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Böse Geister scheuen das Licht

Norwegen erlebte am 22. Juli 2011 seine größte nationale Tragödie: 77 Menschen werden von Anders Behring Breivik kaltblütig erschossen. Nun steht dem Täter, der nach eigener Aussage Norwegen und Westeuropa unter anderem vor der muslimischen Dominanz retten wollte, der Prozess bevor.

Von Marc-Christoph Wagner | 15.04.2012
    Erik Sønstelie:

    "In den norwegischen Volksmärchen, die ein so integraler Teil unserer Kultur sind, spielen Trolle eine wichtige Rolle - sie sind das Böse und Zerstörerische, vor dem wir uns am meisten fürchten. Wie Albträume kommen sie zu uns des Nachts, in der Dunkelheit entfalten sie ihre Kräfte. In der Helligkeit des Tages hingegen fallen sie in sich zusammen und können uns Menschen nichts anhaben. Genauso sehe ich Breivik und all das, was er getan hat. Wir müssen ihn konfrontieren, müssen ihn in das Licht der Öffentlichkeit ziehen. Ansonsten bleibt er ein Dämon, der über sich selbst hinauswächst und uns als Gesellschaft mit seiner Bösartigkeit infiziert. Genau das eben, was wir Norweger alle fürchten und nicht wollen."

    Diese Worte - sie dürften Erik Sønstelie nicht leichtfallen. Gewiss, als Journalist ist er es gewohnt, zu beurteilen, die Dinge beim Namen zu nennen, in der Öffentlichkeit zu stehen. In diesem Falle aber ist er selbst Betroffener, denn seine Tochter Siri befand sich am 22. Juli 2011 auf Utøya. Jene Insel nicht weit von Oslo, die sich an eben diesem Tag von einem 'Paradies zur Hölle‘ wandeln sollte, wie es der norwegische Ministerpräsident Jens Stoltenberg am Tag nach der Tat formuliert.

    Der Vormittag des 22. Juli. Im strömenden Regen besucht die frühere norwegische Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundlandt die auf Utøya versammelten Jungsozialisten, die sich im Haupthaus der Insel bei Musik und Gesang versammelt haben. Eine der Teilnehmerinnen, Frida Moberg, erinnert sich:

    "Ich hatte mich riesig auf Gro gefreut, sie ist ein großes Vorbild. So grausam der Tag endete, so fantastisch begann er. Wir waren glücklich, jung, wir genossen das Leben auf Utøya. Die Stimmung war fantastisch, trotz des Wetters."

    Auch Gro Harlem Brundlandt genießt die Stimmung auf Utøya. Kurz bevor sie die Insel am frühen Nachmittag wieder verlässt, wird sie von einem Kamerateam des norwegischen Fernsehens interviewt:


    Gro Harlem Brundlandt: "Es ist immer wieder inspirierend, hier zu sein, es macht Freude, diesen Jugendlichen zuzuhören und mit ihnen zu diskutieren."
    Reporterin: "Haben sie das Zeug zum Politiker?"
    Gro Harlem Brundlandt: "'"Sie alle haben es. Sonst wären sie nicht hier.""

    Als die von Anders Behring Breivik im Osloer Regierungsviertel platzierte Bombe um 15:25 Uhr explodiert, befindet sich Brundtland bereits wieder auf dem Heimweg. Unter den Jusos auf Utøya macht die Nachricht vom Anschlag in der Hauptstadt schnell die Runde, doch niemand vor Ort wähnt sich selbst in Gefahr. Frida Ripland Moberg:

    "Wir befanden uns doch am wahrscheinlich sichersten Platz der Welt. Gut, ganz kurz ging es mir durch den Kopf: was, wenn etwas passiert? Wenn so was in Oslo geschehen kann, dann doch eigentlich auch hier. Aber ich hab' den Gedanken sofort verworfen, denn er war doch absurd."
    Gegen 17:00 Uhr aber wird das Undenkbare Realität. Breivik setzt verkleidet als Polizist auf die Insel über und beginnt mit seiner Jagd auf die mehr als 550 hier versammelten Menschen. Augenzeugen erinnern sich:

    Rebecca Hennum:

    "Wir saßen unter einem Dach im Zeltlager und hatten gerade angefangen, Karten zu spielen, als wir diese Geräusche hörten. Es war unangenehm, ich hatte solche Geräusche noch nie gehört - als ob man auf jemanden einschlagen würde, es klang sehr hohl. Wir sagten: Was ist das: Feuerwerk, Chinakracher, Schwarzpulver?"

