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BKK-Gesundheitsatlas
Depressionen und Burn-out auf dem Vormarsch

Psychische Erkrankungen führen zu immer längeren Ausfallzeiten der Arbeitnehmer in Deutschland - eine Tendenz, die sich schon seit einigen Jahren beobachten lässt. Der Gesundheitsatlas der Betriebskrankenkassen hat das jetzt ein weiteres Mal bestätigt.

Von Anja Nehls | 09.07.2015
    Mann mit gesenktem Haupt sitzt auf einer grünen Parkbank in Berlin.
    Die Anzahl der Krankentage wegen seelischer Leiden hat sich gegenüber 2003 mehr als verdoppelt. (imago/imagebroker)
    Die Psyche ist der neue Rücken. Zwar sind Muskel- und Skeletterkrankungen immer noch die häufigste Krankheitsart, aber die Anzahl der Krankentage wegen seelischer Leiden hat sich gegenüber 2003 mehr als verdoppelt. Mit durchschnittlich 40 Tagen je Fall fällt ein psychisch erkrankter Arbeitnehmer außerdem mit Abstand am längsten aus. Frank Jacobi von der psychologischen Hochschule Berlin:
    "Das insbesondere im Dienstleistungsbereich, so Servicebranchen, wo auch viel Emotionsarbeit geleistet wird, wo man zum Beispiel ständig freundlich sein muss, obwohl man das gar nicht möchte. Und auch im Pflegebereich und Gesundheitsbereich haben wir auch verstärkte Raten, weil dort ein ganz besonderer Zeitdruck ist, bei ganz besonderen sozialen Ansprüchen auch und wo viele Leute deutlich überlastet sind."
    Akzeptanz psychischer Erkrankungen stark gestiegen
    Ganz alleine auf gestiegene berufliche Anforderungen will Franz Knieps von der BKK die hohen Zahlen aber nicht zurückführen. Auch die Akzeptanz von Depressionen, Burn-out-Syndrom oder allgemein psychischer Erkrankungen sei stark gestiegen: "Weil diese Erkrankung in der Vergangenheit mit einem Tabu belegt war, weil die Menschen sich nicht getraut haben, zu beschreiben, was sie wirklich haben. Es war anerkannt, wenn man ein Rückenproblem hat, es war aber nicht anerkannt, wenn Arbeitsbelastung, wenn familiäre Belastung zu psychischen Ursachen für diese Erkrankungen wurden."
    Die regionalen Unterschiede sind dabei auffallend. Depressionen werden viel häufiger in Bayern oder Baden-Württemberg diagnostiziert als zum Beispiel in den neuen Bundesländern. Das liege vor allem daran, dass es in Deutschlands Osten weniger entsprechende Ärzte gibt, meint Knieps und fordert eine ausgeglichene Versorgungslage.
    Einstellung zur Krankheit spielt eine Rolle
    "Wir versuchen schon, beispielsweise junge Psychiater oder junge Psychotherapeuten zu motivieren, in Gegenden zu gehen, wo nach unseren Erkenntnissen Unterversorgung ist. Das beste Beispiel ist das Land Sachsen-Anhalt, das immer wieder auftaucht bei regionalen Varianzen und das liegt natürlich daran, dass dort eine Unterversorgung mit Psychiatrie und Psychotherapie ist."
    Dass in Großstädten mehr psychische Erkrankungen diagnostiziert werden als auf dem Land, hat ähnliche Ursachen. Neben der Ärzteverteilung spiele hier aber auch die Einstellung zur Krankheit eine Rolle: "Der Landwirt wird eine höhere Hürde überwinden müssen auch vor sich selbst, bis er sich zugesteht, er ist psychisch krank. Sondern er wird andere Ursachen suchen bzw. er wird überhaupt nicht zum Arzt gehen und das als Schicksal hinnehmen."
    BKK kommt auf weit mehr psychische Erkrankungen als das RKI
    Auffällig ist, dass empirische Studien des Robert Koch Instituts von den Daten der BKK stark abweichen. Dass die Krankenkasse auf weit mehr psychische Erkrankungen kommt, kann auch damit zusammenhängen, dass soziale Probleme wie zum Beispiel Arbeitslosigkeit oder der Verlust der Wohnung erstmal durch eine Krankschreibung wegen psychischer Probleme aufgefangen werden sollen. Mit leichtfertigen Krankschreibungen ohne echte Diagnose sollten Ärzte aber vorsichtig sein, warnt Frank Jacobi. Damit sei das Gesundheitssystem überfordert:
    "Wenn die Leute sozusagen als krank abgestempelt werden oder sich selbst auch so einordnen und dann nicht aktiv mehr andere Dinge tun. Da müssen wir also aufpassen, dass dort nicht auch normale Probleme zu Gesundheitsproblemen stilisiert werden." Vom neuen beschlossenen Versorgungsstärkungsgesetz erhofft sich die BKK eine realistischere Bedarfsplanung für die Ärzteverteilung. Außerdem sollen Psychotherapeuten eine frühe Sprechstunde anbieten, damit Betroffene ohne lange Wartezeiten schnell erstversorgt werden können.