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"Bisher hat sich doch gezeigt, dass wir nicht erpressbar sind"

NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft sieht sich mit ihrer Minderheitsregierung keinesfalls in der Hand der Linkspartei. Schon bei der Vorgängerregierung habe es "bunte Abstimmungen" gegeben, sagte die SPD-Politikerin. Kraft, die nun 100 Tage im Amt ist, bekräftigt, die Null-Schulden-Grenzen erreichen zu wollen und die Einrichtung von Gemeinschaftsschulen.

Hannelore Kraft im Gespräch mit Christoph Heinemann | 21.10.2010
    Christoph Heinemann: Frau Kraft, Sie sind 100 Tage lang im Amt. Macht es Spaß?

    Hannelore Kraft: Ja! – Ganz klares Ja. Es ist ein schönes Amt mit vielen wunderbaren Terminen, aber auch einer Menge Verantwortung.

    Heinemann: Und wieso ist seit 100 Tagen noch kein Gesetz beschlossen worden?

    Kraft: Na ja, zunächst einmal hatten wir Sommerpause, das Parlament hat nicht gearbeitet, und Gesetze müssen ordentlich beraten werden und das dauert eine Weile. Aber wir sind da auf einem guten Weg.

    Heinemann: Einen Rekord haben Sie angekündigt: Die Neuverschuldung steigt um 2,3 Milliarden auf den schwindelerregenden Wert von 8,9 Milliarden Euro. Nun wird voraussichtlich auch Nordrhein-Westfalen von den höheren Steuereinnahmen profitieren, möglicherweise drei Milliarden. Gehört Ihr Nachtragshaushalt damit in die blaue Tonne für den Papiermüll?

    Kraft: Nein, denn das, was an Steuererhöhungen im Moment sich abzeichnet auf der Bundesebene, schlägt mit Zeitverzögerung erst beim Land zu. Wir haben schon 400 Millionen Steuermehreinnahmen in dem Nachtragshaushalt drin, und dennoch muss die Neuverschuldung steigen. Das ist aber keinerlei Politik von Rot-Grün, sondern das ist die Endabrechnung dessen, was Schwarz-Gelb uns hinterlassen hat, denn sie haben viele Dinge gar nicht etatisiert, gar nicht eingestellt in den Haushalt, weil sie die Neuverschuldungshöchstgrenze, die bis dato galt, nämlich von Rot-Grün 2005, nicht reißen wollten. Und diese Dinge stehen an, müssen bezahlt werden, und die kommen jetzt in den Nachtragshaushalt. Wir beginnen mit unserer Politik von Rot-Grün erst mit dem Haushalt 2011, und da werden wir die Neuverschuldung auch absenken.

    Heinemann: Dann wird richtig gespart?

    Kraft: Ja, natürlich werden wir sparen. Aber wir wollen vor allen Dingen eines tun, nämlich um das Ziel einer Null-Schulden-Grenze wirklich zu erreichen, was wir uns ja alle vorgenommen haben, muss man, glaube ich, den Weg gehen, dass man in Vorbeugung investiert, dass man die richtigen Dinge voranbringt, damit man nachhaltig Kosten sparen kann. Und das heißt Investitionen in den Bildungsbereich, das heißt Finanzierung der Kommunen, damit sie in ihrem Präventionsbereich, im vorbeugenden Bereich die Strukturen so aufbauen können, dass bestimmte Problemlagen bei Familien und Kindern gar nicht erst entstehen.

    Heinemann: Und wo wird gespart?

    Kraft: Gespart wird in verschiedenen Bereichen, das werden wir im Einzelnen dann im Haushalt 2011 auch darstellen. Aber das ist auch klar: Die Zitrone ist da schon ziemlich ausgepresst. Das haben ja auch die letzten Haushaltsentwürfe von Herrn Rüttgers und seiner Regierung gezeigt.

    Heinemann: Klingt ziemlich schwammig.

    Kraft: Nein! Wir sind ja noch gar nicht beim Haushalt 2011. Nun warten Sie doch mal ab, bis der konkret auf dem Tisch liegt. Dann wird es sehr konkret werden.

    Heinemann: Ja! Aber bisher belegen Sie das alte Vorurteil oder das Urteil, dass Sozialdemokraten nicht mit Geld umgehen können.

