Freitag, 19. April 2024

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Bloggerin und Autorin Kathrin Weßling
"Das Internet ist ein Zuhause für mich"

Mit einem Post nach den Bombenanschlägen von Brüssel 2016 wurde die Bloggerin Kathrin Weßling über Nacht berühmt. Jetzt erscheint gerade ihr Roman "Super und dir?" - ein Plädoyer gegen Arbeitsstress, der zugrunde richten kann. Im Dlf-Interview spricht sie über Depressionen - und das Internet als Heimatort.

Kathrin Weßling im Gespräch mit Tanya Lieske | 22.03.2018
    Kathrin Weßling
    "Meine Texte haben alle so einen Rhythmus, weil in meinem Kopf ist das, wenn ich schreibe, wie so ein Metronom", beschrieb Autorin Kathrin Weßling ihren Stil im Dlf (Melanie Hauke)
    Tanya Lieske: Kathrin Weßling ist eine Journalistin, Bloggerin und Autorin, die es im und durch das Internet zu einiger Berühmtheit gebracht hat. Heute vor zwei Jahren, am 22. März 2016 nach dem Attentat auf den Brüsseler Flughafen brachte sie den Hashtag #aufdieliebe in Umlauf - ein Aufruf, am Abend des Blutbades nicht den Terroristen das Feld zu überlassen. Über Nacht war Weßlings Name in aller Munde.
    Auch zuvor schon hatte Kathrin Weßling im Netz viele Follower. Die letzte Facebook Seite, die sie gelöscht hat, hatte mehr als 6.000 Abonnenten. Ihre Fangemeinde verdankt sie nicht zuletzt einem Blog mit dem Namen Drüberleben.
    Ich haben Kathrin Weßling am Rande der Leipziger Buchmesse getroffen und sie zuerst gefragt, ob sie sich noch daran erinnert, wann sie sich im Internet zum allerersten Mal zu Wort gemeldet hat?
    Kathrin Weßling: Keine Ahnung! Ich war echt jung. Also ich glaube, ich hatte - mit 15 oder so hatte ich schon Internet und war in so Chatrooms. Danach kamen noch mehr Chatrooms und dann kam Myspace und jetzt.de und sowas. Dass mein direkter Kontakt mit anderen im Internet losging, das war tatsächlich ganz stark über die Chatrooms und über Seiten wie LiveJournal, was eins der ersten Blogsysteme war in Deutschland, und jetzt.de und sowas. Ich mach das wirklich - das ist schon echt in meine DNA eingeschrieben. Ich mache das sehr lange.
    "Es war schwer, aber auch sehr erleichternd"
    Lieske: Eine erste Bekanntheit haben Sie als Bloggerin erreicht mit Texten, die den Titel "Drüberleben" trugen. Was hatte es damit auf sich?
    Weßling: Ich war vorher auch schon viel auf Lesereisen und habe viel Poetry-Slam damals gemacht und habe dann irgendwann gemerkt, dass ich durch meine Erkrankung, also durch die Depression, die ich habe seit meiner Kindheit, immer wieder so lange Ausfallphasen habe und dass ich die nicht verargumentieren kann, dass ich Veranstaltern gegenüber ständig lügen muss, warum ich nicht auftreten kann, meinen Eltern gegenüber, warum ich schon wieder keine Kohle habe, weil ich ja nicht auftreten konnte und so weiter. Und irgendwann habe ich gedacht, so, das ist mir jetzt egal, ich bin - ich nehme mich als schreibenden Menschen wahr, also schreibe ich jetzt auch darüber, und dann habe ich diesen Blog gegründet und habe angefangen, genau darüber zu schreiben, und das war echt schwer, aber auch sehr erleichternd.
    Lieske: Das Stichwort Depression ist gefallen, Kathrin Weßling...
    Weßling: Na endlich!
    Depression ist "ein soziales Tabu"
    Lieske: Ich habe mal überlegt, mir kommt es ein bisschen vor wie das letzte große Tabu unserer Zeit. Über alles kann man sprechen, über sein Gender, über seinen Wohlstand, über Krebs wird geschrieben. Depression, da scheint immer noch so ein Schleier drum zu hängen. Das erzählt man nicht so gerne. Wissen Sie warum?
