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Bodycam, Titanhelm, Schutzweste
Wie sich Polizisten vor Angriffen schützen

Polizisten müssen sich viel gefallen lassen: Sie werden angepöbelt, bespuckt, getreten. Der Kriminalstatistik zufolge nehmen Angriffe auf die Beamten zu. Bundesjustizminister Heiko Maas will deshalb mit einer Gesetzesverschärfung den Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte härter bestrafen.

Von Philipp Schnee | 28.01.2017
    Zwei Polizisten präsentieren die neuen Bodycams: mit einem Monitor auf der Brust, einer Kamera auf der Schulter und dem Schriftzug "Videoüberwachung" auf dem Rücken
    Zwei Polizisten bei der Präsentation der neuen Bodycams. Sie sollen die Beamten vor Übergriffen schützen. (imago / 7aktuell)
    Bundespolizist Michael Wolf bewegt sich ruhig und gemächlich durch den Berliner Ostbahnhof. Breite Schultern, blaue Uniform: Er ist auf Streife. An der Brust trägt er ein kleines, schwarzes Kästchen.
    "Ich trage das eine Modell, das uns zur Verfügung steht, das ist die Reveal-Kamera, die zeigt dem Bürger ständig, dass die Kamera an ist, sie nimmt aber nicht auf. Dass ich sie wirklich eingestellt habe, ist in sechs Monaten zwei Mal passiert..."
    Wer ihm gegenübersteht, sieht sich selbst auf dem kleinen Display an Wolfs Brust, abgefilmt. Auf seinem Rücken trägt der Bundespolizist den Schriftzug: "Videoüberwachung".
    "Dadurch, dass ich sie jetzt ein halbes, dreiviertel Jahr trage, kann ich schon sagen, dass das Gewaltpotential, wenn mein Gegenüber die Kamera erkennt und sich selbst auch sieht im Display, schon sehr runterfährt. Natürlich ist es ein Unterschied, ob die Person alkoholisiert ist oder augenscheinlich Betäubungsmittel konsumiert hat."
    Seit einigen Jahren wird über zunehmende Gewalt gegen Polizeibeamte diskutiert. Sie werden mit Flaschen oder Steinen beworfen, getreten, angespuckt. Nun wird nach Lösungen gesucht, um die Gewalt einzudämmen. Die Bodycam, eine kleine, am Körper getragene Kamera, gilt als eine Art Wunderwaffe.
    "Ich spreche die Person kurz drauf an, sage ihm, dass ich meine Bodycam, die ich am Körper trage, jetzt einschalte, und er jetzt gefilmt wird bei seiner Aktion. In dem Moment schalte ich die Kamera aber schon ein. Jetzt würde die Kamera aufzeichnen."
    Pilotversuche in vielen Bundesländern
    Einige Bundesländer haben bereits Gesetze geändert, um den Einsatz von Bodycams zu ermöglichen. Pilotversuche gibt es in fast allen Ländern; in Hessen ist die Bodycam bereits im Regeleinsatz.
    "Die Bodycam ist für uns ein Schutz als Person, als Polizeibeamte, als Gefahrenabwehrmaßnahme für uns und dient auch dazu, Straftaten zu verfolgen und Straftaten aufzuklären. Zum Beispiel, wenn man im Nachhinein sehen kann, okay, wie kam es zu der Körperverletzung, wer hat den ersten Schlag getätigt. Dass es im Nachhinein nicht wieder heißt, die Polizei hat sich wieder abgesprochen gegen mich. Nein, es ist jetzt alles auf Band, auf Filmmaterial."
    Die Bodycam ist allerdings nicht der einzige Versuch, um Polizisten besser vor Angriffen und Gewalt zu schützen. Bundesjustizminister Heiko Maas will Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte schärfer ahnden und dazu den Paragrafen 113 des Strafgesetzesbuchs verschärfen und ausweiten.
