Blumenthal: In einem gewissen Sinn natürlich, denn man kann nicht der Direktor eines Museums sein, ohne einen gewissen Einfluss auf die Ausstellung zu haben. Aber man darf nicht vergessen, dass ich kein Museumsmann bin. Ich habe noch nie in meinem Leben ein Museum geleitet oder ausgestattet. Und das ist die Arbeit von fast 100 Menschen und besonders von zwei Museumsgestaltern: Erst mal von dem leider verstorbenen Sheike Weinberg, der das erste Konzept - das Grundkonzept -entwickelt hatte, und zweitens von Ken Gorbey, unserem Museumsdirektor, der diese Arbeit übernommen hat und bis zur Eröffnung weitergeführt hat. Dadurch, dass wir den Bau verbessern, vergrößern, umbauen mussten, ist es uns möglich gewesen, nun die gesamte Geschichte der Anwesenheit der deutschen Juden auf deutschem Boden zu zeigen, also die 2.000-jährige Geschichte zu zeigen. Und von Anfang an hat mir Sheike Weinberg gesagt, dass das viel, viel besser wäre. Er hatte sich immer dagegen gesträubt, mit einer Teilausstellung zu beginnen. Und so war es möglich. Und noch kurz vor seinem Tod konnte ich ihm sagen: 'Du hast gewonnen, Sheike, wir machen das Ganze auf einmal'.
Buschschlüter: Also 2.000 Jahre deutsch-jüdische Geschichte. Wie muss man sich das vorstellen? Chronologisch?
Blumenthal: Es ist im Großen und Ganzen chronologisch, aber nicht genau chronologisch. Denn wir wollten ja nicht nur die Geschichte als solche erzählen; wir wollen ja auch gewisse Grundfragen beantworten, die, wie wir glauben, für die vielen deutschen Besucher von Interesse und Wichtigkeit sind. Erst mal: Was ist ein Jude; was bedeutet es, Jude zu sein? Zweitens die Frage: Wie lebt man als Jude, wie hat man in Deutschland über die Jahrhunderte hinweg bis heute gelebt? Und drittens: Wie sieht es heute, am 9. September 2001 aus, und wie wird es in der Zukunft in Deutschland für Juden und für andere Minoritäten in diesem Land aussehen? Um das zu zeigen, haben wir natürlich überall Einschnitte, die themenartig sind und nicht genau chronologisch, wo wir zurückgreifen müssen und auch in die Zukunft gucken. Aber wenn Sie durch das Museum - die beiden großen Etagen des Museums - gehen, dann ist natürlich eine gewisse chronologische Einheit klar zu erkennen.
Buschschlüter: Sie haben immer wieder gesagt, das Jüdische Museum sei kein Museum des Holocaust. Aber der Holocaust wird sicherlich mehr als nur ein Aspekt der Ausstellung sein?
Blumenthal: Leider ist es so, dass, wenn man die Geschichte der Juden in Deutschland erzählt, man selbstverständlich den Holocaust mit einbeziehen muss. Und der Bau als solcher - dieser wunderbare Bau, von Daniel Libeskind entworfen - hat ja den Holocaust-Turm, hat ja die Achse des Exils und hat ja in seiner Grundkonzeption sehr viel, das an den Holocaust erinnert. Das ist eine Tatsache. Aber doch ist es so - das ist natürlich wichtig -, dass Sie unten, wenn Sie reinkommen, wenn Sie in das Untergeschoss gehen und Sie biegen nach rechts ab, dann kommen Sie sozusagen in den Teil der Erinnerung. Und der Teil der Erinnerung ist sehr, sehr stark vom Holocaust beeinflusst. Gehen Sie jedoch in die eigentliche Dauerausstellung, also steigen Sie diese impressionante Treppe hinauf ins zweite Obergeschoss und beginnen Sie dort den Besuch der Dauerausstellung, dann werden Sie zwar auch im 20. Jahrhundert natürlich etwas über den Holocaust finden, aber nur einen sehr beschränkten Teil - und überall in diesem Museum, nicht so wie in Washington konzentriert auf den Holocaust und die schrecklichen Ereignisse des Holocaust, sondern bei uns mehr auf die Reaktion der deutschen Juden, auf den immer größer werdenden Druck dieses verbrecherischen Naziregimes, das dann später zum Schluss in den Holocaust endete.
Buschschlüter: Eine Möglichkeit, Geschichte darzustellen, ist Geschichten zu erzählen. Wie schwer war es für Sie, Exponate - Originalexponate - zu finden, die diese Geschichten erzählen?
Blumenthal: Von Anfang an hat man uns immer gesagt: 'Wie könnt Ihr überhaupt ein Museum machen, Ihr habt doch gar nicht genug Exponate'. Das war zwar übertrieben, diese Sorge, denn wir hatten eine ganze Menge. Aber in gewissem Sinne hat das gestimmt; wir hatten nicht genug. Und so haben wir zwei Sachen unternommen, um diesem Problem abzuhelfen. Einmal - wir haben auf der ganzen Welt bei ehemaligen deutschen Juden in anderen Organisationen nach Exponaten gesucht, die für diese Ausstellung, für diese Geschichte, die wir erzählen, wichtig sind. Und da haben wir einen wirklich erstaunlich großen Anklang gefunden - erstens. Und zweitens gibt es natürlich auf der ganzen Welt in anderen Museen - in Israel, in Amerika, in England und in anderen europäischen Ländern - sehr, sehr viel Exponate, die wir haben wollten, um diese Geschichte zu erzählen, denn wir haben ja erst das Drehbuch geschrieben, und dann laut des Drehbuchs die Exponate dafür gesucht. Und auch die verschiedenen Institutionen und Museen sind in dieser Beziehung sehr hilfreich gewesen, so dass wir absolut kein Problem gehabt haben, dieses Museum anzufüllen. Im Gegenteil. Unser Problem war, zu entscheiden, welches von den vielen Möglichkeiten wir nützen wollten.
