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Blutige Fronten in der Türkei

Die Kurden gelten in der Türkei nicht als ethnische Minderheit und leiden unter Repressionen. Die Folgen: hohe Jugendarbeitslosigkeit und viel Sympathien für die kurdische Untergrundorganisation PKK. Trotz Geheimgesprächen zwischen Staat und PKK ist eine Lösung des Konflikt nicht in Sicht.

Von Reinhard Baumgarten | 18.01.2013
    Nach alter Tradition trägt der Dengbesh genannte Sänger im Dengbesh Evi im alten Zentrum Diyarbakirs Epen aus der kurdischen Vergangenheit vor. Es geht um den Kampf Gut gegen Böse, es geht um verklärte Helden, besiegte Feinde, unterworfene Gegner.

    Dengbesh - die Kunst der Verklärung, die Kunst des Erinnerns, die Kunst der kulturellen Wiedergeburt. Jahrzehntelang war der öffentliche Vortrag verboten. Weil Kurdisch jahrzehntelang verboten war. Die Generation meines Vaters habe sich nicht als kurdisch bezeichnet, sagt die 27-jährige Dilan Bazgan.

    "Sie haben sich Ostler genannt. Erst nach dem Auftreten der PKK - ich sage nicht dank der PKK - aber erst danach haben die Leute damit angefangen zu sagen, wir sind kurdisch."

    Dilan Bazgan lebt und arbeitet in Diyarbakir, dem Zentrum der Kurdengebiete in der Republik Türkei. Sie ist im ostanatolischen Bingöl geboren und dort eingeschult worden. Als 10-Jährige zog sie mit ihren Eltern in die westtürkische Stadt Izmir. Dort begriff sie zum ersten Mal, dass sie Kurdin ist und deshalb in den Augen ihrer Klassenkameraden wohl irgendwie anders war.

    "Ich habe einen kurdischen und einen türkischen Vornamen. Ich benutze nur meinen kurdischen Namen, aber ich habe eben auch einen türkischen - nämlich Özgen. Aber meine Lehrer, die Nationalisten waren, die haben mich niemals bei meinem kurdischen Namen gerufen, immer nur bei meinem türkischen, obwohl ich den nie benutze. Meine Klassenkameraden haben Namen erfunden. Sie haben mich nach meiner Heimatstadt benannt - Bingöl. Das war auch schräg. Sie mochten es, mir zu zeigen, dass ich anders bin. Sie haben auch diese Schauergeschichte erzählt, dass Kurden Schwänze haben. Sie haben mich tatsächlich gefragt, ob ich einen Schwanz habe oder nicht."


    Dengbesh und die Suche nach der kurdischen Identität in der Republik Türkei. Nirgends ist das so deutlich zu spüren wie in Diyarbakir. Und hier vor allem im historischen Stadtteil Sur. Dessen Bürgermeister ist der 46-jährige Abdullah Demirbaş.

    "Als Bürgermeister spreche ich am Tag mit 300 bis 400 Leuten. Es geht dabei nicht nur um Kommunales. Es geht um Blutfehden, um entführte Mädchen, um Eheprobleme. Manchmal bin ich als Psychologe, Soziologe, Pädagoge oder Anthropologe tätig. Ich helfe Leuten einen Job zu finden oder Kids mit Problemen in der Schule. Oder auch Leuten, die Probleme aufgrund ihrer politischen Einstellungen haben. Manchmal muss ich auch außerhalb der Provinz beim Schlichten helfen. Das ist nicht nur das klassische Bürgermeisteramt hier, es ist viel mehr."

    Für Abdullah Demirbaş ist sein Beruf Berufung, eine Mission, ein politischer Auftrag. Er gehört der kurdischen BDP an, der Partei des Friedens und der Demokratie. In Diyarbakir werden viele Probleme der 15 bis 20 Millionen Kurden der Republik Türkei wie durch ein Brennglas gebündelt.

    "Die Bevölkerung von Diyarbakir ist in 20 Jahren von 300.000 auf eine Million gewachsen. Das hat zu Problemen mit der Infrastruktur, dem Gesundheitssystem und den Dienstleistungen der Stadtverwaltung geführt. Die Infrastruktur war überlastet. Es kam zu Wasserknappheit für die einzelnen Haushalte. Auch das Kanalisationsnetz reichte nicht aus. Beides zusammen führte dann natürlich auch zu Gesundheitsproblemen."