    Weßling: Es ist komisch, weil es so bigott ist. Einerseits reden ganz viele Leute darüber, auch öffentlich, und andererseits haben die Leute immer noch - flüstern sie es immer noch anderen Leuten zu, wenn es sie selber betrifft und die in ihrem eigenen Freundeskreis betroffen sind. Ich glaube nicht, dass das noch insgesamt ein gesellschaftliches Tabu ist, aber es ist ein soziales Tabu, weil da Sachen dranhängen, die immer noch tabuisiert sind, nämlich Schwäche, Ausfall, dass man Sachen einfach nicht hinkriegt.
    Und das ist ja genau das Problem, dass unsere Gesellschaft total darauf aufbaut, dass alle Leute immer komplett an ihre Grenzen und da drübergehen und unglaublich viel arbeiten und arbeiten, bis sie umfallen. Und eine Depression ist ja eine totale Verneinung dessen, also wer sagt, nein, ich kann das nicht mehr, also ich habe mir offensichtlich ein Bein gebrochen, aber ich kann trotzdem nicht mehr arbeiten, und das ist, glaube ich, das Tabu.
    "Der Blog war über mich, der Roman ist Fiktion"
    Lieske: Sie haben für diesen Blog "Drüberleben" auch viel Dankbarkeit bekommen, weil Sie vielen Menschen aus dem Herzen gesprochen haben. Es gab danach auch einen Roman, der sich dem Thema widmet. Wie unterscheidet sich das denn, der Roman, den Sie dazu geschrieben haben, und der Blog?
    Weßling: Oh völlig, der Blog war wirklich über mich, und da habe ich wirklich tiefe Einblicke in mein Leben gezeigt, soweit ich das eben wollte. Der war sehr persönlich, und das war auch echt genau das, was mir gerade passiert und auch durch den Kopf geht. Und das Buch ist halt eine Fiktion. Also die Protagonistin heißt nicht Kathrin Weßling, sondern Ida Schaumann, die hat ein anderes Elternhaus, sie erlebt andere Sachen, hat andere Freunde, und das war mir echt wichtig, dass dieser Roman Fiktion ist, damit er gut werden kann. Also ich wollte nicht einfach mein Tagebuch aufschreiben. Deswegen also, der Blog und das Buch haben zwar den gleichen Namen, sie haben aber absolut inhaltlich gar nichts - also da gibt es einfach keine Überschneidung.
    Lieske: Das heißt, es gibt schon einen Unterschied zwischen der Bloggerin und der Autorin.
    Weßling: Ja.
    "Dann trinken wir halt jetzt einfach mal alle auf die Liebe"
    Lieske: Es gab einen zweiten großen Sprung, was Ihre Bekanntheit betraf: 2016 nach den Terroranschlägen in Brüssel haben Sie einen Hashtag gesetzt: "auf die Liebe", dazu ein Foto mit sich selbst und einem Wodkaglas. Was war gemeint und was ist danach passiert?
    Weßling: Ich habe da noch in der Redaktion von "Spiegel Online" gearbeitet, ich war da Social-Media-Redakteurin und das war sehr, sehr anstrengend dieser Tag und dieser Abend, weil nach so einem Anschlag in so einer Redaktion natürlich natürlich sehr viel los ist. Es ist ein sehr hohes Stresslevel, und als Social-Media-Community-Redakteurin liest man einfach viele, viele Stunden durchgehend Kommentare und - es ist einfach auch emotional schwer auszuhalten teilweise.
    Und ich bin dann nach Hause und habe mich richtig beschissen gefühlt und habe mir dann ein Glas Wodka eingefüllt und habe einfach ein Selfie von mir gemacht und habe dann druntergeschrieben, was ich gefühlt habe in dem Moment. Nämlich dass ich auf die Liebe trinke und auf die Freiheit und auf ganz viele andere gute Sachen, weil ich einfach so angekotzt war von Terror, von Anschlägen, von Toten, von Menschen, die das für sich ausnutzen, von den ganzen widerlichen Arschlöchern der Rechten, die dann irgendwie das für sich nutzen, um wieder zu hetzen und so. Und ich wollte einfach, dass die nicht gewinnen, die Rechten nicht, die Terroristen nicht, und deswegen habe ich gedacht, gut, dann trinken wir halt jetzt einfach mal alle auf die Liebe, weil man ja dann - also ich stoß eh immer auf die Liebe an, und ja, dann ist das Hashtag ziemlich schnell ziemlich groß geworden.