Buschschlüter: Können Sie ein Beispiel nennen - ein Exponat, das seine eigene Geschichte erzählt?
Blumenthal: Es gibt zig davon in diesem Museum: Die Geschichte eines Mannes, der mit einem Kindertransport aus Deutschland - ich glaube - nach England fuhr und seine Familie, seine Eltern, zurückließ, die ermordet wurden oder nicht wiedergefunden wurden. Und das einzige, was ihm noch geblieben ist, ist ein kleines Handtuch, das ihm seine Mutter im letzten Moment noch in die Hand drückte. Die Geschichte dieses Handtuchs und dieses Menschen ist eines dieser Beispiele. Eine andere Familie, die gewisse Möbelstücke bis heute aus Deutschland noch bei sich hatte und sie uns zurückgeschickt hat - und wenn wir das zeigen, ist das nicht ein jüdischer Stuhl oder ein besonderer Stuhl, aber es ist ein besonderer Stuhl insofern, als dass um diesen Stuhl herum die ganze Geschichte dieser jüdischen Familie über Hunderte von Jahren heraus zu erzählen ist.
Buschschlüter: Ihr Projektdirektor Ken Gorbey hat vor einem Jahr in einem Zeitungsinterview gesagt, ein Teil der deutsch-jüdischen Geschichte im Jüdischen Museum werde davon geprägt sein, zu zeigen, was fehlt und warum es fehlt. Können Sie das an einem Beispiel deutlich machen? Hatte er vielleicht an diese Leerräume, die Voids gedacht?
Blumenthal: Absolut. Dieses Museum ist geprägt von den Leeren, von den Voids. Das war ja eine der Grundideen von Daniel Libeskind, und man kann durch dieses Museum nicht schreiten, ohne ständig auf diese Voids zu stoßen. Es gibt sie überall, es gibt die schwarze Wand, die durch das ganze Museum geht. Es gibt auch großen Void unten im Erdgeschoss, in das man sogar hereingehen kann, in dem wir eine besondere Skulptur zeigen. Und wir haben uns lange überlegt, wie wir dieses Element der Architektur - der architektonischen Lösung - würdigen können und mit einschließen können in unsere Ausstellung. Und das haben wir so gemacht, dass wir die 'Galerie des Vermissten' entwickeln. Das ist nur am Anfang, und Sie werden davon zwei, drei Beispiele gesehen haben oder sehen können, wenn Sie heute durch das Museum gehen. Aber das wird sich im Laufe der Zeit entwickeln. Und da sind eben Elemente, die wir zeigen - gegen die schwarzen Wände, die daran erinnern, was nicht mehr existiert. Ob es später mal das Denkmal von Heinrich Heine in Düsseldorf sein wird, das die Nazis eingeschmolzen haben, das Denkmal eines der größten lyrischen deutschen Dichters - der deutschen Sprache, oder ob es ein berühmtes Krankenhaus in Frankfurt war, in dem Paul Ehrlich, ein Nobelpreisträger - deutsch-jüdischer Nobelpreisträger - seine Recherchen gemacht hat, das nicht mehr existiert, von dem nur noch eine Verzierung des Dachs existiert, die wir zeigen werden, oder ob es Grabsteine deutsch-jüdischer Soldaten, die im ersten Weltkrieg gefallen sind und die in deutschen Soldatenfriedhöfen in Frankreich begraben waren, wo die Nazis die Grabsteine entfernt haben und einfach den Grabstein eines unbekannten Soldaten hingesetzt haben - all das sind Elemente der 'Galerie des Vermissten', die im Laufe der Zeit hier gezeigt werden; zwei oder drei werden ja schon in dieser Ausstellung gezeigt.
Buschschlüter: Das leere Museum, der Libeskind-Bau, hat sich ja als Publikumsrenner erwiesen, und einige Besucher haben gesagt: 'Warum nicht leer lassen?' Sie hatten nun die Aufgabe, dieses leere Museum mit Inhalt zu füllen. War das sehr schwer, mit Inhalt gegen die Form - oder mit der Form zu konkurrieren?
Blumenthal: Die riesige Anzahl von fast 400.000 Besuchern, die diesen leeren Bau besucht haben, war schon erstaunlich. Davon hat - konservativ gesagt - geschätzt die Hälfte uns gesagt: 'Lasst ihn doch einfach leer, denn er ist doch so schön - leer. Wie kann man ihn überhaupt durch ein Museum, durch Anfüllen von Exponaten noch schöner machen - und: Werdet Ihr ihn nicht dadurch verderben?' Einerseits war das natürlich nie möglich, denn unsere Aufgabe war ja, hier ein Museum aufzubauen. Andererseits ist diese Ansicht verständlich, denn leer war der Bau sehr, sehr eindrucksvoll. Unsere Aufgabe war darum nicht leicht, nämlich eine Ausstellung zu schaffen, die nicht gegen das Architektonische ankämpft, sondern harmonisch damit integriert wird. Die Besucher selbst müssen entscheiden, ob es uns gelungen ist. Wir haben ständig in dem Bewusstsein gearbeitet, dass wir nichts an die Wände kleben wollen, dass wir gewisse Elemente einfach leer lassen. Das sind die sogenannten 'Libeskind-Momente', die Sie in dem Museum sehen. Da gibt es Ecken und da gibt es gewisse Teile, wo man am besten gar nichts hintut.
Buschschlüter: Als Ihnen Ende 1997 der Job des Direktors des Jüdischen Museums angeboten wurde, da galten Sie als 'Retter in der Not'. Sie haben eben selber gesagt, Sie sind nicht Museumsdirektor; Sie sind auch nicht Historiker. Was hat Sie damals gereizt, diese Aufgabe anzunehmen?