    Frida Ripland Moberg:

    "Dann fingen alle an zu rennen - hin zu den Zelten, durch das Lager, wir alle rannten und sprangen in Panik."


    Torbjørn Vereide:

    "Schließlich war da ein Mann in Polizeiuniform, der sagte, wir sollten herauskommen. Ich stand auf und viele andere taten das auch - und er begann zu schießen. Anfangs waren wir etwa 30 Jugendliche, die da am Ufer standen. Kurz darauf waren wir nur noch fünf, sechs, die im Wasser schwammen. Er feuerte so schnell in so kurzer Zeit."

    Ingvild Stensrud:

    "Nach sehr heftigen Salven erschoss er einen nach dem anderen - ganz in Ruhe. Er schaute genau, wer sich bewegte und noch am Leben war. Mein Körper war nahezu ganz von dem eines anderen Mädchens verdeckt, ich selbst war am Bein getroffen. Ich lag ganz still und wartete darauf, dass es vorbei sein würde. Ihn nachladen zu hören, das war der schlimmste Augenblick meines Lebens."

    Bischof Ole Christian Kvarme:

    "Wir sind ein Volk in Trauer. Wir sind so wenige in diesem Land, jeder Gefallene ein Bruder oder Freund. Der 22. Juli 2011 wird in die Geschichte eingehen als unser Karfreitag. Ein ganzes Volk hat Schwestern und Brüder, Familienmitglieder und Freunde verloren bei dieser unfassbaren Schandtat im Osloer Regierungsviertel und beim Massaker auf Utøya. Wir sind ein Volk in Trauer."

    77 Menschen insgesamt verlieren am 22. Juli 2011 ihr Leben - acht im Osloer Regierungsviertel, 69 auf Utøya. Ganz Norwegen ist schockiert, die Osloer Innenstadt verwandelt sich in ein Meer von Blumen, die Rede ist vom größten Trauma seit dem 09. April 1940 - ein Datum, das in Norwegen bis heute jedes Kind kennt: Es steht synonym für die Besatzung der jungen Nation durch Hitler-Deutschland während des Zweiten Weltkrieges. Dieses Mal aber kommt der Feind nicht von außerhalb, sondern mitten aus der norwegischen Gesellschaft, aus gutem oder doch zumindest wohlsituiertem Hause. Er ist blond, blauäugig und - skrupellos, wie der Spiegel in seiner Onlineausgabe bereits am Tag nach dem Attentat titelt. Der norwegische Schriftsteller Erik Fosnes Hansen schreibt in einem Essay:

    Mit einem gewissen Recht sind wir in diesem Land stolz darauf, dass die Menschen einander so nah sind. Offenbar jedoch nicht nah genug. Dieser Mensch hat unter uns gelebt, ist auf dieselben Schulen gegangen, geprägt von gemeinsamen Werten, informiert von denselben Medien, und dennoch: Er ist von seinen Landsleuten derart weit entfernt, dass er nicht zu uns gezählt werden kann, dass wir seinen Namen nicht nennen wollen, dass die Verkäufer in den Läden wochenlang die Zeitungsstapel umdrehten, weil sie den Anblick seines Gesichts nicht ertrugen.

    Der 22. Juli schweißt die Norweger noch weiter zusammen. 200.000 Menschen versammeln sich drei Tage nach den Anschlägen auf dem Osloer Rathausplatz, halten Rosen in die Höhe, stehen Seite an Seite. Redner - unter ihnen Kronprinz Haakon und der Vorsitzende der norwegischen Jusos, Eskil Pedersen, der die Tragödie auf Utøya hautnah miterlebte - appellieren an die Nation:

    "Heute Abend sind die Straßen erfüllt von Liebe. Wir haben uns entschieden, Grausamkeit mit Nähe zu beantworten, Hass mit Einheit zu konfrontieren. Wir wollen zeigen, wofür wir stehen."