    "Ich fand eigentlich alle wichtig und mich nicht"
    Lieske: Ja, alle großen Medien haben es aufgegriffen, über Nacht war der Name Kathrin Weßling dann wirklich in der Welt. Wie hat sich das angefühlt?
    Weßling: Das war sehr anstrengend, weil, wie gesagt, ich hatte ja schon so einen Tag hinter mir, habe dann kaum geschlafen in der Nacht, hatte am nächsten Tag sehr viele Konferenzen. Und also mein Leben ist ja normal weitergegangen, während ich irgendwie gucken musste, dass ich dazwischen irgendwelche Sachen beantworte. Und mir war unglaublich wichtig, dass ich nichts tue oder sage, was das kaputt macht, weil mir die Aktion so wichtig war, weil ich die als Zeichen so wertvoll fand und die auch für ganz viele Leute wertvoll war, die gesagt haben, boah, normalerweise hätte ich jetzt heute Abend alleine zu Hause gesessen und hätte mich scheiße gefühlt, und so hatte ich irgendwie das Gefühl: okay, ich kann jetzt irgendwie zwei Stunden mit dem Internet trinken und alle sind irgendwie da und machen mit und man ist nicht alleine einfach.
    Ehrlich gesagt, ich fand meine Rolle darin überhaupt nicht wichtig. Also ich habe zwar dieses Selfie gepostet, aber wenn nicht alle anderen mitgemacht hätten, wäre das ja überhaupt keine Aktion geworden. Also ich fand eigentlich alle wichtig und mich nicht.
    "Das Internet ist ein Zuhause für mich"
    Lieske: Sie geben recht viele Interviews, Kathrin Weßling, ich hoffe, Sie erinnern sich an den folgenden Satz, den ich in einem Interview mit Ihnen gelesen habe: Sie haben mal gesagt, das Internet wäre für Sie wie ein Wohnzimmer.
    Weßling: Ja.
    Lieske: Was war denn da gemeint? Denn ich habe mal überlegt, so ein Wohnzimmer, klassischerweise, ist ja was, was aus dem Bürgertum kommt, ist ein geschützter Raum, ist der Rückzug ins Private und nur geladene Gäste dürfen eintreten. Im Internet ist es justament das Gegenteil: Das ist ein öffentlicher Raum, und ein Teil der Schwierigkeit mit dem Internet ist ja auch, dass jeder rein kann, Stichwort Trolle. Was meinten Sie mit "das Internet ist für mich wie ein Wohnzimmer"?
    Weßling: Ich meinte, glaube ich, vor allem damit, dass das Internet für mich zu Hause ist. Es gibt für mich in meinem Leben kaum Unterscheidung zwischen online und offline. Es ist nicht so, dass ich jetzt irgendwie mein Handy anmache und denke, so, jetzt surfe ich aber mal eine halbe Stunde. Sondern das ist eben einfach Teil meines Lebens, meines Denkens, es ist in meinem Gehirn und deswegen habe ich das mit dem Wohnzimmer verglichen, weil das einfach ein Zuhause ist für mich. Und ja, leider klopfen da auch ganz oft irgendwelche Leute an die Tür, die ich nicht reinlassen möchte. Leider kommen die manchmal rein, aber wie im echten Leben auch schmeiße ich die dann halt wieder raus.
    Lieske: Ist das ein angenehmer Zustand?
    Weßling: Also ich erfahre echt wenig Gegenwind. Ich habe schon so Hater, Trolle und sowas, aber das gehört halt einfach dazu, das ist nicht auszuschließen, wenn man einen bestimmten Grad der Reichweite entwickelt, und ich glaube, was ich erlernen musste, war dann zu selektieren, mit wem von denen ich mich überhaupt auseinandersetzen will, und da bin ich echt schlecht drin, immer noch. Ich muss mich zum Beispiel sehr zusammenreißen, bei einigen Leuten nichts zu sagen, aber habe mittlerweile gelernt, dass es die bessere Alternative ist.