    Als Argument für Bodycams und Gesetzesverschärfung wird immer wieder eine Zahl genannt: 64.000 Beamte wurden im Jahr 2015 Opfer von Gewalt, so steht es in der jüngsten Polizeilichen Kriminalstatistik. Die Polizeigewerkschaften erkennen darin ein drängendes Problem. Oliver Malchow ist Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei:
    "Ja, das fängt an mit der Beleidigung, geht weiter über die Körperverletzung, schwere Körperverletzung, bis hin zu Tötungsdelikten. Und anders als man es vielleicht immer vermutet: Es sind ganz häufig Angriffe, die unsere Kollegen in ihrem Berufsalltag erleben, also während der Streife, während sie eine Familienstreitigkeit schlichten, wenn sie einen Verkehrsunfall aufnehmen. Es sind gar nicht immer nur die Großereignisse, wo man auch Ausschreitung kennt zum Beispiel mit Demonstrationen, die dann eben gewalttätig verlaufen, sondern wir haben eine deutliche Zunahme, wo Kollegen und Kolleginnen des Streifendiensts Opfer von Straftaten werden."
    Kritik an Statistiken
    Trotzdem lohnt es sich, die Zahlen, die 64.000 Fälle, genauer anzuschauen: Rund zwei Drittel davon beziehen sich auf Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, und davon wird bereits gesprochen, wenn sich jemand beim Abführen gegen die Laufrichtung stemmt, in den Weg stellt oder mit Gewalt droht. Der Jura-Professor Clemens Arzt, der an der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin selbst Polizisten ausbildet, sieht die Statistik skeptisch:
    "Ja. Das ist eine wunderbare Zahl. Wenn Sie sich mal anschauen, wer zeigt eigentlich eine so genannte Widerstandshandlung gegen einen Polizeibeamten an? Wenn Sie als Bürgerin und Bürger der Auffassung sind, die Polizei sei übergriffig geworden, und zeigen Polizeibeamte an, können Sie so sicher wie das Amen in der Kirche auch davon ausgehen, dass Sie am nächsten Tag wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt angezeigt werden. Das ist eine absolut selbst indizierte und selbst induzierte Zahl der Polizei, die Polizei alleine hat es in der Hand zu dokumentieren, wie viel Widerstandshandlung es gegen Polizeibeamte aus ihrer eigenen Sicht gibt. Ein objektiver Indikator ist das nicht. Das heißt nicht, dass es nicht Widerstandshandlung gibt. Die Annahme, dass es in der Gesellschaft mehr Konfliktivität gibt, halte ich nicht für abwegig. Aber ich glaube, die Grundaussage, wir haben immer mehr Widerstandshandlungen, wir haben immer weniger Respekt vor der Polizei, das ist ja auch so ein Schlagwort der Gewerkschaften, lässt sich schwerlich belegen."
    Ähnlich argumentiert Tobias Singelnstein, Kriminologe und Jurist an der Freien Universität Berlin.
    "Die empirischen Befunde, die wir haben, sind sehr zwiespältig, auf der einen Seite Zunahme, auf der anderen Seite Abnahme. Auch was wir an empirischen Untersuchungen haben zu Gewalt gegen Polizeibeamte, lässt nicht ohne weiteres den Schluss zu, dass wir es hier mit einer erheblichen Zunahme zu tun haben. Auch muss man betonen, dass schwere Verletzungen von Polizeibeamten nach wie vor eine seltene Ausnahme sind. Was man aber vermutlich konstatieren kann und muss, ist, dass das gesellschaftliche Klima insgesamt rauer wird und dass Polizeibeamte das natürlich zu spüren bekommen und auch besonders zu spüren bekommen, stärker als andere Berufsgruppen."
    Stephan Harbarth ist stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Unionsparteien, zuständig für Innenpolitik und Recht. Er hält Bodycams ebenso wie Gesetzesverschärfungen für notwendig.