    Eskil Pedersen:

    "Wir erleben eine nationale Tragödie, die uns schwer getroffen hat. Hass ist ein naheliegendes Gefühl. Rachegelüste sind eine natürliche Reaktion. Aber wir Norweger wollen nicht hassen, und wir werden uns nicht rächen."

    Schon bald aber werden Großmut und Liberalität der Norweger auf die Probe gestellt. Das Bild eines selbstzufriedenen Breivik, der im gepanzerten Fahrzeug zur ersten Anhörung vor Gericht gefahren wird, provoziert. Ungläubig folgt die verletzte Nation einem Richter des Osloer Gerichtes, als der die Motive des Attentäters referiert. Kim Heger:

    "Wenn es das Gericht richtig verstanden hat, meint der Angeklagte, dass er seine Aktion durchführen musste, um - Zitat: Norwegen und Westeuropa unter anderem vor Kulturmarxismus und muslimischer Dominanz zu retten - Zitat Ende. Ziel des Attentats war es, ein deutliches Signal an das Volk zu senden. Der Angeklagte wollte der Arbeiterpartei den größtmöglichen Schaden zufügen, um die Rekrutierung neuer Mitglieder zu verhindern. Der Angeklagte meint, die Arbeiterpartei habe das Land und das Volk verraten, und dafür habe sie nun den Preis zahlen müssen."

    Breivik sieht sich als moderner Kreuzritter, gibt sich als Kommandant eines konspirativen und weitverzweigten Untergrunds, zusammengeschweißt durch einschlägige Chatforen im Internet, und: Er stellt neue Aktionen von Gleichgesinnten in Aussicht. Vor Gericht wird er auf Freispruch plädieren, denn, Zitat Breivik: Er habe aus Notwehr gehandelt.

    Ist es ein Verblendeter, der so spricht, gar ein Verrückter? Oder aber ein kaltblütiger Rechtsextremist, der seine zynische Tat über Monate, vielleicht sogar Jahre hinweg nüchtern plante? Selbst Breiviks Anwalt Geir Lippestad findet zunächst keine eindeutige Antwort:

    Vier Monate nach den Anschlägen fällen zwei renommierte Gutachter ein eindeutiges Urteil: Breivik ist geisteskrank - er war es vor der Tat, während der Tat und er ist es nach wie vor. Eine Diagnose mit weitreichenden Folgen, denn sollten die Richter dem Votum der Psychiater folgen, käme Breivik nicht ins Gefängnis, sondern in die Therapie - und könnte so unter Umständen schon nach wenigen Jahren wieder auf freiem Fuß sein. Die Norweger sind fassungslos:

    Zitat Erik Fosnes Hansen:

    Für nahezu alle war es eine Überraschung, ja, fast ein Schock. Nicht zurechnungsfähig im Sinne des Strafrechts? Die Diagnose der Gerichtspsychiater ging rasch von Mund zu Mund, an Arbeitsplätzen, in Geschäften, in den sozialen Netzwerken. Politiker und Kommentatoren waren überrascht, und vor allem waren es die Medien. Seit vier Monaten herrscht allseits Konsens darüber, dass Anders Behring Breivik zwar verwirrt, aber doch zurechnungsfähig sein muss. Auch die von den Medien für Vorabdiagnosen engagierten Experten hatten sich so geäußert.

    Doch kann wahr sein, was in den Augen vieler nicht wahr sein darf? Ist der Kaiser von Norwegien, als den der Schriftsteller Erik Fosnes Hansen Breivik in seinem gleichnamigen Essay bezeichnet, möglicherweise wirklich verrückt? War nicht gerade erst bekannt geworden, dass Breivik ein ganzes Jahr zuvor einen Koffer im Wald vergraben hatte mit Utensilien, die er bei den Anschlägen verwendete? Deutet nicht alles darauf hin, dass Breivik über Jahre hinweg äußerst rational zu Werk gegangen war? Zu Jahresbeginn bestellt das Osloer Gericht ein zweites psychiatrisches Gutachten, das am vergangenen Dienstag, sechs Tage vor Prozessbeginn, übergeben wird und das - verglichen mit dem ersten Gutachten - zu einer diametral entgegengesetzten Schlussfolgerung kommt:

    Die Gutachter hegen nicht den geringsten Zweifel an Breiviks Zurechnungsfähigkeit. Aber was nun? Die beiden Berichte, zusammen mehr als 550 Seiten stark, sind zweifellos die gründlichste rechtspsychiatrische Untersuchung in der norwegischen Rechtsgeschichte, geschrieben von vier anerkannten Experten, die zu ganz und gar gegensätzlichen Schlussfolgerungen kommen. Wie sollen wir - die Öffentlichkeit - nun damit umgehen?