    Lieske: Der Klügere gibt nach, wäre der Spruch dazu, der aus der Wohnzimmerepoche kommt.
    Weßling: Ja, der Klügere schweigt!
    "Für mich ist es eher Musik"
    Lieske: Wenn man Ihren Blog heute aufmacht, findet man kleine aphoristische Texte, es klingt auch ein bisschen lyrisch, ich lese mal einen vor: "Es klingelt, das Gehirn ist dran, das weiß das Herz schon, deshalb hat es das Gehirn nicht in die Favoritenliste gesetzt, soll doch die Mailbox rangehen und sich die ganze Scheiße anhören." Kathrin Weßling, was für ein Genre ist das?
    Weßling: Keine Ahnung, ist mir auch voll egal!
    Lieske: Komm, amüsieren Sie die Literaturkritikerin, ich habe mir Gelegenheitslyrik notiert.
    Weßling: Gelegenheitslyrik, das gefällt mir! Alltags-, Gelegenheits… ja, meine Texte haben alle so einen Rhythmus, weil in meinem Kopf ist das - wenn ich schreibe, ist das wie so ein - wie heißt das beim Klavier - Metronom oder so.
    Lieske: Ja, Metronom.
    Weßling: Ja, genau. Sowas ist dann, das klackt die ganze Zeit bei mir im Kopf. Deswegen haben die so einen Rhythmus. Die wirken aber oft auch gereimter, als sie dann sind. Das merke ich dann, wenn ich ganze Sachen einfach streiche und dann plötzlich dieser Rhythmus nicht mehr stimmt, dann merke ich, das reimt sich alles gar nicht, sondern das ist einfach nur so na na na na na na na na na. Also das ist so - dann verliert es den Beat quasi. Deswegen ist es für mich eher Musik.
    An stressiger Arbeit können Menschen zugrunde gehen
    Lieske: Kommen wir noch mal auf die Romanautorin Kathrin Weßling zu sprechen: Sie haben Bücher veröffentlicht, Romane veröffentlicht, Sie sagten es, in denen es um Depressionen geht, ein anderer Titel, darin geht es um einen großen Liebeskummer, und nun ganz neu erschienen der Roman "Super und dir?" Erzählen Sie unseren Hörern ganz kurz, worum geht es?
    Weßling: Es geht um Marlene Beckmann, die ist Anfang 30, die ist super erfolgreich, hat einen tollen Freund, eine tolle Wohnung und hat so einen Job, von dem sie immer dachte, dass sie den unbedingt haben möchte. Und sie ist trotzdem totunglücklich und sie leidet extrem unter ihrem Job, der wahnsinnig stressig ist. Sie leider aber, glaube ich, vor allem auch unter so einer Desillusionierung, weil sie merkt, dass der ganze Scheiß sie eben halt nicht glücklich macht. Und es geht ganz viel darum, dass so Selbstoptimierung und Arbeit, extrem harte Arbeit nicht unbedingt dazu führt, dass Menschen glücklich sind, sondern dass das auch oft dazu führen kann, dass Menschen komplett zugrunde gehen und das nicht mehr aufhalten können, weil sie immer denken, ja, ich muss doch erfolgreich sein und das darf doch keiner merken, dass es mir schlecht geht.
    Lieske: Marlene greift dann zu Drogen. Es fängt ganz leicht an, und man kann eigentlich ganz gut verfolgen, wie sie abhängig wird, wie sie immer mehr und mehr verfällt, die Drogen - weiß nicht, ob die Liste vollständig ist -, Speed, Kokain, Amphetamine, Ritalin. Marlene arbeitet wie Sie als Social-Media-Expertin, sie hat die Aufgabe, die Community eines mittelständischen Unternehmens, das Sachen vertreibt, die irgendwie ein bisschen banal klingen, zu betreuen. Sie sagen, dass sie einen so großen Druck empfindet, dass sie das nicht mehr aushält. Mir war das beim Lesen irgendwie nicht ganz so einleuchtend, warum diese Arbeit so wahnsinnig anstrengend sein soll. Reicht das vielleicht für Ihre gleichaltrigen Leser, nur so ein Signal zu setzen, ist so ein Job immer stressig?