Blumenthal: Also, erst mal muss ich gestehen, dass ich damals gar nicht richtig verstanden habe, was ich da überhaupt übernehme. Dazu möchte ich hinzufügen, dass diejenigen, die mich angeheuert haben, auch nicht verstanden haben, was sie mit mir sich eingekauft haben und wohl auch nicht richtig gewusst haben, was aus diesem Projekt, das ein viel bescheideneres war zu diesem Zeitpunkt, werden würde oder werden müsste. Was mir damals das Wichtigste war, warum ich meine Familie um Erlaubnis gebeten habe, fast jeden Monat aus Princton nach Berlin zu kommen, um diese Arbeit zu übernehmen, war auch schon damals das Bewusstsein, dass es sich um etwas Wichtiges handelt - aus vielen, vielen Gründen. Denn wenn in diesem Land die Offiziellen, die Behörden, diese Institution der Erinnerung aufbauen wollen - nicht nur die Erinnerung an den Holocaust, sondern an das Zusammenleben zwischen deutschen Juden und Nichtjuden über lange Zeit hinaus -, so ist das ein wichtiges Statement, ein wichtiger Schritt - und ein Schritt, den ich unterstütze, begrüße, und wo ich fühlte, dass ich vielleicht die Verantwortung habe, mitzuhelfen. Zweitens natürlich, weil ich von Anfang an der Ansicht war, dass die Geschichte der deutschen Juden, die ja so vielen Deutschen - ich würde sagen, den größten Teil der heute lebenden Deutschen - in weitem Maße unbekannt ist, dass diese Geschichte von ihnen verstanden werden muss; dass Menschen verstehen müssen, deutsche Menschen, dass sie ihre eigene Geschichte gar nicht verstehen können, wenn sie über die Anwesenheit ihrer ehemaligen deutschen jüdischen Mitbürger nichts wissen. Drittens, um zu versuchen, zu verhindern, dass heute Deutsche, wenn sie von Juden hören oder Juden treffen, sofort immer nur an Auschwitz denken - sofort immer nur an diejenigen denken, die ermordet wurden, anstatt sich daran zu erinnern, dass so viel Leben, jüdisches Leben und Zusammenleben hier war. Und viertens und letztens, weil ich zu der Einsicht gekommen bin - und das habe ich vielleicht zu Anfang nicht ganz so verstanden, aber das ist heute sehr wichtig -, dass das, was wir hier zeigen, von Relevanz auch für heute und für morgen ist, denn es zeigt, wie viel Gutes aus einem harmonischen Zusammenleben in einer multi-kulturellen Gesellschaft mit Minderheiten zu erwarten ist, und wie viel verloren geht, wenn Vorurteile und noch Schrecklicheres dieses harmonische Zusammenleben verhindern - und nicht nur mit Juden, sondern ebenso mit Türken oder mit Andersfarbigen oder mit anderen Kulturen, was immer sie auch sind.
Buschschlüter: Sie sind deutscher Jude, in Deutschland geboren, nach Amerika emigriert. 'Nach Deutschland', haben Sie einmal gesagt, 'komme ich als Amerikaner und fahre als Jude wieder weg'. Was geschieht mit Ihnen, wenn Sie in Deutschland sind? Was bewegt Sie, was verändert Sie dann?
Blumenthal: Das war ein Versuch, zu unterstreichen, dass das Verhältnis zwischen deutschen Juden und Nichtjuden heute in Deutschland immer noch ein nicht ganz unbeschwertes ist, dass es immer noch verkrampft ist, dass es schwierig ist, mit einem wohlwollenden - und die meisten Deutschen, die ich getroffen habe, sind absolut wohlwollend Juden gegenüber - mit einem wohlwollenden Deutschen zusammenzukommen, ohne nicht sofort daran erinnert zu werden, dass man Jude ist - etwas, was mir als Amerikaner nicht geläufig ist. Wenn ich in Amerika mit Menschen zusammenarbeite, egal wo es auch ist, ob in der Wirtschaft oder im öffentlichen Leben, so ist die Tatsache, dass ich Jude bin, nicht von großer Bedeutung - und oft weiß ich gar nicht, ob der, mit dem ich spreche, auch ein Jude ist oder nicht. Und das ist auch vollkommen unwichtig - in den meisten Fällen, nicht immer, aber in den meisten Fällen. In Deutschland ist das fast unmöglich. Und das meinte ich damit. Ich meinte damit, dass eben dieses Verhältnis - auf beiden Seiten, auf jüdischer und auf nichtjüdischer Seite - immer noch ein besonderes ist, dass man sich sehr vorsichtig begegnet und - wie gesagt - dass es nicht unbeschwert ist. Das ist verständlich aufgrund der schrecklichen Ereignisse des letzten Jahrhunderts. Aber ich hoffe doch, dass sich das im Laufe der Zeit - nach der nächsten Generation - ändern wird, so dass man auch in Deutschland als Mensch betrachtet wird und nicht erst mal als Jude.
Buschschlüter: Sie sind mit 21 Jahren nach Amerika gekommen und haben sich voll in die Gegenwart gestürzt, sich um Ihre Gegenwart, Ihre Zukunft gekümmert - das haben Sie in Ihrem Buch 'Die unsichtbare Mauer' beschrieben. Sie sagten: 'Ich war zu verschiedenen Zeiten Lehrer, Geschäftsmann, Bankier und Regierungsbeamter' - etwas sehr bescheiden formuliert. Sie haben an der Universität Princton gelehrt, Sie waren Manager, haben zwei Unternehmen aus dem Kreis der Ford'schen 500 gemanagt und Sie waren Finanzminister im Kabinett von Jimmy Carter. Wann konkret haben Sie sich dann wieder mit ihren deutschen Wurzeln beschäftigt?
