Montag, 13. Mai 2024

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Blutiger Kampf gegen das eigene Volk

Nach dem Tod des sowjetischen Diktators Josef Stalin im März 1953 kam Bewegung in die politische Landschaft Osteuropas. Die Aufstände in der DDR und Ungarn sind die bekanntesten Versuche, die Regime zu stürzen. Auch in Polen gab es 1956 weit verbreiteten Unmut über Normerhöhungen und eine miserable Versorgungslage. Am 28. Juni 1956 schlug in Posen ein Metallarbeiterstreik in offenen Aufruhr um.

Von Karl Friedrich Gründler | 28.06.2006
    Im Frühjahr 1956 ist die Führungsriege der kommunistischen Partei Polens (PVAP) nach dem Tod von Parteichef Boleslaw Bierut über den künftigen Kurs zerstritten. In der Bevölkerung herrscht große Unzufriedenheit angesichts von Misswirtschaft, niedrigen Löhnen und politischer Unterdrückung.

    Die Arbeiter der Posener Metallfabrik "Cegielski" beschweren sich seit dem Sommer 1955 immer wieder bei Betriebsleitung, Gewerkschaft und Partei. In der Produktion herrscht Leerlauf. Es mangelt an Blechen und Halbfertigteilen. Gleichzeitig steigen die Normen. Der Tischler Stanislaw Matyja erinnert sich:

    "Bislang konnte ich, wenn ich ordentlich gearbeitet habe 100 bis 150 Prozent Norm schaffen. Jetzt konnte ich nicht mal 70 Prozent Norm schaffen."

    Am 26. Juni 1956 fährt eine Arbeiterdelegation von "Cegielski" nach Warschau und erreicht beim Minister für Maschinenbau, Roman Fidelski, weitgehende Zugeständnisse: die Auszahlung einbehaltener Prämien und ein neues, gerechteres Lohnsystem. Am Tag darauf will der Minister bei einem Besuch in Posen davon nichts mehr wissen - und bringt damit das Fass zum Überlaufen.

    Am 28. Juni 6.00 Uhr früh verlassen Nacht- und Frühschicht ihr Werk und ziehen Richtung Innenstadt. Arbeiter aus benachbarten Betrieben und Passanten schließen sich an. Sie rufen Parolen wie:

    "Wir wollen Brot Wir wollen Freiheit! Weg mit den Normen! Weg mit den Blutsaugern! Weg mit den Bolschewiken!"

    Um 9.00 Uhr demonstrieren bereits 50.000 Menschen vor dem Gebäude des Stadtrates. Man will die Parteispitze aus Warschau sprechen. Doch kein leitender Funktionär lässt sich blicken. Aktivisten übernehmen Polizeiautos mit Lautsprechern und entwaffnen Milizsoldaten. Ein deutscher Aussteller auf der gerade stattfindenden Posener Messe beobachtet:

    "Und nun wurden ein Schlag nach dem anderen die Gebäude besetzt. Alle öffentlichen Gebäude, das Bürgermeisteramt, das Rathaus, der Rundfunk, der Störsender wurde zerstört, von oben nach unten gerissen, der war an einem Haus oben im vierten oder fünften Stock eingebaut. Das wird auf die Straße geworfen. Und jetzt zog man vor das Haus des so genannten Sicherheitsdienstes."

    Vor dem Gebäude des Sicherheitsdienstes Urzad Bezpieczenstwa, kurz UB genannt, schwenken zwei Straßenbahnerinnen die weißrote polnische Fahne als Symbol gegen das herrschende kommunistische Regime. Zunächst setzen die UB-Mitarbeiter Wasserwerfer gegen die Demonstranten ein. Ab 11.00 Uhr schießen sie scharf und verletzen die beiden Frauen mit der Fahne dabei schwer. Romek Strzalkowski, ein 13-jähriger Schüler, übernimmt das weißrote Tuch. Etwas später versucht er, von der Rückseite in das noch immer umkämpfte UB-Gebäude einzudringen und wird dabei verhaftet.

    Von einem Truppenübungsplatz außerhalb Posens werden um 14.00 Uhr Soldaten per Tagesbefehl in Marsch gesetzt.

    "Soldaten! Die Feinde unseres Vaterlandes: ausländische imperialistische Zentren und ihre Anhänger im Inland haben während der internationalen Messe ernsthaften Aufruhr in der Stadt Posen provoziert.... Davon zeugen Flugblätter in deutscher Sprache, die jetzt gestreut werden, Flugblätter, die von Faschisten gedruckt werden und die zum Auftreten gegen die eigene Nation aufrufen."

    Die Aufständischen übernehmen in der Stadt Panzer und gepanzerte Fahrzeuge der Miliz. Sie hoffen auf ähnliche Aktionen in anderen Städten und den Sturz des kommunistischen Regimes. Romek Strzalkowski, bis heute Symbolfigur für den Posener Aufstand, wird am späten Nachmittag von Krankenschwestern im UB-Gebäude aufgefunden, gefesselt an einen Stuhl und mit einem Schuss in die Brust getötet. Bis in den Morgen toben die Kämpfe zwischen den Arbeitern und den herangeführten Truppen.

    Deutscher Augenzeuge: "Es wurde richtig gekämpft, es wurde also mit Panzern beziehungsweise mit den Geschützen auf die Häuser geschossen, es flogen Häuser zusammen. Es flogen Türrahmen heraus, Fensterrahmen, also wie man es in einem Bürgerkrieg nicht anders sich denken kann. Die schossen von den Dächern, von den Häusern. Sie wurden dann verhaftet und die Leute wurden abtransportiert, Verwundete, Tote."

    Etwa 100 Menschen sterben bei der Niederschlagung des Aufstandes, über 700 werden verhaftet. Im September 1956 beginnen die Prozesse gegen 58 Angeklagte. Nach Unruhen in ganz Polen kommt im Oktober 1956 der Nationalkommunist Wladislaw Gomulka an die Macht. Er leitet wirtschaftliche Reformen ein, lässt eine begrenzte Meinungsfreiheit zu und stellt die Prozesse gegen die Posener Aufständischen ein.