    Weßling: Nein, ich glaube nicht, dass der immer stressig ist, aber ich glaube, es kommt eben darauf an, welche Ansprüche man an sich selber hat, und es kommt, glaube ich, auch einfach darauf an, welche Berufserfahrung man selber gemacht hat. Wenn ich jetzt irgendwie in einer Behörde arbeite oder in so einem uralteingesessenen Unternehmen, wo es irgendwie Arbeitsschutz gibt und einen Betriebsrat und so weiter und wo jede Viertelstunde Überstunden bezahlt wird, dann kann ich natürlich davon ausgehen, dass mein Leben da wahrscheinlich ein bisschen entspannter ist als in der Werbeagentur, wo es den ganzen Tag nur abgeht.
    Die Sache ist aber, dass es halt auch oft einfach mehr Schein ist als Sein. Also ich habe auch schon in Traditionsunternehmen gearbeitet und meine Jobs waren unfassbar anstrengend und stressig, einfach weil die Strukturen kacke waren, weil Druck gemacht wurde, weil ich mich gegen jemand anderen durchsetzen musste. Und im Buch ist es ja auch so: Allein die Situation, dass Marlene und ihre Kollegin Maja beide Volontärinnen sind und von vornherein wissen, es wird nur eine übernommen. Das ist ja eine total kranke Situation eigentlich, die aber total häufig und normal ist. Ich kenne niemanden - doch, eine Person kenne ich mit einem unbefristeten Vertrag und alle anderen sind - ja, ein Jahr, ein halbes Jahr, ja, jetzt ist noch mal drei Monate verlängert worden - und das ist doch schrecklich. Also wie soll man denn irgendwie zur Ruhe kommen, wenn man weiß, ich muss immer 120 Prozent geben, weil sonst fliege ich übermorgen.
    Anruf vom Gehirn beim Herzen
    Lieske: Kathrin Weßling, Sie lesen uns ein kleines Stück aus Ihrem neuen Roman. Man muss dazu sagen, wir sind schon ziemlich weit hinten im Text, Marlene geht es schon richtig schlecht, Sie lesen aus dem 31. Kapitel, also sie ist schon recht weit vorangeschritten in ihrer Drogenabhängigkeit.
    Weßling: David atmet leise. Ich liege neben ihm und kann nicht schlafen. Ich habe es versucht, aber es geht einfach nicht. Das Herz rast und der Kreislauf schwankt, die Gedanken sind zu laut und die Angst ist zu groß, die Angst vor dem Danach, vor diesem Leben, das ich gerade endgültig gegen die Wand gefahren habe. Ich versuche, ganz ruhig liegen zu bleiben, um die Übelkeit und die Angst und die Kopfschmerzen in Schach zu halten. Ich muss wie bei einer Wasserwaage darauf achten, dass der Kopf ganz gerade liegt, damit die Luftblase in der Mitte bleibt, keinen Zentimeter darf ich mich rühren, sonst muss ich mich übergeben oder mein Kopf platzt einfach und saut Davids Bett voll und er muss dann mein Gehirn wegwischen. Vielleicht wird es Zeit für einen Anruf vom Gehirn beim Herzen.
    Ich lasse es klingeln, während ich auf dem Badezimmerboden liege und auf die nächste Welle Übelkeit warte. Guten Tag, hier ist dein Gehirn, könnte ich mal kurz das Herz sprechen. Das Gehirn ist dran, das weiß das Herz schon, deshalb hat es das Gehirn nicht in die Favoritenliste gesetzt, soll doch die Mailbox rangehen und sich das Geheule anhören, aber das Gehirn ist hartnäckig und gibt nicht so schnell auf, und dann wird eben doch noch mal angerufen und noch mal, bis da einer rangeht, ein paar Stockwerke tiefer, es hört ja das Schlagen, das Rasen, also ist auch einer zu Hause."
    Lieske: Kathrin Weßling mit einem Auszug aus Ihrem neuen Roman "Super und dir?" Frau Weßling, das kleine Stück von Gehirn an Herz aus Ihrem Blog findet man in diesem Kapitel wieder.
    Weßling: Ja.
    "Ich wünsche, ich hätte mehr Sachen, die mein Herz berühren"
    Lieske: Ich habe mal nachgezählt, Wordcount macht es möglich: Es gibt 37 Passagen, in denen es um das Herz geht, und es gibt 13, in denen es um das Gehirn geht. Was kann man daraus schließen?