Blumenthal: Meine deutschen Wurzeln habe ich nie vergessen. Das konnte ich ja gar nicht vergessen, denn deutsch ist meine Muttersprache, obwohl ich inzwischen im Englischen geläufiger bin als im Deutschen. Und ich habe auch gar kein Interesse daran gehabt, meine deutschen Wurzeln irgendwie zu verheimlichen oder zu vergessen; sie waren immer da. Aber mich intensiv damit zu beschäftigen, ist eigentlich erst aus der etwas quicksotischen - wenn man das aus auf deutsch sagen kann - Idee entsprungen, dass ich versuchen werde, ein Buch zu schreiben, um ein bisschen selbst zu verstehen, was die Wurzeln der Ereignisse des 20. Jahrhunderts gewesen sind. Und um dieses Buch zu schreiben - da ich ja auch kein Historiker bin -, musste ich natürlich sehr viel lesen. Und das natürlich war dann auch der Punkt, der mich dazu gebracht hat, mich mit meiner eigenen Vergangenheit intensiver zu beschäftigen, die Mentalität meiner Eltern, meiner Großeltern und ihrer Freunde, Bekannten und Verwandten besser zu verstehen und die Mentalität anderer ehemaliger deutscher Juden, die ich hier in Amerika kenne, etwas besser zu verstehen - dadurch, dass ich die Geschichte dieser Menschen, meiner Menschen, der Gruppe der Menschen, zu denen ich gehöre, eben anhand ihrer Geschichte etwas besser studiert habe. Das bedeutet nicht bei uns, dass man nicht auch vollkommen ein Amerikaner sein kann, aber man lernt trotzdem ganz offen, sich mit seiner Kultur und seiner Vergangenheit mit der Menschengruppe zu beschäftigen, aus der man selbst stammt. Denn das ist ja interessant, interessant auch für meine Kinder.
Buschschlüter: Lässt sich aus dieser Familiengeschichte, aus diesen sechs persönlichen Geschichten - sieben, wenn man Ihre eigene dazu nimmt - in diesem Buch 'Die unsichtbare Mauer' die Frage nach dem warum des Holocaust ableiten?
Blumenthal: In gewisser Beziehung ja. Also, der Holocaust selbst ist nicht zu erklären - meiner Meinung nach. Kein Mensch kann das richtig erklären, denn das ist so einzigartig. Es gibt nichts in der Geschichte meiner Meinung nach, was man mit dem Holocaust vergleichen kann; das kann überhaupt nicht relativiert werden. Aber die Wurzeln, die Ursprünge der Vorurteile gegen Juden, des Drucks auf die Juden, der schrecklichen Verbrechen an Juden, der Schwierigkeit der Juden als Minorität in vielen Ländern, nicht nur in Deutschland, in vielen Ländern zu leben - ja, das können Sie, glaube ich, ein bisschen aus der Geschichte und selbst auch in meinem Buch sehen. Und daraus kann man natürlich sehen, dass diese vernarrten, verbrecherischen, verzerrten Ideen - rassistischen Ideen -, die in der verwirrten Zeit nach dem Ersten Weltkrieg von Nationalsozialisten und anderen rechtsextremistischen Elementen aufgegriffen worden sind, auf fruchtbaren Boden fielen. Und da kommt alles Mögliche noch dazu, und auch Unfähigkeit der Politiker und alles Mögliche; das ist ja von Historikern oft genug analysiert und beschrieben worden. Aber absolut - meiner Meinung nach - sieht man daraus, dass Hitler kein Phänomen in sich selbst gewesen ist, sondern einfach der Nachfahre von Ideen und Vorurteilen, die auf lange Zeit zurückgehen.
Buschschlüter: Das Buch handelt auch von der doppelten Identität, also der deutschen Juden, der Deutschen und der Juden - von ihrem Streben, sich voll zu integrieren. Und Sie haben geschrieben, dass die Juden immer wieder versucht haben, sich mit ihrem Land zu identifizieren, und Sie sprechen sogar von Patriotismus, von Stolz auf dieses Land und von unerwiderter Liebe.
Blumenthal: Na ja, das kann man wohl sagen, denn die Geschichte ist, was die Geschichte ist. Letzten Endes wissen wir ja, dass die Liebe nicht erwidert wurde - oder wenn, dann nur zeitweilig und teilweise. Denn letzten Endes sind die Juden ja ermordet oder ausgestoßen worden. Das ist das Tragische, denn der Preis dafür, die Kosten dafür sind ja von allen getragen worden. Es hat mal jemand zu mir gesagt, dass diese ganze Geschichte des 20. Jahrhunderts etwas ist, was die Deutschen sich selbst angetan haben, späteren Generationen angetan haben. Was die Generation der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg den heutigen Deutschen angetan hat, den jungen Deutschen - und ich bemerke das immer wieder, wenn ich mich mit Studenten oder Schülern darüber unterhalte -, die leiden ja auch darunter. Das kann man ja verstehen, und darum ist es - glaube ich - wirklich so, dass alle daraus lernen müssen.
Buschschlüter: Vergangenheit bleibt Geschichte, wenn daraus keine Lehren gezogen werden. In Deutschland leben jetzt wieder 70.000 Juden, in Berlin 15.000. Wie steht es um ihre Integration? Könnte das ein Thema für das Jüdische Museum Berlin sein?
Blumenthal: Erst mal möchte ich Sie korrigieren. Man weiß nicht genau, wie viel Juden in Deutschland leben, aber ich habe gerade gesehen, dass Paul Spiegel erklärt hat, es sind über 90.000 bereits. Also, das steigt schnell an. Natürlich sind Lehren zu ziehen: eine der Lehren habe ich bereits erwähnt - die Vorteile, mit Minoritäten harmonisch zusammenzuleben. Zweitens glaube ich, durch die Existenz dieses Museums sind Deutsche - nicht nur die deutsche Regierung, sondern auch deutsche Bürger - schon mehr berechtigt meiner Meinung nach, selbst sehr energisch dafür einzutreten, dass die Menschenrechte von Minoritäten gewährt werden - gegen den Rechtsextremismus, der in allen Ländern existiert, auch hier in Deutschland anzukämpfen, um aus der Geschichte die Lehren zu ziehen, die daraus zu ziehen sind, Zivilcourage in dieser Beziehung zu zeigen - etwas, was in der Nazizeit leider sehr, sehr knapp vorhanden war. All das sind Lehren, die für die Gegenwart und Zukunft von äußerster Wichtigkeit sind. Und darum ist dieses Museum, das eine pädagogische Arbeit zu leisten hat - eine wissenschaftliche, eine kulturelle Arbeit zu leisten hat -, darum ist dieses Museum wirklich eine wichtige sozialpolitische Institution in diesem Land. Und das ist der Grund, warum ich mit so viel Freude - und Hingabe, muss ich schon sagen, denn es ist wirklich so; ich weiß nicht, wie viel Duzend Reisen ich über den Ozean gemacht habe dafür, ehrenamtlich - darum ist diese sozialpolitische Institution für dieses Land, aber auch über die Grenzen hinaus für diese Welt etwas Wichtiges und kein gewöhnliches normales Museum.