    "Das ist ganz eindeutig. Jeder Fall ist ein Fall zu viel. Wir sehen seit Jahren einen Anstieg bei den entsprechenden Delikten. Wir sehen das vor allen Dingen bei den Körperverletzungsdelikten. Das sind weiß Gott keine Kavaliersdelikte. Und deshalb sind wir der Auffassung, dass wir Maßnahmen brauchen, um sowohl durch eine Verschärfung des Strafrechts als auch durch den Einsatz sogenannter Bodycams unsere Polizistinnen und Polizisten vor solchen Angriffen in Zukunft besser zu schützen."
    Stephan Harbarth, stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag
    Stephan Harbarth, stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag: "Wir sehen seit Jahren einen Anstieg bei den entsprechenden Delikten" (picture alliance / dpa / Soeren Stache)
    Tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte soll Straftatbestand werden
    "Um das umzusetzen, werden wir einen neuen Straftatbestand schaffen im Strafgesetzbuch…"
    Bundesjustizminister Heiko Maas, SPD, bei der Vorstellung seines Gesetzentwurfs zur Ausweitung des Strafrechts-Paragrafen 113, der den Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte regelt. Dem Entwurf zufolge soll ein neuer Straftatbestand geschaffen werden: der tätliche Angriff auf Vollstreckungsbeamte. Damit sollen alle körperlichen Attacken auf Polizeibeamte im Dienst, auch im normalen Streifendienst, besser verfolgt und bestraft werden können. Der Strafrechtler Tobias Singelnstein hält diese Änderung für unnötig. Die bisherigen Regelungen und Gesetze seien ausreichend:
    "Ich schätze den Referentenentwurf als sehr problematisch ein. Erstens halte ich ihn für in der Praxis weitgehend sinnlos. Die Fälle, die von dem neuen Straftatbestand erfasst werden, werden auch heute schon weitestgehend von den Körperverletzungstatbeständen erfasst. Und dort haben wir Strafrahmen zur Verfügung, die ohne weiteres ermöglichen, den Unrechtsgehalt solcher Taten zu erfassen. Aus der Perspektive bräuchte es also überhaupt keine neuen Tatbestand."
    Singelnstein findet die geplante Gesetzesänderung bedenklich, weil seiner Meinung nach eine Verurteilung nur noch von der Tat- und Situationsbeschreibung der beteiligten Polizisten abhängen würde. Und: Die geplante Mindeststrafe von drei Monaten Gefängnis hält er für zu hoch.
    "Das bedeutet faktisch, dass schon das Schubsen eines Polizeibeamten zwingend zu einer Freiheitsstrafe führt. Der Richter hat gar nicht mehr die Möglichkeit auf mildere Sanktionen, also beispielsweise eine Geldstrafe zu verhängen, sondern er muss ein solches Verhalten mit Freiheitsstrafe ahnden. Und für ein Schubsen von Polizeibeamten eine Freiheitsstrafe von drei Monaten zu verhängen, ist aus meiner Sicht unverhältnismäßig."
    Tobias Singelnstein trifft mit dieser Kritik einen wunden Punkt des Gesetzesentwurfs. CDU-Politiker Stephan Harbarth rudert zurück, als er darauf angesprochen wird:
    "Also man kann sicherlich auch noch einmal darüber nachdenken, ob man als Korrektiv einen minder schweren Fall einführt, wie man das auch bei auch bei anderen Delikten hat. Da sind wir für die Diskussionen im parlamentarischen Verfahren offen."
    Wandel des gesellschaftlichen Bildes der Polizei
    Bei der geplanten Reform des Strafrechtsparagrafen 113 geht es auch um etwas sehr Grundlegendes, nämlich um das Verhältnis zwischen Polizei und Bürger. In der Begründung für das Gesetzesvorhaben heißt es, bisher komme "das spezifische Unrecht eines Angriffs auf einen Repräsentanten des staatlichen Gewaltmonopols nicht zum Ausdruck". Auch Oliver Malchow von der GdP sieht das so.
    "Natürlich wurde argumentiert, wenn jemand angegriffen wird, ist es ja möglicherweise eine Körperverletzung. Das stimmt. Aber wir sagen, derjenige, der da angegriffen wird, obwohl er gar nichts macht außer Streife zu gehen oder einen Verkehrsunfall aufzunehmen, der ist ja nicht als Person Oliver Malchow dort, sondern als Repräsentant des Staates. Und somit ist der Angriff auf diese Person auch ein Angriff auf den Staat. Und deswegen haben wir gesagt, muss ich auch ein besonderen Schutz geben."
