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Boko Haram ist wie ein Gespenst

In Nigeria wächst vor allem unter den Christen die Angst vor der islamistischen Terrorgruppe Boko Haram, die inzwischen weite Teile im Norden des Landes erobert hat. Die Regierung scheint dem Terror hilflos gegenüber zu stehen.

Von Katrin Gänsler |
    Gut 100 Frauen, Männer und Kinder sind am Sonntagmorgen in die katholische Marienkirche von Kano gekommen. Diese liegt im Herzen von Sabon Gari, dem christlichen Viertel der Stadt, wo sich eine Kirche an die nächste reiht. Sonntags herrscht hier eigentlich reges Treiben. Doch seit den verheerenden Anschlägen der islamistischen Sekte Boko Haram Ende Januar regiert die Angst in Sabon Gari. Um den Christen zumindest ein bisschen Sicherheit zu geben, lässt der Pfarrgemeinderat nun jeden kontrollieren, der sich der Kirche nur nähern will. Dafür zuständig ist Benjamin Erumeh, der einen großen Metalldetektor in den Händen hält.

    "Überall herrscht diese Unsicherheit. Vielleicht schickt uns Boko Haram jemanden. Jeder könnte eine Bombe mitbringen. Deshalb kontrollieren wir auch jeden."

    Ganz gleich, ob junge Mutter, alter Mann oder Kleinkind: Benjamin Erumeh tastet jeden sorgfältig ab. Auch Kirchenbesucher Donatus Enyuma lässt sich bereitwillig in alle Hosentaschen greifen. Die Kontrolle ist für den jungen Mann traurige Selbstverständlichkeit geworden. Donatus Enyuma:

    "Kein Problem. Das dient unserer Sicherheit und hat mit der momentanen Situation in Nigeria zu tun. Die Mitglieder von Boko Haram greifen meistens die Kirchen an. Deshalb sind die Kontrollen wichtig für uns. Und wenn die Kontrolleure nicht hier wären, würden die Terroristen einfach kommen. Wir wissen ja, was schon alles passiert ist."

    Der junge Mann schüttelt traurig den Kopf und denkt an das, was sich in den vergangenen Wochen in Kano abgespielt hat. Alleine am Abend des 20. Januar sind 186 Menschen bei mehreren Explosionen in der ganzen Stadt ums Leben gekommen. Es dauerte Tage, um die vielen Leichen zu bergen. Noch heute erinnern ausgebrannte Gebäude an die schrecklichen Stunden. Auch Musa Abdulllahi, Leiter des Roten Kreuzes in Kano, kann all das noch gar nicht richtig begreifen.

    "Ja, das ist wirklich das Schlimmste, was ich je in Kano erlebt habe. Ich war traurig und geschockt. Natürlich werden wir bei Seminaren darauf vorbereitet. Aber das ist ja nicht die Wirklichkeit. Die haben wir jetzt erlebt. Das war nicht einfach für uns. Es war eine schreckliche Erfahrung."

    Seitdem ist in Kano nichts mehr so, wie es einmal war. Abends gilt ab 18 Uhr eine Ausgangssperre. An jeder Straßenecke stehen Polizisten. Trotzdem kommt es weiterhin zu Schießereien. Menschen, die einst wegen der guten Handelsmöglichkeiten nach Kano kamen, sind zurück in ihre Heimat gegangen. Viele von ihnen sind Christen, die aus dem Südosten Nigerias stammen und Sorge vor erneuten Anschlägen haben. Auch Donatus Enyuma, der sich nun einen Sitzplatz in der Marienkirche sucht, hat schon mit dem Gedanken gespielt. Er stammt aus dem Bundesstaat Cross River an der Grenze zu Kamerun.

    "Meine Familie macht mir viel Druck. Heute Morgen hat meine ältere Schwester angerufen und gesagt, ich soll nach Hause kommen. Aber man muss sich vorbereiten. Viele haben kein Geld, um überhaupt die Bustickets zu bezahlen. Man muss viele Dinge klären. Erst dann kann man umziehen."

    Nigeria quält indes eine ganz andere Frage: Wer ist überhaupt Boko Haram? Zwar spricht jeder über die islamistische Sekte, deren Name übersetzt "Westliche Bildung ist Sünde" bedeutet. Doch wer tatsächlich hinter der Gruppe steckt, scheint niemand zu wissen. Auch Muzzammil Sani Hanga, Generalsekretär des Rates der islamischen Rechtsgelehrten Nigerias, zuckt mit den Schultern.

    "Niemand wird sagen, wer Boko Haram ist (Gelächter). Das ist die schwierigste Frage überhaupt. Man sieht Boko Haram nicht selbst. Man hört nur von ihnen. Niemand kann zum Beispiel sagen: Das ist ihr Anführer. Trotzdem werden Menschen verhaftet, die zum Beispiel Sprecher der Gruppe sein sollen. Später stellt man fest, sie haben nichts mit Boko Haram zu tun. Dann wieder äußern sich Menschen im Namen von Boko Haram in den Medien, obwohl sie gar nicht zu der Bewegung gehören."

    Ziemlich ahnungslos scheint auch die Regierung um Präsident Goodluck Jonathan zu sein. Viele ihrer Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung – etwa die unzähligen Straßensperren – wirken hilflos und fast ein wenig lächerlich. Das mag auch daran liegen, dass die Politiker offensichtlich eins noch gar nicht richtig begriffen haben. Boko Haram kämpft nicht nur – wie oft dargestellt wird – für eine Islamisierung Nigerias. Stattdessen demonstriert die Gruppe auch mit aller Macht, wie wütend sie über die miserable Regierungsführung ist. Muzzammil Sani Hanga:

    "Die ganze Sache ist viel größer, als man anfangs dachte. Die Mehrheit der Menschen gehört natürlich nicht zu Boko Haram. Aber jeder Nigerianer wird heute sagen, dass er nicht zufrieden mit der Entwicklung des Landes und der Regierung ist. Und diese Einstellung schwächt die Regierung. Sie will zwar kämpfen, hat aber gar nicht mehr genügend Unterstützung in den eigenen Reihen."

    Boko Haram hat im Norden aber noch etwas anderes geschafft. Die Gruppe hat überall Misstrauen gesät. Auch Benjamin Erumeh ist skeptisch geworden. Nachdem er die letzten Gottesdienstbesucher kontrolliert hat, sagt er:

    "Sogar wir Christen trauen uns nicht mehr gegenseitig. Wir wissen nicht, wer wer ist. Wir vertrauen niemandem mehr, wirklich niemandem. Nicht einmal unserem Priester. Deshalb kontrolliere ich auch ihn. Das ist die Wahrheit. Boko Haram kann sich jeden kaufen. Wir haben kein Vertrauen mehr in andere."