Buschschlüter: Also 2.000 Jahre deutsch-jüdische Geschichte. Wie muss man sich das vorstellen? Chronologisch?
Blumenthal: Es ist im Großen und Ganzen chronologisch, aber nicht genau chronologisch. Denn wir wollten ja nicht nur die Geschichte als solche erzählen; wir wollen ja auch gewisse Grundfragen beantworten, die, wie wir glauben, für die vielen deutschen Besucher von Interesse und Wichtigkeit sind. Erst mal: Was ist ein Jude; was bedeutet es, Jude zu sein? Zweitens die Frage: Wie lebt man als Jude, wie hat man in Deutschland über die Jahrhunderte hinweg bis heute gelebt? Und drittens: Wie sieht es heute, am 9. September 2001 aus, und wie wird es in der Zukunft in Deutschland für Juden und für andere Minoritäten in diesem Land aussehen? Um das zu zeigen, haben wir natürlich überall Einschnitte, die themenartig sind und nicht genau chronologisch, wo wir zurückgreifen müssen und auch in die Zukunft gucken. Aber wenn Sie durch das Museum - die beiden großen Etagen des Museums - gehen, dann ist natürlich eine gewisse chronologische Einheit klar zu erkennen.
Buschschlüter: Sie haben immer wieder gesagt, das Jüdische Museum sei kein Museum des Holocaust. Aber der Holocaust wird sicherlich mehr als nur ein Aspekt der Ausstellung sein?
Blumenthal: Leider ist es so, dass, wenn man die Geschichte der Juden in Deutschland erzählt, man selbstverständlich den Holocaust mit einbeziehen muss. Und der Bau als solcher - dieser wunderbare Bau, von Daniel Libeskind entworfen - hat ja den Holocaust-Turm, hat ja die Achse des Exils und hat ja in seiner Grundkonzeption sehr viel, das an den Holocaust erinnert. Das ist eine Tatsache. Aber doch ist es so - das ist natürlich wichtig -, dass Sie unten, wenn Sie reinkommen, wenn Sie in das Untergeschoss gehen und Sie biegen nach rechts ab, dann kommen Sie sozusagen in den Teil der Erinnerung. Und der Teil der Erinnerung ist sehr, sehr stark vom Holocaust beeinflusst. Gehen Sie jedoch in die eigentliche Dauerausstellung, also steigen Sie diese impressionante Treppe hinauf ins zweite Obergeschoss und beginnen Sie dort den Besuch der Dauerausstellung, dann werden Sie zwar auch im 20. Jahrhundert natürlich etwas über den Holocaust finden, aber nur einen sehr beschränkten Teil - und überall in diesem Museum, nicht so wie in Washington konzentriert auf den Holocaust und die schrecklichen Ereignisse des Holocaust, sondern bei uns mehr auf die Reaktion der deutschen Juden, auf den immer größer werdenden Druck dieses verbrecherischen Naziregimes, das dann später zum Schluss in den Holocaust endete.
Buschschlüter: Eine Möglichkeit, Geschichte darzustellen, ist Geschichten zu erzählen. Wie schwer war es für Sie, Exponate - Originalexponate - zu finden, die diese Geschichten erzählen?
Blumenthal: Von Anfang an hat man uns immer gesagt: 'Wie könnt Ihr überhaupt ein Museum machen, Ihr habt doch gar nicht genug Exponate'. Das war zwar übertrieben, diese Sorge, denn wir hatten eine ganze Menge. Aber in gewissem Sinne hat das gestimmt; wir hatten nicht genug. Und so haben wir zwei Sachen unternommen, um diesem Problem abzuhelfen. Einmal - wir haben auf der ganzen Welt bei ehemaligen deutschen Juden in anderen Organisationen nach Exponaten gesucht, die für diese Ausstellung, für diese Geschichte, die wir erzählen, wichtig sind. Und da haben wir einen wirklich erstaunlich großen Anklang gefunden - erstens. Und zweitens gibt es natürlich auf der ganzen Welt in anderen Museen - in Israel, in Amerika, in England und in anderen europäischen Ländern - sehr, sehr viel Exponate, die wir haben wollten, um diese Geschichte zu erzählen, denn wir haben ja erst das Drehbuch geschrieben, und dann laut des Drehbuchs die Exponate dafür gesucht. Und auch die verschiedenen Institutionen und Museen sind in dieser Beziehung sehr hilfreich gewesen, so dass wir absolut kein Problem gehabt haben, dieses Museum anzufüllen. Im Gegenteil. Unser Problem war, zu entscheiden, welches von den vielen Möglichkeiten wir nützen wollten.
Buschschlüter: Können Sie ein Beispiel nennen - ein Exponat, das seine eigene Geschichte erzählt?
Blumenthal: Es gibt zig davon in diesem Museum: Die Geschichte eines Mannes, der mit einem Kindertransport aus Deutschland - ich glaube - nach England fuhr und seine Familie, seine Eltern, zurückließ, die ermordet wurden oder nicht wiedergefunden wurden. Und das einzige, was ihm noch geblieben ist, ist ein kleines Handtuch, das ihm seine Mutter im letzten Moment noch in die Hand drückte. Die Geschichte dieses Handtuchs und dieses Menschen ist eines dieser Beispiele. Eine andere Familie, die gewisse Möbelstücke bis heute aus Deutschland noch bei sich hatte und sie uns zurückgeschickt hat - und wenn wir das zeigen, ist das nicht ein jüdischer Stuhl oder ein besonderer Stuhl, aber es ist ein besonderer Stuhl insofern, als dass um diesen Stuhl herum die ganze Geschichte dieser jüdischen Familie über Hunderte von Jahren heraus zu erzählen ist.