    Ein besonderer Schutz – das war bislang genau umgekehrt. Der ursprüngliche Gedanke beim Paragrafen 113 war nämlich, dass dem Bürger, wenn er mit der Staatsgewalt, also der Polizei, konfrontiert wird, mehr zugebilligt wird, als wenn er mit einem Mitbürger in Konflikt gerät. Der Polizist war also ursprünglich als Repräsentant des staatlichen Gewaltmonopols schwächer geschützt, weil er eben dem Bürger als Staatsgewalt gegenübertritt.
    Dieser liberale Grundgedanke soll nun also umgekehrt werden: Aus dem "schwächeren" Schutz, weil der Polizist ein Repräsentant des staatlichen Gewaltmonopols ist, soll ein, "besserer Schutz" werden, eben weil der Polizist ein Repräsentant des staatlichen Gewaltmonopols ist. Unionspolitiker Stephan Harbarth:
    "Das ist, glaube ich, in der Tat ein gewisser Bewusstseinswandel, den wir hier verspüren. Wir sind der Auffassung, wer etwa einen Polizisten im Dienste angreift, der greift nicht nur ein Individuum an. Insofern hat der Angriff eine doppelte Stoßrichtung. Er richtet sich einerseits gegen das Individuum, andererseits gegen den Staat. Und dieser doppelte Unrechtsgehalt rechtfertigt es aus unserer Sicht, vom früheren Ansatz abzukehren."
    Auch der Strafrechtler Tobias Singelnstein erkennt hier einen Wandel:
    "Im Prinzip zeigt sich in der Gesetzgebungsgeschichte zum Paragrafen 113 StGB der Wandel des gesellschaftlichen Bildes von der Polizei. Ursprünglich war der Tatbestand als Privilegierung ausgestaltet, das heißt, er sollte den Bürger eine geringere Strafe zumuten, wenn er im Konflikt mit Polizeibeamten gerät. Heute hat sich dieses Verhältnis im Prinzip umgekehrt. Handlungen, die sich gegen Polizeibeamte richten, sollen besonders streng bestraft werden. Darin spiegelt sich natürlich wider, dass das Verhältnis von Bürger und Polizei in der Politik heute offensichtlich anders gesehen wird. Früher wurde der mündige Bürger, der unter Umständen, auch ein berechtigte Befürchtung gegenüber dem staatlichen Gewaltmonopol hat, gesehen. Heute sind es die Polizeibeamten, die als besonders schützenswert angesehen werden und denen ein höherer Schutz zugebilligt wird als normalen Bürgern."
    Polizisten und Gewerkschaften begrüßen Gesetzesverschärfung
    Polizisten und ihre Gewerkschaften haben schon lange für die Verschärfung des Paragrafen 113 plädiert. Die Bodycams hingegen, sie wurde in der Polizei, den polizeilichen Lobbygruppen, den Gewerkschaften, kontrovers diskutiert. Oliver Malchow, Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei:
    "Also wir selber waren zunächst sehr zurückhaltend, ob wir dieses Mittel eigentlich fordern sollten, weil wir selber aus der Ecke kommen: möglichst wenig Videografie, also wir sind ja auch beim Thema Videoüberwachung im öffentlichen Raum sehr zurückhaltend. Haben uns aber dann informiert über die Probeläufe, die in Hessen gelaufen sind, wo uns die Kollegen sagen, in dieser Einsatzkonzeption haben wir Aggressivität minimieren können. Und ich wüsste im Moment keinen, der sagt, dieses Einsatzmittel würden sie nicht haben wollen."