    Hunderttausende Kurden mussten das Landleben aufgeben
    Hämmern und Schweißen im Basar von Sur. Geschäftigkeit prägt das Bild auf den ersten Blick. Doch Sur und Diyār-e-Bekir wie die Kurden sagen, blieben weit hinter ihren wirtschaftlichen Möglichkeiten, klagt Bürgermeister Demirbaş. Die Arbeitslosigkeit liege deutlich über dem türkischen Durchschnitt. Die Schaffung neuer Arbeitsplätze hat mit der aufgezwungenen Bevölkerungsentwicklung nicht Schritt halten können. In den 80er- und vor allem in den 90er-Jahren sind Hunderte von Dörfern und Weilern in den vorwiegend von Kurden bewohnten Provinzen von türkischen Sicherheitskräften zerstört oder von ihren Bewohnern gezwungenermaßen verlassen worden. Hunderttausende mussten ihr Landleben aufgeben und in die Städte ziehen.

    "Die Diskrepanz hat zu Chaos geführt. Die Menschen sind weder Städter noch Dörfler. Die zweite Generation will dann nicht mehr zurück aufs Land. Es entsteht ein Identitätsproblem, und es führt schließlich auch zu psychologischen Problemen. Selbstmorde haben zugenommen, das geht oft zurück auf dieses Identitätsproblem. Es sind auch Probleme, die vom Übergang eines Feudalsystems zur kapitalistischen Ordnung herrühren."

    Es sei ein von Menschen gemachtes Desaster, urteilt der in den USA ausgebildete kurdische Geografieprofessor Ilhan Kaya.

    "Sie glaubten, eine zeitliche Lösung zu finden. Aber es war eine Lösung dergestalt, dass die Dörfer zwar entleert wurden, um der PKK die Logistik zu entziehen. Sie wollten deren Logistik austrocknen. Aber sie haben das Problem nur in die Stadt verlagert, anstatt es auf dem Land zu lassen."

    Die massenhafte Landflucht der Kurden wirke sich heute wie ein Katalysator auf die kurdische Bewegung aus, unterstreicht Bürgermeister Demirbaş. Viele junge arbeits- und chancenlose Kurden sympathisierten mit der Untergrundorganisation PKK, die von der EU, den USA, der NATO und natürlich von Ankara als Terrororganisation bezeichnet wird. Doch nicht nur die vermeintlichen Looser und Chancenlosen "gehen in die Berge" - ein gebräuchlicher Euphemismus dafür, dass sich jemand der Guerilla anschließt.

    "Mein Sohn ist Guerillakämpfer. Früher konnten die Kinder nirgends hingehen, ohne den Eltern Bescheid zu sagen. Heute ist mein Sohn eben nicht nur in eine andere Stadt, sondern er ist in die Berge gegangen. Meine Frau und ich sind stolz auf ihn."

    Abdullah Demirbaş - demokratisch gewählter Bürgermeister, auf die türkische Verfassung eingeschworener Amtsträger und Vater eines Untergrundkämpfers. Abdullah Demirbaş ist wegen einer langen Reihe von Verstößen im Zusammenhang mit seinem Amt zu insgesamt 499 Jahren Haft verurteilt worden. Er ist in Berufung gegangen. Für schuldig befunden wurde er unter anderem, weil er Tafeln auf Türkisch und Kurdisch in der Stadtverwaltung hatte anbringen und vor der Stadt ein Schild mit kurdischer Begrüßung hatte aufstellen lassen. Offizielle Broschüren waren auf sein Geheiß hin mehrsprachig, zudem hatte er die Herausgabe kurdischsprachiger Kinderbücher unterstützt.

    "Ich habe keine Waffen. Ich bin Politiker. Ich habe niemanden umgebracht. Ich habe auch niemanden dazu überredet. Trotzdem warten auf mich 499 Jahre Haft. Wenn jemandem, der mit politischen Mitteln versucht, etwas zu verändern, so viele Hindernisse in den Weg gelegt werden, dann suchen die Jugendlichen einen anderen Weg für die Freiheit.

    Wenn der Staat sich so gegen Leute verhält, die gegen Gewalt sind, dann geht die Jugend in die Berge und sucht nach anderen Wegen. Mein Sohn hat genau das getan. Ich bin vom Gericht verurteilt worden. Am nächsten Tag kam mein Sohn und sagte, so ist das, wenn Du es mit legalen Mitteln versuchst. Der Staat versteht nur die Sprache der Waffen. Wer hat den Sohn in die Berge geschickt? Die Politik des Staates! Wer ist der Terrorist? Mein Sohn, oder diejenigen, die meinen Sohn durch ihre Politik in die Berge gebracht haben? Die gewalttätige Politik des Staates ist terroristischer als die Jugendlichen, die aufgrund dieser Politik in die Berge gehen."