    Weßling: In meinem Blog?
    Lieske: Nein, in Ihrem Roman.
    Weßling: Ach so, okay.
    Lieske: Kann man daraus schließen, dass Ihnen das Herz das liebere Organ ist?
    Weßling: Nein, aber das, bei dem ich wünschte, es wäre mir das liebere Organ. Ich bin - mein Gehirn treibt mich die meiste Zeit in den Wahnsinn und ich beschäftige mich extrem viel damit, deswegen: Ich wünsche, ich hätte mehr Sachen, die mein Herz berühren und weniger, die mein Gehirn anstrengen.
    Lieske: Die beiden Organe stehen ja normalerweise für Gefühl und Vernunft.
    Weßling: Genau.
    Lieske: Welchem Organ würden Sie das Internet zuordnen?
    Weßling: Gefühl. Auf jeden Fall.
    Lieske: Was es vielleicht auch so attraktiv macht.
    Weßling: Ja!
    "Was ich am meisten hasse, ist telefonieren"
    Lieske: Sie haben eben schon gesagt, Sie sind fast immer online, Sie antworten sogar auf eine schöne altmodische E-Mail innerhalb von Sekunden. So schnell habe ich noch nie eine Antwort bekommen wie von Ihnen.
    Weßling: Das ist für mich ein Chat halt!
    Lieske: Gibt es einen Ausspielweg, würde man beim Radio sagen, der Ihnen besonders lieb ist?
    Weßling: Sie meinen also den Weg, über den ich am liebsten kommuniziere? Über Messenger. Also ich antworte auch nur auf E-Mails, weil die für mich nicht sowas sind wie, glaube ich, für andere Leute sowas wie "Liebe …" und dann "freundliche Grüße". Ich setze mich nicht dahin, sondern ich beantworte einfach nur schnell die Fragen, die da drinstehen, das ist für mich wie chatten und deswegen der Messenger. Und das, was ich am meisten hasse, ist telefonieren tatsächlich.
    Lieske: Warum?
    Weßling: Ich weiß es nicht. Also ich habe das früher mehr gerne gemacht, aber ich finde das immer unangenehm, weil ich muss dann mich so darauf konzentrieren, ich bin dann auch oft überfordert, dann genau so zu reagieren, wie ich jetzt gerade möchte. Und ich finde es halt viel schöner, wenn ich einfach irgendwie beim Schreiben in meinem Kopf sein kann und einfach so das in Ruhe beantworten kann, auf die Art, wie das gerade passt und nicht, wie das irgendwie der andere - ich kann ja am Telefon nicht einfach sagen, warte mal zehn Minuten, ich muss da jetzt erst mal drüber nachdenken oder so.
    "Was ich da mache, mache ich wirklich aus Leidenschaft"
    Lieske: Was ist für Sie das Schönste an Ihrem Leben in der Internetöffentlichkeit, im großen globalen Wohnzimmer?
    Weßling: Das wechselt sich, glaube ich, immer so ein bisschen ab. Also die Dankbarkeit zum Beispiel für das, was ich mache, das ist oft für mich total wichtig, aber es ist manchmal auch dann in anderen Phasen belastend. Und dass so viele Leute das gut finden, was ich mache, ist oft toll, aber es ist auch oft - holt dann andere Leute ran, die mir unangenehm sind oder mit denen ich dann eigentlich nichts zu tun haben möchte. Also es ist immer so ein bisschen verwöhnt, zu sagen, ja, das hat aber auch alles seine Schattenseite, aber es ist schon, wenn man ein sehr sensibler Mensch ist, manchmal nicht so easy, deswegen kann ich das nicht so klar beantworten, weil alles, was ich da erlebe, hat auch einen Preis, und der ist halt nicht immer angenehm.
    Lieske: Den sind Sie bereit zu zahlen?
    Weßling: Ja. Also ich habe nicht das Gefühl, eine Wahl zu haben. Also was ich da mache, mache ich wirklich aus Leidenschaft und nicht, weil ich jetzt irgendwie da Karriere machen will im Internet oder so. Also es ist wirklich - das kommt einfach aus mir selber raus, und deswegen habe ich da eh keine Wahl.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.