    Monitor am Revers einer Polizistin
    Auf einem Monitor auf der Brust der Polizisten zeigt ein Monitor, was die Kamera aufzeichnet. (dpa / Bernd Weißbrod)
    Im Frankfurter Stadtteil Alt-Sachsenhausen lief der erste Pilotversuch in Deutschland. Die Erfahrungswerte mit der Bodycam: Die Angriffe auf Polizeibeamte sind dort innerhalb eines Jahres von 40 auf 25 Fälle zurückgegangen. Das ist allerdings keine wissenschaftliche Auswertung, was auch Gewerkschaftschef Oliver Malchow einräumt.
    "Also valide erhoben ist das noch nicht. Das ist ja auch ein bisschen schwierig. Ich kann mich nur beziehen auf das, was meine Kollegen mitteilen, und die sagen eben, dass sie Rückgänge haben im Bereich der aggressiven Angriffe, wenn sie darauf hinweisen, dass jetzt das Verhalten aufgenommen wird und man bei Straftaten dieses dann auch ins Strafverfahren mit einfließen lässt. Da gibt es Rückgänge. Und wenn es diese gibt und meine Kollegen das schildern, dann ist das ein guter Effekt."
    Diskussionen über Datenschutz
    Kontrovers diskutiert wird aber nicht nur die Effektivität der Bodycams. Auch was den Datenschutz betrifft, gibt es noch viele ungeklärte Fragen. Schließlich werden nicht nur Täter gefilmt, sondern häufig auch unbeteiligte Personen. Die Bodycam führt zu einer Ausweitung der Videoüberwachung im öffentlichen Raum. Und darf die Bodycam bald auch in Privatwohnungen filmen, wenn Polizisten dort im Einsatz sind? Clemens Arzt, der als Sachverständiger in mehrere Landtage eingeladen wurde, hat noch weitere Bedenken:
    "Die Bodycam wird aus meiner Sicht sehr häufig eingesetzt dafür, vorgezogen Strafverfolgung zu betreiben, will heißen, man filmt bereits jemanden, weil man fürchtet, er könnte eine Straftat begehen, aber hat noch nicht mal ein Anfangsverdacht. Das ist rechtlich unzulässig."
    Strittig ist auch: Was passiert mit dem Filmmaterial? Wer hat Zugriff? Eindeutig ist der Fall, wenn die Polizei einen Angriff auf einen Beamten feststellt: Die Filmaufnahme wird gespeichert und dient als Beweis in einem Strafverfahren gegen den Angreifer. Was aber, wenn ein Fehlverhalten des Polizisten dokumentiert worden ist?
    "Was kein Land vorsieht, und daran nehme ich wirklich deutlich Anstoß, ist: eine klare verfahrensrechtliche Regelung, dass auch der Aufgenommene noch eine Chance hat, auf diese Aufnahmen hinterher zugreifen zu können. Also wenn Sie mit erfahrenen Strafverteidigerinnen und Strafverteidigern sprechen, wo es um Sachverhalte um Konfrontation von Bürger und Polizei geht, werden Sie sehen, dass selbst wenn Aufnahmen gefertigt wurden, eigentlich immer dann, wenn es spannend wird aus Sicht der Verteidigung, die Kamera aus ist oder gerade keine Bilder liefert."
    Clemens Arzt fordert daher klare gesetzliche Regelungen, wie der Betroffene auf das von der Polizei gefilmte Material zugreifen kann.
    Die Polizei rüstet sich gegen Gewalt – nicht nur mit Bodycams und der geplanten Verschärfung des Paragrafen 113. Hinzu kommen Titanhelme in jedem Streifenwagen, gepanzerte Fahrzeuge für den Terroreinsatz, schusssichere Westen auf Streife.
    "Ich glaube, die Polizei selbst tut sich keinen Gefallen mit der unentwegten Aufrüstung von Polizei. Heute sehen Sie kaum noch einen Polizeibeamten ohne Schutzweste. Das kann ich auf der einen Seite verstehen, aus Sicht des Polizeibeamten, der nicht in seiner körperlichen Integrität verletzt werden will. Aber wenn wir wollen, dass Polizei und polizeiliche Maßnahmen von einem Großteil der Bürger akzeptiert werden..."
