentliche Aufklärungsinteresse, was ein hoher Wert ist, oder der Schutz der persönlichen Sphäre. Und wenn Sie Prozesse haben über die Frage, was muss - weiß ich - ein Sportler hinnehmen, wenn eine Zeitung über ihn berichtet, da werden Sie kein Gericht finden, das solche Dinge prinzipiell entscheidet, sondern immer an der einzelnen Information entlang entscheidet - hier meinen wir, ist das öffentliche Aufklärungsinteresse so groß, dass die Person es hinnehmen muss. Oder hier ist es eine unzumutbare Veröffentlichung aus dem persönlichen Bereich der Betreffenden. Und das liegt im pflichtgemäßen Ermessen, wie das im Beamtendeutsch heißt. Übrigens ist das auch bekannt aus der Archivgesetzgebung in den Ländern und auch im Bund, dass Archivare gegebenenfalls in pflichtgemäßem Ermessen entscheiden, was geben wir raus und was nicht. Die Forderung übrigens, dass Informationen aus den Stasi-Archiven zweckgemäß verwendet werden, die Verantwortung dafür liegt nicht nur bei der Stasi-Unterlagenbehörde, sondern auch bei allen, die diese Informationen nutzen.
Thiel: Sollte sich die Rechtsposition von Helmut Kohl durchsetzen, bedeutet das doch eigentlich das Ende Ihrer Arbeit. Befürchten Sie, dass die Akten geschlossen werden?
Birthler: Ich schicke voraus, dass ich davon ausgehe, dass wir rechtskonform handeln und bin deswegen nicht pessimistisch, was diese gerichtliche Klärung im Einzelfall betrifft. Aber man muss trotz allem sehen, dass hier nur ein ganz bestimmter Bereich unserer Arbeit betroffen ist von dieser Diskussion. Der ganze Bereich 'Einsicht in die eigene Akte', wo ja nach wie vor eine große Nachfrage ist - 10.000 Anträge im Monat, nach wie vor -, auch der ganze Bereich der Aufbereitung der Archive, all das wird von der Debatte nicht tangiert. Tangiert wird ein ganz wichtiger Teil der Aufklärung über die Stasi-Tätigkeit. Sie könnten ganze Forschungsfelder, die die DDR-Vergangenheit, Diktaturgeschichte betreffen, nicht mehr wirklich so gründlich bearbeiten, wie wir das in den letzten Jahren machen konnten. Es wird ja jetzt immer über Politiker und Prominente gesprochen, wenn wir über Betroffene und Dritte reden. Man muss aber sehen, dass auch ganz andere Personengruppen im Sinne des Stasi-Unterlagengesetzes als Betroffene gelten, beispielsweise Richter in der DDR oder die Organe, mit denen die Stasi zusammengearbeitet hat; die haben sich ja auch gegenseitig misstraut und haben sich gegenseitig belauscht. Und solange jemand belauscht wurde und nicht ausdrücklich mit der Stasi zusammengearbeitet hat, gilt er im Sinne des Stasi-Unterlagengesetzes als Betroffener. Wir dürfen diese Akten also nur benutzen, wenn derjenige einverstanden ist. Also ganze Forschungsfelder - bis hin auch zu deutsch-deutschen Beziehungen und der Einfluss, den die Stasi versucht hat, darauf zu nehmen - wären uns weitgehend verschlossen, wenn sich dieser restriktive Kurs durchsetzen würde.
Thiel: SPD-Fraktionschef Peter Struck hat in der vergangenen Woche angekündigt: "es wird bald eine Regelung geben, die der Innenminister und die Bundesbeauftragte mittragen werden". In den kommenden Tagen sind Gespräche mit dem Parlament angesetzt, Frau Birthler. Was erwarten Sie davon?
