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Blauer Brief für Berlin

    Kapern: Im September 1996, beim Gipfeltreffen der EU in Dublin, einigten sich die Mitgliedstaaten auf den sogenannten Stabilitäts- und Wachstumspakt. Auf Drängen nicht zuletzt der Deutschen sollten so die zukünftigen Euroländer zur Haushaltsdisziplin gezwungen werden. Wer der Defizitmarke von 3 Prozent nahe kommt, wird mit einem Blauen Brief abgemahnt. Wer sie überschreitet, muss Strafe zahlen. Heute wird EU-Währungskommissar Pedro Solbes voraussichtlich zum ersten Mal der Kommission vorschlagen, dass zwei Mitgliedstaaten einen Blauen Brief bekommen sollen: Portugal und Deutschland. Bei uns am Telefon einer der Väter der Blauen Briefe, Theo Waigel, Ex-Finanzminister von der CSU. Herr Waigel, sind Sie mit dem Verfahren zufrieden, das Sie damals verabredet haben?

    Waigel: Das Verfahren war notwendig, damals auch von vielen gefordert, nicht zuletzt in Deutschland, Bundesbank, Sachverständige, die gesagt haben, was ist eigentlich, wenn ein Staat 1997 - das war das Evaluierungsjahr - alle Voraussetzungen erfüllt, aber danach eine Finanzpolitik macht, die dann die Kriterien nicht einhält. Dafür muss Vorsorge getragen werden, und das haben wir mit dem Stabilitätspakt erreicht.

    Kapern: Wäre denn nun ein Blauer Brief Richtung Berlin gerechtfertigt?

    Waigel: Ja. Wenn man sich die entsprechenden Verordnungen ansieht, die aufgrund des Stabilitätspaktes erlassen worden sind, dann spricht natürlich vieles dafür, vor allen Dingen, weil Deutschland völlig andere Grundlagen angenommen hat, sie für dieses Jahr nicht rechtzeitig korrigiert hat, keine entsprechenden Maßnahmen ergriffen hat, und nun sehr nahe dort hinkommt, wo auf gar keinen Fall eine Überschreitung stattfinden darf, nämlich 3 Prozent. Man muss immerhin überlegen, dass wir 1997 2,7 Prozent erreicht haben, 1998 bei etwa 2 Prozent waren, jetzt wieder auf 2,6 bis 2,7 Prozent zurückfallen. Das ist natürlich ein ganz erhebliches Manko, und hier ist bei allen Gebietskörperschaften und bei den sozialen Sicherungssystemen nicht genügend konsolidiert worden zu einem Zeitpunkt, als es gegangen wäre, als die Steuereinnahmen sehr günstig waren, also 1999 und 2000.

    Kapern: Für den riesigen Schuldenberg der Deutschen steht ja nicht zuletzt die schwarzgelbe Koalition, die 16 Jahre lang regiert hat. Muss Hans Eichel jetzt eigentlich auslöffeln, was ihm Theo Waigel eingebrockt hat?

    Waigel: Ich finde es eine ziemlich unfaire Behauptung, was Sie jetzt hier annehmen, denn Sie müssten ja schließlich wissen, warum das erfolgt ist. Von 1990 bis 1998 haben wir 1.500 Milliarden DM, d.h. jedes Jahr über 6 Prozent des Bruttoinlandproduktes für die Deutsche Einheit ausgegeben. Insofern ist dies selbstverständlich auch heute noch eine Herausforderung, die mit einem großen nationalen Ereignis zu tun hat. Aber damit allein lässt es sich nicht erklären. Ich sage nochmals, wir waren 1998 bei 2 Prozent angelangt, wir sind heute auf 2,7 Prozent wieder zurück gefallen. Das hat also nichts mit dem Erbe zu tun, das man 1998 angetreten hat.

    Kapern: Immerhin weist ja Hans Eichel darauf hin, dass ihm die EU-Kommission kürzlich noch eine gute Haushaltspolitik bescheinigt hat. Damals hieß es, das Ansteigen des Defizits sei durch die Konjunkturschwäche und nicht durch verschwenderische Ausgaben verursacht. Muss man da den Beamten in Brüssel nicht attestieren, dass sie eine Politik machen, nach dem Motto: Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln?

    Waigel: Nein, man kann für Deutschland keine anderen Maßstäbe anwenden als für andere Länder. Das Versäumnis war, dass in Deutschland der nationale Stabilitätspakt zunächst beschlossen und dann umgesetzt wurde, d.h. Hans Eichel hat zu wenig Acht darauf gegeben, wie sieht es bei den Kommunen aus, wie sieht es bei den Ländern aus, wie sieht es in den Sozialsystemen aus. Die UMTS-Erlöse sind nur dem Bund zugute gekommen, mussten aber zum Teil von den Ländern und bei den Kommunen durch Abschreibungen finanziert werden. Das hat dazu beigetragen, dass vor allen Dingen die Ausgaben bei den Ländern und bei den Kommunen explodiert sind.

    Kapern: Selbst wenn die Kommission nun heute beschließen sollte, dass ein Blauer Brief Richtung Berlin abgeschickt werden müsste, steht vor der endgültigen Absendung noch das Treffen der EU-Finanzminister, wo es eine Mehrheit für einen solchen Brief geben müsste. Glauben Sie, dass dort ein Abmahnungsverfahren noch abgeblockt werden könnte?

    Waigel: Das kann theoretisch der Fall sein. Ich weiß nicht, wie die Willensbildung in den einzelnen Mitgliedsländern ist. Nur, damit ist natürlich grundsätzlich sozusagen schon ins Werk gesetzt, was schon für Deutschland problematisch ist. Ob nun der Rat dem zustimmt oder nicht, die Kommission - und das haben wir ja damals verlangt - muss selbständig, frühzeitig die Sache an sich nehmen, an sich reißen, sie muss entsprechend handeln. Allein die Diskussion führt ja schon dazu, dass man sich in Deutschland überlegen muss, was tun wir. Das kann man nicht nur mit der ruhigen Hand tun. Wenn man bei 2,7 Prozent landet, dann muss man so schnell wie möglich wieder runterkommen. Die mittelfristigen Ziele sind ja Ausgleich, wenn nicht Überschüsse. Einige Länder in der EU haben ja auch bereits Überschüsse. Andere Länder, z.B. Italien, standen vor drei, vier Jahren schlechter als Deutschland, stehen heute wesentlich besser da, d.h. wir müssen uns überlegen, was haben diese Länder getan, und was haben wir nicht getan.

    Kapern: Was tun wir? Die Frage muss sich auch vielleicht der Kanzlerkandidat der Union, Edmund Stoiber, stellen. Die SPD summiert dessen Wahlversprechen auf immerhin 75 Milliarden Mark.

    Waigel: Hier geht es nicht darum, dies für 1997 zu deklarieren. Die Frage ist, was an mittelfristiger Linie in den nächsten Jahren entsteht, und dabei müssen Maßnahmen, auch in der Steuerreform, nicht über eine Erhöhung der Nettokreditaufnahme finanziert werden, das ist ziemlich klar.

    Kapern: Vielen Dank für das Gespräch.

    Link: Interview als RealAudio