Buschschlüter: Ihr Projektdirektor Ken Gorbey hat vor einem Jahr in einem Zeitungsinterview gesagt, ein Teil der deutsch-jüdischen Geschichte im Jüdischen Museum werde davon geprägt sein, zu zeigen, was fehlt und warum es fehlt. Können Sie das an einem Beispiel deutlich machen? Hatte er vielleicht an diese Leerräume, die Voids gedacht?
Blumenthal: Absolut. Dieses Museum ist geprägt von den Leeren, von den Voids. Das war ja eine der Grundideen von Daniel Libeskind, und man kann durch dieses Museum nicht schreiten, ohne ständig auf diese Voids zu stoßen. Es gibt sie überall, es gibt die schwarze Wand, die durch das ganze Museum geht. Es gibt auch großen Void unten im Erdgeschoss, in das man sogar hereingehen kann, in dem wir eine besondere Skulptur zeigen. Und wir haben uns lange überlegt, wie wir dieses Element der Architektur - der architektonischen Lösung - würdigen können und mit einschließen können in unsere Ausstellung. Und das haben wir so gemacht, dass wir die 'Galerie des Vermissten' entwickeln. Das ist nur am Anfang, und Sie werden davon zwei, drei Beispiele gesehen haben oder sehen können, wenn Sie heute durch das Museum gehen. Aber das wird sich im Laufe der Zeit entwickeln. Und da sind eben Elemente, die wir zeigen - gegen die schwarzen Wände, die daran erinnern, was nicht mehr existiert. Ob es später mal das Denkmal von Heinrich Heine in Düsseldorf sein wird, das die Nazis eingeschmolzen haben, das Denkmal eines der größten lyrischen deutschen Dichters - der deutschen Sprache, oder ob es ein berühmtes Krankenhaus in Frankfurt war, in dem Paul Ehrlich, ein Nobelpreisträger - deutsch-jüdischer Nobelpreisträger - seine Recherchen gemacht hat, das nicht mehr existiert, von dem nur noch eine Verzierung des Dachs existiert, die wir zeigen werden, oder ob es Grabsteine deutsch-jüdischer Soldaten, die im ersten Weltkrieg gefallen sind und die in deutschen Soldatenfriedhöfen in Frankreich begraben waren, wo die Nazis die Grabsteine entfernt haben und einfach den Grabstein eines unbekannten Soldaten hingesetzt haben - all das sind Elemente der 'Galerie des Vermissten', die im Laufe der Zeit hier gezeigt werden; zwei oder drei werden ja schon in dieser Ausstellung gezeigt.
Buschschlüter: Das leere Museum, der Libeskind-Bau, hat sich ja als Publikumsrenner erwiesen, und einige Besucher haben gesagt: 'Warum nicht leer lassen?' Sie hatten nun die Aufgabe, dieses leere Museum mit Inhalt zu füllen. War das sehr schwer, mit Inhalt gegen die Form - oder mit der Form zu konkurrieren?
Blumenthal: Die riesige Anzahl von fast 400.000 Besuchern, die diesen leeren Bau besucht haben, war schon erstaunlich. Davon hat - konservativ gesagt - geschätzt die Hälfte uns gesagt: 'Lasst ihn doch einfach leer, denn er ist doch so schön - leer. Wie kann man ihn überhaupt durch ein Museum, durch Anfüllen von Exponaten noch schöner machen - und: Werdet Ihr ihn nicht dadurch verderben?' Einerseits war das natürlich nie möglich, denn unsere Aufgabe war ja, hier ein Museum aufzubauen. Andererseits ist diese Ansicht verständlich, denn leer war der Bau sehr, sehr eindrucksvoll. Unsere Aufgabe war darum nicht leicht, nämlich eine Ausstellung zu schaffen, die nicht gegen das Architektonische ankämpft, sondern harmonisch damit integriert wird. Die Besucher selbst müssen entscheiden, ob es uns gelungen ist. Wir haben ständig in dem Bewusstsein gearbeitet, dass wir nichts an die Wände kleben wollen, dass wir gewisse Elemente einfach leer lassen. Das sind die sogenannten 'Libeskind-Momente', die Sie in dem Museum sehen. Da gibt es Ecken und da gibt es gewisse Teile, wo man am besten gar nichts hintut.
Buschschlüter: Als Ihnen Ende 1997 der Job des Direktors des Jüdischen Museums angeboten wurde, da galten Sie als 'Retter in der Not'. Sie haben eben selber gesagt, Sie sind nicht Museumsdirektor; Sie sind auch nicht Historiker. Was hat Sie damals gereizt, diese Aufgabe anzunehmen?
