Montag, 29. April 2024

Archiv


Blick in die Feuilletons

Was ist los mit dem deutschen Film? War der Ausgang der Berlinale ein Gradmesser für seinen quicklebendigenden, ungewohnten Zustand? Susan Vahabzadeh meint in der Süddeutschen Zeitung: "Langsam möchte man wirklich glauben, dass etwas dran ist an der These vom reanimierten deutschen Film. Ein Oscar für "Nirgendwo in Afrika" und ein Europäischer Filmpreis für "Good bye, Lenin!", und nun ein Goldener Bär für Fatih Akins "Gegen die Wand" – das spricht dafür, dass die Dichte ernstzunehmender deutscher Filme deutlich gestiegen ist. Akin hat den trüben diesjährigen Wettbewerbsalltag jedenfalls tüchtig aufgemischt mit seinem amour fou zwischen Hamburger Kiez und Instanbul.

22.02.2004
    Susan Vahabzadeh lässt sich jedoch von den hervorragenden Hauptdarstellern nicht zu sehr beeindrucken. "Eine Frage muss aber noch sein, bevor sie in der Begeisterung untergeht: Ob die Behauptung, die da herumgeistert, "Gegen die Wand" sei so "dicht am Leben", wirklich berechtigt ist. An wessen Leben eigentlich?", fragt die Rezensentin und meint damit die zweite Generation türkischer Immigranten in Deutschland.

    Michael Althen berichtet in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dass Jury-Präsidentin Frances McDormand die Trophäe an Akin mit den Worten überreicht habe: "Your film is really Rock ’n Roll!" Michael Althen: "...Wann hätte zuletzt ein deutscher Film ein solches Lob erfahren? Rock ’n Roll ist alles, was deutsches Kino in der Regel nicht ist: kraftvoll, energisch, drangvoll, laut, mit Rhythmus im Blut. Den Satz kann sich Akin definitiv übers Bett nageln".

    Alexandra Stäheli ergänzt derartige Feststellungen in der Neuen Zürcher Zeitung. Die wilde Scheinehe zweier türkischstämmiger Desperados in Akins Film kommt ihr wie ein Amoklauf vor "und erinnerte in seinem wütenden und blutigen Um-sich-Schlagen an die Zeiten, als Fassbinder in Hochform war".

    Daniel Kothenschulte verschweigt in der Frankfurter Rundschau die Euphorie über den Hauptpreis für Akin keineswegs, weist jedoch auf eine entscheidende Schwachstelle des Festivals hin: "Die Berlinale besitzt gegenwärtig nicht einmal die Spur einer künstlerischen Vision. Der Wettbewerb...war der schlechteste seit Menschengedenken. Mit der Situation des Weltkinos lässt sich dies kaum erklären, immerhin war die Auswahl früher als sonst abgeschlossen und mit Stolz präsentiert worden".

    Auf einen interessanten Aspekt weist Hans-Georg Rodek in der Welt hin. Er schreibt: "Betrachtet man Frankreich und Deutschland, die beiden großen Gastarbeiter-Gastgeberländer, so fällt auf, dass aus den Reihen der eingewanderten Italiener, Jugoslawen, Spanier oder Portugiesen keine bekannten Regisseure hervorgegangen sind – sehr wohl aber aus den zweiten und dritten Generationen der Türken, Nordafrikaner oder Inder und Pakistanis".

    Heinz Bude befasst sich in der Süddeutschen Zeitung mit den Berater-Verträgen und damit mit Nachrichten, die kein Ende nehmen wollen. "Es sieht nach einem Dominoeffekt aus", schreibt er, "und immer waren bedeutende Beraterfirmen im Spiel. Nicht lange her, da musste sich der Modernisierer von der Spitze der neuen Agentur für Arbeit verabschieden. Jetzt wurde der Vertrag über die LKW-Maut gekündigt, der Stuhl des Verkehrsministers wackelt. Auch hier hatten beide Seiten, Toll Collect und das Ministerium, auf den Rat von hochkarätigen Beratern gesetzt.