    Diese Frage - aufgeworfen im Leitartikel der renommierten Tageszeitung Aftenposten am vergangenen Mittwoch - diese Frage müssen nun die Richter beantworten. Folgen sie dem zweiten Gutachten, könnte der wegen Terrorismus angeklagte Breivik zu einer lebenslänglichen Haftstrafe, das heißt zu 21 Jahren Gefängnis, verurteilt werden. Eine Anklage wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurde zuletzt wieder verworfen. Doch es gibt noch andere Fragen, die die Norweger verstören, und die wohl auch der Prozess erneut aufwerfen wird. Hätten die norwegischen Behörden nicht früher auf den Sonderling Breivik aufmerksam werden müssen? Warum hat der Geheimdienst nicht auf Breiviks Aktivitäten im Internet reagiert, insbesondere als dieser Chemikalien im Ausland bestellte? Vor allem aber wie konnte es passieren, dass Breivik auf Utøya ungehindert morden konnte und dabei aus einem Hubschrauber gefilmt wurde, während es Polizei und Spezialeinheiten nicht gelang, auf die Insel überzusetzen? Eine Überlebende, die sich in einem der Gebäude auf Utøya verbarrikadiert hatte, erinnert sich:

    Frida Ripland Moberg:

    "Wir waren still. Mein Überlebensinstinkt sagte mir, du musst jetzt still sein - du kannst nicht lachen, heulen oder um dein Leben rennen, du musst still sein und warten. Es fühlte sich an, wie eine Ewigkeit - wir hörten den Helikopter, Sirenen, Boote die ganze Zeit über, eine Dreiviertelstunde lang, was weiß ich. Aber es kam niemand."

    In den Tagen und Wochen nach dem 22. Juli des vergangenen Jahres wies die norwegische Regierung kritische Fragen zurück, der Justizminister bescheinigte den Behörden einen einwandfreien Einsatz. Inzwischen ist der Minister nicht mehr im Amt, der norwegische Nachrichtendienst hat einen neuen Leiter, die Polizei musste im März schließlich doch Fehler eingestehen, für die sich ihr Chef Øystein Mæland öffentlich entschuldigte:

    "Jetzt, wo wir den Tathergang auf Utøya im Detail kennen, können wir nur erahnen, was die Jugendlichen vor Ort und ihre Angehörigen durchleben mussten. Jede Minute war eine Minute zu viel. Es ist eine schwere Last zu wissen, dass Menschenleben hätten gerettet werden können, wenn wir den Täter früher gestellt hätten."

    Einer dieser Angehörigen ist der Journalist Erik Sønstelie, dessen Tochter Siri sich ebenfalls auf Utøya befand. Siri hat überlebt, doch noch immer kommen ihrem Vater die Tränen allein bei dem Gedanken, er hätte sie am 22. Juli des vergangenen Jahres verlieren können. Der Prozess gegen Breivik ist wichtig, sagt Sønstelie, ein Schlussstrich aber wird und darf das für Ende Juni erwartete Urteil gegen Breivik nicht sein. Staat, Regierung, Gesellschaft - jedermann müsse sich fragen, wie es zu der Tragödie habe kommen können und wie man eine solche Tat in Zukunft verhindern will. Denn die bösen Geister, sie bleiben - in den Volksmärchen wie auch als Teil jeder Gesellschaft. Allein das Licht der Öffentlichkeit vertragen sie nicht - so jedenfalls die Hoffnung:

    "In den Tagen nach dem 22. Juli standen wir Norweger Seite an Seite und traten ein für mehr Demokratie, Offenheit und Zusammenhalt. Für mich persönlich - als Vater, Bürger und Journalist - müssen diese Werte, müssen Meinungsfreiheit und Offenheit, nun ihren eigentlichen Test bestehen."

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