Birthler: Also, ich habe mich vor nicht langer Zeit mit einem ausführlichen Brief auch an den Innenausschuss gewandt, indem wir noch einmal unsere Praxis ausführlich dargestellt haben - das kann man ja auch nicht bei allen voraussetzen, dass das bekannt ist - und auch beschrieben haben, wie wir uns vorstellen können, die Aktenherausgabepraxis noch zu verfeinern - dass beispielsweise die Betreffenden erfahren, wenn jemand ihre Akte benutzen will. Das ist kein angenehmes Gefühl, irgendwann in der Zeitung oder im wissenschaftlichen Aufsatz zu lesen, dass Sachen aus meiner Akte auftauchen, und ich habe das nicht mal selber gesehen. Ich finde das völlig legitim, dass ich vorher einen Brief kriege, wo drin steht: 'Jemand will Ihre Akte nutzen; wenn Sie wollen, können Sie vorher selber reingucken'. Das haben wir schon in vielen Fällen gemacht: wir sind gesetzlich nicht dazu verpflichtet. Wir haben's gemacht, und ich könnte mir gut vorstellen, dass wir so was künftig regelmäßig machen. Was nicht geht, ist, dass wir uns daran binden, denn es gibt durchaus Leute, die sind gar nicht mehr erreichbar. Und wenn wir uns da an deren Einverständnis binden, dann bleibt die Akte sozusagen blockiert - bloß weil die keine Lust haben, reinzugucken. Aber soweit die Leute irgendwie erreichbar sind, kann man sagen: 'Entscheiden Sie sich bitte bis zu einem bestimmten Tag'. Und dann können sie erst mal in ihre Akte sehen. Das finde ich in Ordnung, auch wenn es verwaltungsmäßig nicht ganz einfach ist. Und das Zweite ist das, worauf ich vorhin schon zu sprechen kam - dass wir noch besser als bisher auf die zweckmäßige Nutzung des Gesetzes achten. Im Klartext: Das Stasi-Unterlagengesetz ist nicht dazu da, die CDU-Spendenaffäre aufzuklären, sondern die Stasi-Tätigkeit. Und das hat auch praktische Folgen, wenn man das so sieht. Vom Innenausschuss ist das gesehen worden als eine sehr hilfreiche Erklärung - dieser Brief -, und ich könnte mir gut vorstellen, dass man auf dieser Grundlage jetzt auch den Streit zumindest vorläufig beilegt und sagt: Jetzt wollen wir doch erst mal die gerichtliche Klärung abwarten. Da geht es zwar nur um einen Einzelfall, aber vielleicht lernt man daraus, in welche Richtung künftig auch weiter zu denken ist.
Thiel: Moratorium würde ja dann auch Aufschub bedeuten - vielleicht bis zu einer Entscheidung von Karlsruhe?
Birthler: Ein Moratorium gibt es nicht. Man muss schauen, wie der Begriff in letzter Zeit benutzt wurde; man muss sich erst einmal klar werden, was damit gemeint ist. Wir haben, was die Akten von Helmut Kohl betrifft, uns gegenüber dem Gericht einverstanden erklärt, diese solange nicht herauszugeben, bis das gerichtliche Verfahren zunächst erstinstanzlich geklärt ist. Und dann wird man sehen, wie es weitergeht. Das ist ein völlig normales Verfahren gegenüber dem Gericht. Wenn Sie keine Baugenehmigung haben, fangen Sie auch noch nicht an, Ihre Garage zu bauen. Also, das ist kein Moratorium, sondern eine Selbstverständlichkeit. Was für mich nicht akzeptabel ist, ist das Ansinnen, in allen anderen ähnlich gearteten Fällen nun auch die Akten zurückzuhalten; dazu habe ich nämlich keine Rechtsgrundlage. Ich habe vorhin davon gesprochen, dass wir nicht Akten so einfach herausgeben, sondern dass das nach Gesetz geregelt ist. Und danach habe ich nach meiner Überzeugung auch eine Herausgabepflicht. Wenn ich diese Pflicht verletze, müsste das begründet werden. Es gibt keinen Grund. Also verfahren wir weiter so, wie wir das seit neun Jahren unbeanstandet gemacht haben, und schauen erst mal, was in dieser Einzelentscheidung wird. Danach sind wir alle ein bisschen schlauer. Da muss man sich auch anschauen, wie das Urteil ausfällt. Helmut Kohl hat ja geklagt auf Unterlassung der Herausgabe sämtlicher ihn betreffende Akten, also nicht nur einer bestimmten Art von Informationen. Das ist auch insofern etwas erstaunlich, als er ja vor zwei Jahren schon mal hingenommen hat - ohne Widerspruch -, dass seine Akten zur Verfügung gestellt wurden. Nun muss man sehen, wie sich das entwickelt.
Thiel: Grundsätzlich steht noch eine verstärkte Westaufarbeitung an; Sie haben sich dieses Thema zu Ihrem Amtsantritt ja mit auf die Agenda geschrieben. Waren wir insgesamt zu zögerlich mit diesem Thema?