    Alle wissen, dass sich im Lande etwas ändern muss, aber man weiß nicht, wem man die Sache in die Hände geben soll. Da haben lange Zeit zu viele Leute mitgespielt, denen man nicht mehr trauen kann. Das sind zuallererst Roland Berger, McKinsey und ihre Beraterbranche. McKinsey hat es mit Rolf Hochhuths letzte Woche uraufgeführten Stück sogar zum Titel seines Dramas über die Misere des heutigen Kapitalismus geschafft".

    Bude hat für die explosionsartige Entwicklung des Beratungswesens folgende Erklärung: "Man wollte die Welt der zweiten industriellen Revolution hinter sich lassen, um in eine Epoche neuer Selbststeigerung auf der Basis neuer Produktivkräfte und veränderter gesellschaftlicher Verhältnisse einzusteigen. Dafür stand in Deutschland Roland Berger wie kein anderer. Im medialen Kontaktfeld mit Gerhard Schröder entwickelte er sich zum Leitbildverstärker eines neuen Deutschlands, das sich der Globalisierung nicht entgegenstellt, sondern mit ihr, in ihr und durch sie seine unentdeckten Potentiale entfaltet. Das Beratungsgeschäft diente der Weltveränderung".

    Der Soziologe kommt zu dem Schluss, dass am Ende bei jeder Revolution der Wirtschaft die Kasse stimmen muss. "Roland Berger wird jetzt weise werden müssen. Die Frage ist nur, wer ihm wie viel dafür bezahlt".

    Eckhard Fuhr befasst sich in der Welt mit dem neuen kulturellen Berliner Großereignis, dem Gastspiel des New Yorker Museums of Modern Art in der Neuen Nationalgalerie. "Wartet Berlin nun also auf die Rosinenbomber der Kunst", fragt Fuhr, "um in schwelgerischer Erinnerung an den Frühling der deutsch-amerikanischen Beziehungen nach dem Krieg die gegenwärtigen Zeichen der Entfremdung und Ermüdung zu vergessen?"

    Der Feuilletonchef der Welt findet jedenfalls, dass nun "in Berlin sieben Monate die New Yorker Lesart jener Moderne studiert werden kann, die nicht zuletzt in Berlin einmal eines ihrer produktivsten Laboratorien hatte".

    Holger Liebs hat im Auftrag der Süddeutschen Zeitung die Ausstellung besichtigt, und ihren Ausklang gesehen: Richters RAF-Bilder mit Gudrun Ensslin und Andreas Baader. Er resümiert: "So endet das Gastspiel unvermittelt im Unbewältigten deutscher Gegenwart – und lässt vorausahnen, dass das "MoMA in Berlin" wohl für eine Weile die dortige Ausstellungsmisere zu überstrahlen vermag. Der transatlantische Dialog jedoch bleibt ferngesteuert – das MoMa selbst bleibt der Star, seine Werke müssen sich mit nichts und niemandem messen".

    Zum sechzigsten Geburtstag von Christoph Stölzl merkt schließlich Michael Jeismann in der Frankfurter Allgemeinen an, dass Stölzl "eine seltene Mischung aus Leichtigkeit, Heiterkeit und Provokation darstelle. Es charakterisiert unsere politische Kultur nicht weniger als den Mann selbst, dass man ihn gar nicht recht für einen Politiker halten mag und die Politiker mehr Distanz als Nähe verspüren – obwohl er im Bundesvorstand der CDU sitzt. Etwas zu verkörpern, was von anderen für unvereinbar gehalten wird, ist ohne Zweifel eine Fähigkeit, die dem Kulturdiplomaten Stölzl gegeben ist". Man wünscht dem Geburtstagskind im Interesse Berlins und des Landes – neue Aufgaben.