Blumenthal: Also, erst mal muss ich gestehen, dass ich damals gar nicht richtig verstanden habe, was ich da überhaupt übernehme. Dazu möchte ich hinzufügen, dass diejenigen, die mich angeheuert haben, auch nicht verstanden haben, was sie mit mir sich eingekauft haben und wohl auch nicht richtig gewusst haben, was aus diesem Projekt, das ein viel bescheideneres war zu diesem Zeitpunkt, werden würde oder werden müsste. Was mir damals das Wichtigste war, warum ich meine Familie um Erlaubnis gebeten habe, fast jeden Monat aus Princton nach Berlin zu kommen, um diese Arbeit zu übernehmen, war auch schon damals das Bewusstsein, dass es sich um etwas Wichtiges handelt - aus vielen, vielen Gründen. Denn wenn in diesem Land die Offiziellen, die Behörden, diese Institution der Erinnerung aufbauen wollen - nicht nur die Erinnerung an den Holocaust, sondern an das Zusammenleben zwischen deutschen Juden und Nichtjuden über lange Zeit hinaus -, so ist das ein wichtiges Statement, ein wichtiger Schritt - und ein Schritt, den ich unterstütze, begrüße, und wo ich fühlte, dass ich vielleicht die Verantwortung habe, mitzuhelfen. Zweitens natürlich, weil ich von Anfang an der Ansicht war, dass die Geschichte der deutschen Juden, die ja so vielen Deutschen - ich würde sagen, den größten Teil der heute lebenden Deutschen - in weitem Maße unbekannt ist, dass diese Geschichte von ihnen verstanden werden muss; dass Menschen verstehen müssen, deutsche Menschen, dass sie ihre eigene Geschichte gar nicht verstehen können, wenn sie über die Anwesenheit ihrer ehemaligen deutschen jüdischen Mitbürger nichts wissen. Drittens, um zu versuchen, zu verhindern, dass heute Deutsche, wenn sie von Juden hören oder Juden treffen, sofort immer nur an Auschwitz denken - sofort immer nur an diejenigen denken, die ermordet wurden, anstatt sich daran zu erinnern, dass so viel Leben, jüdisches Leben und Zusammenleben hier war. Und viertens und letztens, weil ich zu der Einsicht gekommen bin - und das habe ich vielleicht zu Anfang nicht ganz so verstanden, aber das ist heute sehr wichtig -, dass das, was wir hier zeigen, von Relevanz auch für heute und für morgen ist, denn es zeigt, wie viel Gutes aus einem harmonischen Zusammenleben in einer multi-kulturellen Gesellschaft mit Minderheiten zu erwarten ist, und wie viel verloren geht, wenn Vorurteile und noch Schrecklicheres dieses harmonische Zusammenleben verhindern - und nicht nur mit Juden, sondern ebenso mit Türken oder mit Andersfarbigen oder mit anderen Kulturen, was immer sie auch sind.
Buschschlüter: Sie sind deutscher Jude, in Deutschland geboren, nach Amerika emigriert. 'Nach Deutschland', haben Sie einmal gesagt, 'komme ich als Amerikaner und fahre als Jude wieder weg'. Was geschieht mit Ihnen, wenn Sie in Deutschland sind? Was bewegt Sie, was verändert Sie dann?
Blumenthal: Das war ein Versuch, zu unterstreichen, dass das Verhältnis zwischen deutschen Juden und Nichtjuden heute in Deutschland immer noch ein nicht ganz unbeschwertes ist, dass es immer noch verkrampft ist, dass es schwierig ist, mit einem wohlwollenden - und die meisten Deutschen, die ich getroffen habe, sind absolut wohlwollend Juden gegenüber - mit einem wohlwollenden Deutschen zusammenzukommen, ohne nicht sofort daran erinnert zu werden, dass man Jude ist - etwas, was mir als Amerikaner nicht geläufig ist. Wenn ich in Amerika mit Menschen zusammenarbeite, egal wo es auch ist, ob in der Wirtschaft oder im öffentlichen Leben, so ist die Tatsache, dass ich Jude bin, nicht von großer Bedeutung - und oft weiß ich gar nicht, ob der, mit dem ich spreche, auch ein Jude ist oder nicht. Und das ist auch vollkommen unwichtig - in den meisten Fällen, nicht immer, aber in den meisten Fällen. In Deutschland ist das fast unmöglich. Und das meinte ich damit. Ich meinte damit, dass eben dieses Verhältnis - auf beiden Seiten, auf jüdischer und auf nichtjüdischer Seite - immer noch ein besonderes ist, dass man sich sehr vorsichtig begegnet und - wie gesagt - dass es nicht unbeschwert ist. Das ist verständlich aufgrund der schrecklichen Ereignisse des letzten Jahrhunderts. Aber ich hoffe doch, dass sich das im Laufe der Zeit - nach der nächsten Generation - ändern wird, so dass man auch in Deutschland als Mensch betrachtet wird und nicht erst mal als Jude.
Buschschlüter: Sie sind mit 21 Jahren nach Amerika gekommen und haben sich voll in die Gegenwart gestürzt, sich um Ihre Gegenwart, Ihre Zukunft gekümmert - das haben Sie in Ihrem Buch 'Die unsichtbare Mauer' beschrieben. Sie sagten: 'Ich war zu verschiedenen Zeiten Lehrer, Geschäftsmann, Bankier und Regierungsbeamter' - etwas sehr bescheiden formuliert. Sie haben an der Universität Princton gelehrt, Sie waren Manager, haben zwei Unternehmen aus dem Kreis der Ford'schen 500 gemanagt und Sie waren Finanzminister im Kabinett von Jimmy Carter. Wann konkret haben Sie sich dann wieder mit ihren deutschen Wurzeln beschäftigt?
Blumenthal: Meine deutschen Wurzeln habe ich nie vergessen. Das konnte ich ja gar nicht vergessen, denn deutsch ist meine Muttersprache, obwohl ich inzwischen im Englischen geläufiger bin als im Deutschen. Und ich habe auch gar kein Interesse daran gehabt, meine deutschen Wurzeln irgendwie zu verheimlichen oder zu vergessen; sie waren immer da. Aber mich intensiv damit zu beschäftigen, ist eigentlich erst aus der etwas quicksotischen - wenn man das aus auf deutsch sagen kann - Idee entsprungen, dass ich versuchen werde, ein Buch zu schreiben, um ein bisschen selbst zu verstehen, was die Wurzeln der Ereignisse des 20. Jahrhunderts gewesen sind. Und um dieses Buch zu schreiben - da ich ja auch kein Historiker bin -, musste ich natürlich sehr viel lesen. Und das natürlich war dann auch der Punkt, der mich dazu gebracht hat, mich mit meiner eigenen Vergangenheit intensiver zu beschäftigen, die Mentalität meiner Eltern, meiner Großeltern und ihrer Freunde, Bekannten und Verwandten besser zu verstehen und die Mentalität anderer ehemaliger deutscher Juden, die ich hier in Amerika kenne, etwas besser zu verstehen - dadurch, dass ich die Geschichte dieser Menschen, meiner Menschen, der Gruppe der Menschen, zu denen ich gehöre, eben anhand ihrer Geschichte etwas besser studiert habe. Das bedeutet nicht bei uns, dass man nicht auch vollkommen ein Amerikaner sein kann, aber man lernt trotzdem ganz offen, sich mit seiner Kultur und seiner Vergangenheit mit der Menschengruppe zu beschäftigen, aus der man selbst stammt. Denn das ist ja interessant, interessant auch für meine Kinder.