    Kurden fühlen sich von Erdoğan getäuscht
    Der Staat wehrt sich gegen solcherlei Behauptungen und feuert zurück - mit Worten und mit Waffen. Seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe im Sommer 2011 sind mehr als 900 Menschen umgekommen - Zivilisten, Soldaten, Polizisten, Guerillakämpfer. Es ist nicht ganz klar, wie stark sich der Bürgerkrieg in Syrien auf die Bestrebungen der Kurden in der Türkei auswirkt. Es bleibt offen, ob der Iran mit Waffenlieferungen und Logistik wirklich - wie von Ankara vermutet - an der Gewaltschraube mit dreht. Feststeht: Der ungelöste Kurdenkonflikt ist seit Jahrzehnten die am schlimmsten schwärende Wunde der Republik Türkei. In den vergangenen 30 Jahren hat er Zehntausende Menschenleben gefordert. Vor zehn Jahren hat mit Recep Tayyip Erdoğan ein Politiker die Macht übernommen, dessen Ziel das Ende dieses Konfliktes war.

    "Wir haben der Verleumdungspolitik ein Ende gesetzt. Auf unserer Agenda steht Assimilation nicht. Wir haben in den vergangenen zehn Jahren große Fortschritte gemacht. Wir haben gemeinsam mit unseren 75 Millionen Bürgern kulturelle,
    wirtschaftliche und politische Reformen auf den Weg gebracht. Gleich im ersten Monat unserer Regierungszeit haben wir den Ausnahmezustand, das Kriegsrecht, abgeschafft."'"

    Anfangs glaubten viele Kurden dem islamisch-konservativen Ministerpräsidenten. Seine AK-Partei kam in Diyarbakir auf über 40 Prozent. Bei der letzten Parlamentswahl verlor sie aber gut zehn Prozent. Der BDP-Politiker Demirbaş glaubt zu wissen, warum.

    ""Am Anfang hat Erdoğan die Hoffnung geweckt, er wolle das demokratisch lösen. Die Entwicklung ist aber leider anders verlaufen. Er ist mehr zur Macht geworden und hat sich von der Demokratie abgewendet. Das hat in der Bevölkerung zu einer Enttäuschung geführt. Das ist schlecht für die Türkei. Ein weiteres Ergebnis ist auch die Entfernung von der EU und ihren Kriterien. Erdoğan hat Demokratie als Terminus verwendet, um seine Macht zu festigen. Er hat uns getäuscht."

    Recep Tayyip Erdoğan widerspricht Anfang Dezember vor der AKP-Fraktion in Ankara. Leidenschaftlich verteidigt er die Kurdenpolitik der von ihm geführten Regierung:

    "Uns war klar, dass es in der Region sozio-ökonomische Probleme gibt. In unserer Regierungszeit wurden in den Osten und Südosten Anatoliens circa 36 Milliarden Lira investiert. Was immer es im Westen gibt, soll es auch im Osten geben! Und wir arbeiten weiter daran. Überall im Land, im Westen, in Zentralanatolien, im Norden und am Mittelmeer gibt es jetzt viele Universitäten. Wir haben sie auch in den Provinzhauptstädten des Südostens gegründet.

    Jetzt möchte ich meinen kurdischen Mitbürger fragen: Was willst du noch? Hör nicht auf die Propaganda der Terrororganisation oder der Pseudovertreter der Kurden. Was fehlt dir noch? Woran mangelt es? Was hat der Westen, was du nicht hast? Wenn du die Arbeitslosigkeit und die Beschäftigung ansprichst, muss ich dir sagen: Der Schlüssel dazu liegt auch in deiner Hand. Warum? Weil du mithelfen musst, die Investoren und Unternehmer dazu zu bringen, in der Region zu investieren, und zwar indem du dich entschieden gegen die Terrororganisation stellst."

    Das Kurdenproblem, so kritisieren kurdische Politiker, werde von Ankara vorrangig als Terrorproblem gesehen. Das Recht auf die eigene kurdische Identität, auf Kurdisch als Unterrichts- und Amtssprache, auf politische Selbstverwaltung werde weitgehend ignoriert. Über die Gründe und Ursachen des bewaffneten und des unbewaffneten Aufbegehrens werde von türkischen Politikern zu wenig nachgedacht, stellt Bürgermeister Demirbaş fest, und er wartet mit einem freimütigen Bekenntnis auf.

    "Das Kurdenproblem und das PKK-Problem sind heute eins. Die PKK ist zu einer Massenbewegung geworden. Eine solche Massenbewegung kann nicht terroristisch sein. Die PKK ist eine Organisation mit eigenen Regeln. Wir sind die BDP und arbeiten nach den Regeln des Staates. Ich bin BDPler, mein Sohn ist PKKler. PKK und BDP sind ineinander verwoben. Wenn mir Politik verboten und das Legale eingegrenzt wird, dann wächst die PKK."