    Kraft: Wissen Sie, in einem Nachtragshaushalt, der im Dezember verabschiedet wird, noch Einsparungen vorzunehmen, ist schon rein technisch kaum noch möglich. Denn soll ich dann in den letzten drei Wochen des Jahres noch Personal abbauen? Das kann man doch gar nicht, das ist völlig unrealistisch. Und das, was den Haushalt 2011 angeht, werden wir erst in 2011 im Haushalt dann tun und da werden wir schon Einsparpotenziale aufdecken. Aber das sind keine Milliarden-Größenordnungen, sondern die Hauptkostenpunkte in unserem Landeshaushalt sind nach wie vor die Personalausgaben, und auch die Vorgängerregierung konnte nicht darstellen, wie man denn Tausende von Stellen in diesem Land einsparen kann, wenn man gleichzeitig wie ja alle Bürgerinnen und Bürger der Meinung ist, wir brauchen eher mehr Lehrerinnen und Lehrer, mehr Polizisten und auch mehr Justizangestellte und mehr Hochschulangestellte, als das vorher der Fall ist. Insofern war das immer eine Argumentation, die ins Leere geführt hat. Wir haben im Land 375.000 Menschen beschäftigt. Davon ist ein Großteil in diesen vier Bereichen tätig. Und die Vorgängerregierung hat auch nur in fünf Jahren 2500 Stellen einsparen können.

    Heinemann: Gleichwohl fällt auf, dass Sie klar benennen können, wofür Sie mehr Geld ausgeben wollen. Sie haben gesagt, in Vorbeugung investieren. Aber beim Sparen wird es dann sehr einsilbig.

    Kraft: Ich kann Ihnen noch mal erklären, dass wir das, was wir an Einsparvorschlägen machen werden, auch darlegen werden. Wir werden auch darlegen, wie wir durch Strukturveränderungen im Bereich Vorbeugung zu welchem Zeitpunkt welche Einsparung erwarten können. Und das ist das, worum es geht. Wir haben bisher den Weg nicht einschlagen können. Herr Rüttgers hat uns eine mittelfristige Finanzplanung hinterlassen, in der die Neuverschuldung keinesfalls absinkt, sondern konstant bleibt, und das kann nicht ein Weg sein, mit dem wir bis 2020 zu null Schulden kommen werden.

    Heinemann: Frau Kraft, die Linkspartei ist Ihre inoffizielle Mehrheitsbeschafferin, abgekürzt IM. Was kostet den Steuerzahler das Wohlverhalten der Linken?

    Kraft: Ich weiß nicht, was diese Frage soll. Es gab bisher im Landtag sehr bunte Abstimmungen, keinesfalls nur Mehrheiten, die mit den Linken zustande kamen, sondern es gab auch Entscheidungen mit der CDU, mit der FDP, es gab sogar eine Entscheidung, wo CDU, FDP und Linkspartei miteinander gestimmt haben. Aber sie hatten theoretisch eine Mehrheit, aber ihre Abgeordneten waren nicht alle an Bord, deshalb haben sie auch diese Abstimmung verloren.

    Heinemann: Aber Personalabbau wird mit den Linken nicht möglich sein. Ist eine Minderheitsregierung erpressbar?

    Kraft: Nein! Bisher hat sich doch gezeigt, dass wir nicht erpressbar sind, sondern wir sagen sehr klipp und klar, was wir wollen. Wir werben für unsere politischen Positionen und wir werben dafür bei allen beteiligten Fraktionen.

    Heinemann: Nein, wenn es denn zum Sparen kommt – davon rede ich jetzt -, wenn es zum Sparen kommt und auch Personal möglicherweise wird abgebaut werden müssen und Sie auf die Stimmen der Linkspartei angewiesen sein werden!

    Kraft: Ich habe Ihnen doch gerade schon erläutert, dass auch die Vorgängerregierung im Personalbereich nicht wirklich Einsparungen vorgenommen hat. Insgesamt in fünf Jahren sind nur 2500 Stellen eingespart worden. Die Verwirklichung von sogenannten KW-Vermerken, künftig wegfallend, die zum Teil schon von Vorgängerregierungen ausgebracht worden sind. Das heißt, wenn Sie sich das Personaltableau anschauen, sind von den 375.000 Stellen nur knapp sieben bis 8000 Stellen im Bereich der engeren Landesverwaltung und der Bezirksregierungen tätig. Und dort jetzt noch Tausende von Stellen einzusparen, halte ich auch nicht für realistisch.

    Heinemann: Frau Kraft, in einem Fünf-Jahres-Plan wollen Sie bis 2015 30 Prozent der Landesschulen in sogenannte Gemeinschaftsschulen umwandeln. Das Geld, so wird vermutet, dass dafür ausgegeben wird, fehlt dann den Gymnasien. Sollen die langsam ausbluten?

    Kraft: Ich weiß nicht, wie Sie zu dieser Einschätzung gelangen. Zunächst einmal geht es hier nicht um einen Fünf-Jahres-Plan, sondern wir haben ein Projekt aufgelegt, mit dem die Bildung von Gemeinschaftsschulen und die Beantragung von Gemeinschaftsschulen möglich gemacht wird. Das ist eine Politik der Ermöglichung und nicht des Zwangs. Und das, was dort an Finanzmitteln diesen Schulen zur Verfügung gestellt wird, entspricht exakt dem, was die Vorgängerregierung für Hauptschulen zur Verfügung gestellt hat. Insofern keinerlei Besserstellung gegenüber den Hauptschulen heute.