Buschschlüter: Lässt sich aus dieser Familiengeschichte, aus diesen sechs persönlichen Geschichten - sieben, wenn man Ihre eigene dazu nimmt - in diesem Buch 'Die unsichtbare Mauer' die Frage nach dem warum des Holocaust ableiten?
Blumenthal: In gewisser Beziehung ja. Also, der Holocaust selbst ist nicht zu erklären - meiner Meinung nach. Kein Mensch kann das richtig erklären, denn das ist so einzigartig. Es gibt nichts in der Geschichte meiner Meinung nach, was man mit dem Holocaust vergleichen kann; das kann überhaupt nicht relativiert werden. Aber die Wurzeln, die Ursprünge der Vorurteile gegen Juden, des Drucks auf die Juden, der schrecklichen Verbrechen an Juden, der Schwierigkeit der Juden als Minorität in vielen Ländern, nicht nur in Deutschland, in vielen Ländern zu leben - ja, das können Sie, glaube ich, ein bisschen aus der Geschichte und selbst auch in meinem Buch sehen. Und daraus kann man natürlich sehen, dass diese vernarrten, verbrecherischen, verzerrten Ideen - rassistischen Ideen -, die in der verwirrten Zeit nach dem Ersten Weltkrieg von Nationalsozialisten und anderen rechtsextremistischen Elementen aufgegriffen worden sind, auf fruchtbaren Boden fielen. Und da kommt alles Mögliche noch dazu, und auch Unfähigkeit der Politiker und alles Mögliche; das ist ja von Historikern oft genug analysiert und beschrieben worden. Aber absolut - meiner Meinung nach - sieht man daraus, dass Hitler kein Phänomen in sich selbst gewesen ist, sondern einfach der Nachfahre von Ideen und Vorurteilen, die auf lange Zeit zurückgehen.
Buschschlüter: Das Buch handelt auch von der doppelten Identität, also der deutschen Juden, der Deutschen und der Juden - von ihrem Streben, sich voll zu integrieren. Und Sie haben geschrieben, dass die Juden immer wieder versucht haben, sich mit ihrem Land zu identifizieren, und Sie sprechen sogar von Patriotismus, von Stolz auf dieses Land und von unerwiderter Liebe.
Blumenthal: Na ja, das kann man wohl sagen, denn die Geschichte ist, was die Geschichte ist. Letzten Endes wissen wir ja, dass die Liebe nicht erwidert wurde - oder wenn, dann nur zeitweilig und teilweise. Denn letzten Endes sind die Juden ja ermordet oder ausgestoßen worden. Das ist das Tragische, denn der Preis dafür, die Kosten dafür sind ja von allen getragen worden. Es hat mal jemand zu mir gesagt, dass diese ganze Geschichte des 20. Jahrhunderts etwas ist, was die Deutschen sich selbst angetan haben, späteren Generationen angetan haben. Was die Generation der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg den heutigen Deutschen angetan hat, den jungen Deutschen - und ich bemerke das immer wieder, wenn ich mich mit Studenten oder Schülern darüber unterhalte -, die leiden ja auch darunter. Das kann man ja verstehen, und darum ist es - glaube ich - wirklich so, dass alle daraus lernen müssen.
Buschschlüter: Vergangenheit bleibt Geschichte, wenn daraus keine Lehren gezogen werden. In Deutschland leben jetzt wieder 70.000 Juden, in Berlin 15.000. Wie steht es um ihre Integration? Könnte das ein Thema für das Jüdische Museum Berlin sein?
Blumenthal: Erst mal möchte ich Sie korrigieren. Man weiß nicht genau, wie viel Juden in Deutschland leben, aber ich habe gerade gesehen, dass Paul Spiegel erklärt hat, es sind über 90.000 bereits. Also, das steigt schnell an. Natürlich sind Lehren zu ziehen: eine der Lehren habe ich bereits erwähnt - die Vorteile, mit Minoritäten harmonisch zusammenzuleben. Zweitens glaube ich, durch die Existenz dieses Museums sind Deutsche - nicht nur die deutsche Regierung, sondern auch deutsche Bürger - schon mehr berechtigt meiner Meinung nach, selbst sehr energisch dafür einzutreten, dass die Menschenrechte von Minoritäten gewährt werden - gegen den Rechtsextremismus, der in allen Ländern existiert, auch hier in Deutschland anzukämpfen, um aus der Geschichte die Lehren zu ziehen, die daraus zu ziehen sind, Zivilcourage in dieser Beziehung zu zeigen - etwas, was in der Nazizeit leider sehr, sehr knapp vorhanden war. All das sind Lehren, die für die Gegenwart und Zukunft von äußerster Wichtigkeit sind. Und darum ist dieses Museum, das eine pädagogische Arbeit zu leisten hat - eine wissenschaftliche, eine kulturelle Arbeit zu leisten hat -, darum ist dieses Museum wirklich eine wichtige sozialpolitische Institution in diesem Land. Und das ist der Grund, warum ich mit so viel Freude - und Hingabe, muss ich schon sagen, denn es ist wirklich so; ich weiß nicht, wie viel Duzend Reisen ich über den Ozean gemacht habe dafür, ehrenamtlich - darum ist diese sozialpolitische Institution für dieses Land, aber auch über die Grenzen hinaus für diese Welt etwas Wichtiges und kein gewöhnliches normales Museum.