Birthler: Also, ich habe das Thema ja nicht erfunden, das ist ja schon eine ganze Weile in der Welt. Es gibt auch schon umfängliche Publikationen zu diesem Thema,. zum Teil aus unserem Haus selber, zum Teil auch von externen Wissenschaftlern. Neu vielleicht ist, dass erst in der letzten Zeit auch die westdeutsche Öffentlichkeit realisiert, wie stark das Thema 'Staatssicherheit' in ihre eigene Geschichte reingeragt hat. Die Stasi war ja nicht nur ein Instrument, was die eigene Bevölkerung einzuschüchtern hatte, sondern auch ein politisches Instrument, was die SED-Interessen auch jenseits der DDR-Grenzen durchsetzen wollte. Also, ganz bekanntes Beispiel ist, dass die Stasi zwei Stimmen in der entscheidenden Abstimmung des Bundestags über das Misstrauensvotum gegenüber der sozial-liberalen Koalition gekauft hat. Das heißt, die Stasi hat richtig bundesdeutsche Geschichte mitgeschrieben. Sie hat ja nicht unterschieden in ihrem Tätigkeitsbereich zwischen Ost und West, sondern sie hat zwischen 'Freund' und 'Feind' unterschieden, und die hatte sie im Osten und im Westen. Sie können also gut - mit Blick auf das Operationsgebiet der Stasi und etwas Mut - von einer 'gesamtdeutschen Institution' sprechen, wenn Sie vom MfS reden. Und insofern kommt man, wenn man das MfS aufklären will, nicht um die Leute herum, für die sich die Stasi besonders interessiert hat. Und das war die Elite der Bundesrepublik West.
Thiel: Wie weit ist der Stand der Auswertung der Rosenholz-Dateien, und welche Dimensionen haben wir in diesem Zusammenhang zu erwarten?
Birthler: Also, die Rosenholz-Dateien sind keine Akten. Das sind Mikrofilmaufnahmen von Karteikarten. Und aus diesen Karteikarten kann man in einer Reihe von Einzelfällen entnehmen, welcher Klarname zu welchem Decknamen der Stasi gehört hat. Was diese Spione oder IMs gemacht haben, das können wir nicht entnehmen diesen Rosenholz-Daten, sondern das entnehmen wir der sogenannten 'Vira-Datei'. Das eine erst vor gar nicht langer Zeit entschlüsselte Datenbank, die wir bereits hier haben in unserer Behörde. Und jetzt kommen so nach und nach diese Karteikarten wieder zurück, aber man darf davon wirklich keine großen Überraschungen erwarten, denn die Ermittlungsbehörden der Bundesrepublik hatten schon vor Jahren die Möglichkeit, diese Daten einzusehen und eine große Zahl von Daten herauszuschreiben, damit Ermittlungen in der Bundesrepublik noch aufgenommen werden können, bevor die Verjährungsfrist abgelaufen ist. Und da ist es ja auch zu zahlreichen Ermittlungen, Prozessen und Verurteilungen gekommen. Das schließt jetzt nicht aus, dass wir in dem einen oder anderen Fall noch eine Überraschung erleben oder hier oder da noch einen IM-Decknamen einen Klarnamen zuordnen können, das ist gut möglich. Aber die große Welle von Enthüllungen ist von den Rosenholz-Dateien nicht zu erwarten.
Thiel: Was mag denn noch kommen, wenn die ersten 100 Tage eigentlich Schonzeit sind - das haben Sie, Frau Birthler, ernüchtert im Januar festgestellt. Ihr Ausblick: Welchen Stellenwert hat Ihr Haus - Ihre Behörde - in 1.000 Tagen?
Birthler: Das sind ungefähr drei Jahre, und ich hoffe ja, dass wir dann diese Bugwelle von unbearbeiteten Anträgen, die wir immer noch vor uns herschieben, ein wenig kleiner gemacht haben. Wir bearbeiten ja jetzt zum Teil noch Akteneinsichtsanträge, die 97 und 98 gestellt wurden. Und ich kann verstehen, wenn Leute ungeduldig werden. Bei uns im Haus wird zwar fleißig gearbeitet, aber ich kann das nachvollziehen, wenn Leute sagen: 'Das muss schneller gehen'. Und wenn wir in drei Jahren sagen, wir sind jetzt fast dran, und die Leute müssen nur noch ein paar Monate warten, dann bin ich schon sehr zufrieden.