    ... dürfe sich die Polizei nicht in ihr Schneckenhaus zurückziehen, so Arzt:
    "Mit Schutzweste, aufgemuckelt mit immer mehr protektiver Ausrüstungen, mit immer besserer Bewaffnung und jetzt mit der Bodycam, dann glaube ich nicht, dass wir uns in eine gute Richtung bewegen."
    Polizeieinsatz am Hamburger Kulturzentrum "KoZe": Mit zwei Hundertschaften, Wasserwerfern und Räumfahrzeugen wurden Bauarbeiten geschützt; Aufnahme vom 27. Juli 2015
    „Ich glaube, die Polizei selbst tut sich keinen Gefallen mit der unentwegten Aufrüstung", sagt Jura-Professor Clemens Arzt. (picture alliance / dpa)
    "Ich glaube, wenn man wirklich etwas bewirken will, dann muss man sich das Verhältnis von Polizei und Bürger etwas grundsätzlicher anschauen und dann muss man in Richtung einer Bürgerpolizei gehen. Momentan tun wir in Politik und Polizei eher das Gegenteil. Das sind alles Entwicklungen und Tendenzen, die eher nicht geeignet sind, diese Eskalationsspirale im Verhältnis von Bürger und Polizei umzudrehen, sondern sie eher befeuern."
    Aufrüstung statt "Bürgerpolizei"?
    "Bürgerpolizei" – so hieß in Deutschland lange Jahre das Leitbild der polizeilichen Arbeit. Die Beamten sollten dem Bürger zugewandt sein und wenig autoritär oder abschreckend auftreten. Ein Leitbild, das auch Polizeigewerkschafter Oliver Malchow unterstützt. Und trotzdem plädiert er für die Aufrüstung:
    "Auf dem Weg zu einer Bürgerpolizei haben wir uns ja ganz viel Mühe gegeben, auch eben mit offenem Visier und Freundlichkeit und fast auf Augenhöhe dem Bürger zu begegnen. Das heißt ja, indem man Distanz auflöst und näher an den Bürger heranrückt, ist man natürlich auch verwundbarer. Das kann ich mittlerweile aber gar nicht mehr, oder immer seltener, weil ich angegriffen werde. Und Angriff bedeutet, auf Distanz zu gehen. Und das führt zum Beispiel auch dazu, dass man bei Einsatztrainings wieder mehr auf das Thema Distanz geht und Schutzausstattung. Wir haben die Diskussion um Schutzwesten, wir haben die Diskussion um Körperkameras. Die sind alle entstanden aus dem Thema: Wir werden angegriffen, wir sollen uns aber sehr zurückhaltend verhalten, im Sinne von Rechtsstaatsprinzip, aber das geht so nicht weiter, weil wir verletzt werden."
    Zurück am Berliner Ostbahnhof. Bundespolizist Michael Wolf, selbst ausgerüstet mit Schutzweste und Bodycam, kennt Konfliktsituationen, Provokationen und Respektlosigkeiten aus seinem Streifenalltag:
    "Gewaltdelikte erlebt man häufiger, gerade in den Nachtstunden am Wochenende, Freitag-, Samstag-, Sonntagnacht. Das Gewaltpotential des Bürgers gerade in den Nachtstunden, wenn Betäubungsmittel und Alkohol mit ins Spiel kommen, ist schon sehr hoch."
    Titanhelme, Westen und Bodycams bieten einen gewissen Schutz. Doch Michael Wolf weiß, dass es noch etwas anderes braucht, um viele Angriffe und Eskalationen zu verhindern: Menschenkenntnis und die Bereitschaft zur Kommunikation.
    "In 90 bis 95 Prozent der Fälle kann man schon sehr gut abfangen, wenn man sich mit den Personen unterhält, die Person darauf hinweist, was es für Konsequenzen haben kann. Und dann sieht man auch schon den Prozess im Kopf bei ihnen, dass es rattert, dass sie ein bisschen runterfahren. Das funktioniert nicht bei allen, aber bei 95 Prozent schon!"