    Heinemann: Das heißt, können Sie garantieren, dass Gemeinschaftsschulen und Gymnasien auch künftig gleiche Klassenstärken haben werden?

    Kraft: Es geht darum, dass wir in besonderen sozialen Brennpunkten auch besonders vorgehen müssen. Das allerdings hatte auch die Vorgängerregierung schon mit den Hauptschulen erkannt.

    Heinemann: Sie orientieren sich recht häufig an der Vorgängerregierung?

    Kraft: Nein! Ich versuche, Ihnen nur darzustellen, dass wir hier keinen Sonderweg gehen, sondern dass wir hier keine Bevorteilung von Gemeinschaftsschulen vornehmen, die übergebührlich ist.

    Heinemann: Das heißt, die Gymnasien werden mit den gleichen Finanzmitteln in Zukunft bedacht werden wie bisher?

    Kraft: Ich hatte Ihnen das gerade schon erläutert.

    Heinemann: Ja. Sie kennen aber die Bedenken, die es gegen diese Erläuterung gibt.

    Kraft: Ich kann Ihnen doch nur sagen, dass die Gemeinschaftsschulen, die ja auch Schülerinnen und Schüler der Hauptschulen beinhalten, der heutigen Hauptschulen, dass die genauso finanziell gestellt werden, wie das bei den Hauptschulen heute der Fall ist.

    Heinemann: Frau Kraft, wollen Sie fünf Jahre lang ohne eigene Mehrheit regieren?

    Kraft: Wie lange das geht, werden wir sehen. Ich bin da sehr gelassen. Wir werden unsere Vorschläge einbringen. Wir haben die Chance, dafür zu werben. Wir werden auch auf Vorschläge der anderen Fraktionen eingehen, wenn sie gut sind. Und ich glaube, dass das auch eine Chance ist für unsere Demokratie, denn die Bürgerinnen und Bürger wollen gar nicht, dass wir immer wieder in sozusagen unsere Schützengräben zurückgehen und uns von dort befeuern, sondern sie wollen, dass wir gute Entscheidungen treffen zum Wohle der Bürgerinnen und Bürger des Landes. Das ist unsere Aufgabe und das müssen wir in einer werbenden Form tun als Minderheitsregierung, und das tun wir.

    Heinemann: Aus Rot-Grün entwickelt sich bundesweit gegenwärtig Grün-Rot. Sollte es jetzt in Nordrhein-Westfalen vorgezogene Neuwahlen geben, frage dann an die Köchin: Könnten Sie auch kellnern?

    Kraft: Ich glaube, die Umfragewerte von heute zeigen sehr deutlich, dass wir hier weit vor den Grünen liegen in Nordrhein-Westfalen.

    Heinemann: Noch, aber die Grünen holen in Riesenschritten auf.

    Kraft: Das schauen wir uns ganz beruhigt an. Ich freue mich erst mal darüber, dass die Entwicklung so ist.

    Heinemann: Frau Kraft, Ihre Trauerrede für die Opfer der Duisburger Love-Parade ist sehr gelobt worden: angemessener Ton, richtige Wortwahl. Verrissen wurde hingegen Ihre erste Regierungserklärung: zu lang und zu langweilig. Was sagt das über Ihren Politikstil aus?

    Kraft: Ich habe eine Minute länger geredet als mein Vorgänger und einige meiner Vorgänger der eigenen Partei waren noch etwas länger. Insofern: Das ist das Wesen einer Regierungserklärung, dass man sozusagen den gesamten Aufriss für die kommenden fünf Jahre macht. Das ist ressortabgestimmt, da haben sie auch nicht Möglichkeiten, da mit großen rhetorischen Experimenten voranzugehen, das gehört zu einer Regierungserklärung und dem dazugehörenden Verfahren dazu.

    Heinemann: Lang war die eine Kritik, langweilig die andere.

    Kraft: Na ja, das ist eine Auflistung aus allen Politikbereichen, denn viele Menschen wollen wissen, was passiert genau in dem Themenfeld, was mich persönlich betrifft. Das ist dann eine Aneinanderreihung von verschiedensten Themen. Das bedeutet, dass es nicht immer an jeder Stelle für alle spannend ist.

    Heinemann: Frau Kraft, der Kölner Kabarettist Jürgen Becker hat gesagt, das Zusammenleben von Rheinländern und Westfalen ist furchtbar, aber es geht. Stimmt das?

    Kraft: Also nach meiner Erfahrung in Nordrhein-Westfalen geht das hervorragend.

    Heinemann: Hannelore Kraft (SPD), die Ministerpräsidentin von Nordrhein-Westfalen. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Kraft: Ich danke! Auf Wiederhören!