    Eine Kurdin in traditioneller Kleidung demonstriert für die Freilassung von Öcalan
    Eine Kurdin demonstriert für die Freilassung von Öcalan (AP)
    Öcalan ist der Atatürk der Kurden
    Chef der von Ankara als Terrororganisation bezeichneten PKK ist Abdullah Öcalan. Seit 1999 sitzt der 63-Jährige in türkischer Haft. Als einziger Häftling hockt er im Marmarameer auf der Insel Imralı in einem großen Gefängnis. Im Herbst beteiligten sich landesweit Hunderte kurdische Gefangene und zahlreiche kurdische Parlamentsabgeordnete an einem Hungerstreik. Eine ihrer Forderung lautete, Ende der Isolation des Apo genannten PKK-Chefs. Bevor es zu Toten mit möglicherweise tragischen Folgen kam, beendete ein "Machtwort" Öcalans den Streik. Der kurdische Professor Ilhan Kaya zur Bedeutung Öcalans, der von seinen Anhängern Serok - Führer - genannt wird.

    "In der Vorstellung vieler ist er der Gründer dieser Bewegung. In gewisser Weise nimmt er für viele Kurden einen vergleichbaren Rang ein, den Atatürk für Türken einnimmt. Er ist der Held, er ist derjenige, der angefangen hat. Er bringt Kurden dem Rest der Welt zu Bewusstsein. Ich würde sagen, unter den Kurden hat er ein gutes Image."

    In den vergangenen dreieinhalb Jahren sind vor allem im kurdischen Südosten mehrere Tausend Politiker und Aktivisten der PKK nahestehenden Kommunalen Kurdistan Union - kurz KCK - eingesperrt worden. Sie stehen im Verdacht, separatistische Absichten zu hegen oder verfolgt zu haben. Bei einer im März 2012 in Diyarbakir durchgeführten Umfrage gaben 68 Prozent der Befragten an, dass die KCK-Verhaftungswelle ihrer Ansicht nach die Chancen auf eine friedliche Beilegung des Konflikts deutlich geschmälert hat. In einer im August des gleichen Jahres durchgeführten Umfrage spricht sich nicht einmal ein Fünftel für ein staatlich unabhängiges Kurdistan aus. Knapp die Hälfte bevorzugt politische Autonomie innerhalb der Republik Türkei. Zu ihnen gehört auch Dilan Bazgan aus Bingöl.

    "Ich möchte keinen unabhängigen Staat haben. Das wird ein neuer Albtraum. Nationalstaaten gleichen sich. Es ist ein Albtraum. Die anderen, mit denen du dann Grenzen hast, werden dich niemals in Ruhe lassen."

    Bürgermeister Demirbaş spricht sich ebenfalls gegen einen eigenen Staat, aber für politische Autonomie der Kurden aus.

    "Beide Seiten müssen erkennen, dass mit Gewalt nichts zu lösen ist. Beide müssen dringend den Finger vom Abzug nehmen. Das Militär muss seine Operationen beenden, und die PKK muss dann eine Waffenruhe ausrufen. Gleichzeitig müssen Öcalan und die BDP auf der einen mit der Regierung auf der anderen Seite in einen Dialog treten. Der Ort der Lösung muss das Parlament sein."

    Türkische Regierung führt Geheimgespräche mit PKK
    Noch schwört die PKK dem Terror nicht offen ab. Noch setzt das türkische Militär schwere Waffen ein, von denen nicht nur Guerillakämpfer, sondern immer wieder auch Zivilisten getötet werden. Doch es gibt Zeichen der Hoffnung. Im September vergangenen Jahres wurde bekannt, dass die Regierung Erdoğan unter norwegischer Vermittlung Geheimgespräche mit der PKK-Spitze geführt hat. Reflexartig empörten sich türkische Nationalisten. Mit Terroristen, so der Tenor, dürfe keinesfalls verhandelt werden. Nach monatelanger offizieller Funkstille gestand Ministerpräsident Erdoğan Ende Dezember, dass mit dem auf Imralı inhaftierten PKK-Chef Öcalan Gespräche stattfinden:

    "Mit Blick auf die Lösung der Terrorfrage kontaktieren wir selber niemals Imralı. Aber wir 'lassen' kontaktieren.”"

    Justizminister Sadullah Ergin begründet die Geheimgespräche so:

    ""Es geht um das Ende einer Terrorplage, die dieses Land und seine Bürger seit Jahrzehnten heimsucht. Jeder Weg, jede Methode, die darauf abzielt, kann als legitim betrachtet werden."

    Viel Überzeugungsarbeit im eigenen Regierungslager, im Parlament und auch in der Bevölkerung wird nötig sein, um einen fruchtbaren und anhaltenden Dialog zwischen Staat und PKK auf den Weg zu bringen.