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Bolivien
Die Straße der Hexen

Schamanen, Heilkundler und alternative Apotheker - zu beiden Seiten der Calle Linares in der bolivianischen Hauptstadt La Paz findet man sie. Im Angebot: magische Lösungen für Alltagsprobleme und Existenzsorgen.

Von Michael Ebmeyer | 07.07.2019
Touristen vor einem Geschäft in der Calle Linares.
In La Paz sind die Straßen wie vor Jahrhunderten immer noch nach Zünften aufgeteilt (Deutschlandradio/Michael Ebmeyer)
Steil und eng sind die Gassen in der Innenstadt von La Paz. Das Zentrum der bolivianischen Metropole liegt um die 3.600 Meter über dem Meeresspiegel. Wer hier flanieren möchte, sollte längere Verschnaufpausen einplanen. Gegen die Höhenkrankheit hilft ein Tee aus Cocablättern. Er hat keine Drogenwirkung, aber er stärkt Kopf und Körper für den eigentlichen Zauber.
In gewisser Weise scheint in diesen Straßen vor Jahrhunderten die Zeit stehen geblieben zu sein. So wie einst sind sie nach Zünften aufgeteilt. Die Zünfte aber sind sehr wohl mit der Zeit gegangen. In einer Gasse gibt es nur Elektroartikel, Laden reiht sich an Laden mit Lampen, Glühbirnen, Steckdosen, Kabeln, Schaltern, Batterien.
In der nächsten Gasse wird ausschließlich Sanitärbedarf angeboten. Wir steigen noch höher. Bis zur Calle Linares, das ist die Straße der Hexen.
"Casa Esotérica Doña Carmen, Mano poderosa Veronica, Su tienda ancestral Ángel de la Guardia, Casa Esotérica Pachamama …"
So heißen hier die Geschäfte. Esoterikhaus, Zauberkräftige Hand, Ihr Laden mit der Weisheit der Ahnen. Mit grell bunten, verlockend unübersichtlichen Auslagen reihen sie sich aneinander, zu beiden Seiten der Calle Linares mit ihrem welligen Kopfsteinpflaster und auch um die Ecke in der Calle Sagárnaga. Besonders auffällig: die getrockneten Lamaföten, die hier überall hängen. In allen Größen, manche noch im Embryostadium, manche offenbar kurz vor der Geburt gestorben. Und hinter jeder der Ladentheken sitzt eine Frau.
Blick auf die Hauptstadt Boliviens, La Paz.
Blick auf die Hauptstadt Boliviens, La Paz (picture alliance / dpa)
Margarita: "Geschäftsfrau bin ich. Händlerin für medizinische Kräuter, Opfergaben…"
Rosa: "Wir verkaufen hier nur Naturprodukte. In Form von Sirup, von Salben, von Ölen. Wir verkaufen auch Tische für die Pachamama. Bolivianische Tradition, Mesa Pachamama heißt das."
Vom Coca-Tee bis zum Amulett mit dem Kondor
Die Pachamama ist die Mutter Erde in den alten Kulturen der Anden. Wer nicht am Leben scheitern will, sollte sich mit der Pachamama gut stellen und ihr regelmäßig opfern. Was man dazu braucht, findet man im Kiosk der jungen Doña Rosa oder in einem der größeren Läden, zum Beispiel in dem von Doña Margarita. Tienda de Saumerios steht bei ihr auf dem Schild - Geschäft für Räucherwaren. Darunter aber auch noch eine Liste mit weiteren Angeboten.
"Ofrendas Mesas dulces para la Pachamama, Casa, Movilidades, Empresas, Minas, Construcciones, Trabajo, Salud, Dinero, Amor, Estudio etc."
Und klar, auch den Coca-Tee können wir hier kaufen oder zum Beispiel ein Amulett mit dem Kondor - der ist als Gott der Höhe für das Glück der Reisenden zuständig. Aber was ist das für ein Gewerbe, das die Frauen in diesen Läden in der Calle Linares betreiben?
Margarita: "Es gibt die Bezeichnung K’apachaquera. Die K’apachaqueras verkaufen Opfertische, Räucherwerk, Bäder, Seifen, solche Dinge."
Doch eine K’apachaquera wie Margarita verkauft nicht nur; sie berät und heilt auch.
Margarita: "Ich als K’apachaquera, ich helfe den Leuten, allen helfe ich. Wenn jemand krank wird, schlechte Luft abbekommt, schlechten Wind ins Gesicht, dann helfe ich auch in diesen Dingen. Auch wenn bei den Leuten das Geschäft nicht gut läuft, dann helfe ich ihnen damit."
Heilkundlerin und alternative Apothekerin. Dazu magische Lösungen für Alltagsprobleme und Existenzsorgen. Doña Margarita ist eine imposante Erscheinung. Aber woher hat sie das Wissen, das sie als K’apachaquera braucht?
Margarita: "Ich bin die dritte Generation. Meine Großeltern haben schon hier verkauft, meine Großmütterchen. Damals waren es noch kleine Verkaufsstände. Dann haben meine Eltern damit weitergemacht und jetzt ich. Schon als Kind habe ich meinen Großeltern zugeschaut, später meinen Eltern. Ich bin damit aufgewachsen und habe es seit meiner Kindheit gelernt. Schon seit über 30 Jahren bin ich nun selbst hier, seit 32, 35 Jahren. Meine Mutter ist auch immer noch weiter im Geschäft."
"Die machen auch schwarze Magie. Wir nicht"
Herrscht denn nicht große Konkurrenz zwischen all den Läden in der Calle Linares?
Margarita: "Nein, denn jeder Laden ist anders. Alle haben verschiedene Angebote. Aber die meisten hier in der Straße sind bloß Anfängerinnen. Solche wie mich gibt es sonst nicht, denn ich arbeite seit meiner Kindheit hier. Mit acht, neun Jahren lebte ich schon in dieser Straße."
An Kundschaft mangelt es nicht. Es werden sogar immer mehr, sagt Margarita. Denn die Naturmedizin ist im Aufwind. Und die alten Traditionen, sich mit der Pachamama und anderen Naturkräften gut zu stellen, werden in Bolivien ohnehin leidenschaftlich gepflegt. Für die meisten hier sind sie auch kein Widerspruch zur katholischen Religion: Die Pachamama verschmilzt mit der Muttergottes und die alten Opferbräuche mit kirchlichen Ritualen.


Margarita: "Es gibt den Tisch für die Pachamama, den weißen Tisch für die Gesundheit, den schwarzen gegen Missgunst, Hexerei, bösen Zauber, und es gibt den Tisch des Gedeihens, damit es in der Liebe oder in der Ehe gut klappt. Das sind die vier Typen von Mesas, die wir anbieten."
Getrocknete Lamaföten werden in der Calle Linares häufig verkauft.
"Der Lamafötus ist ein Bote, er weist uns den Weg, damit es dir gut geht, damit du eine glückliche Zukunft hast", sagt die Verkäuferin Doña Margarita (imago images / Design Pics)
Kommen denn auch Leute, die Schaden nicht abwenden, sondern selbst jemand anders Schaden zufügen wollen?
Margarita: "Die kommen auch, aber das machen wir nicht. Das machen die Kallahuallas und Curanderos, die machen auch schwarze Magie. Wir nicht."
Die Kallahuayas und Yatiris, das sind die Schamanen in der Kultur der Quechua und der Aymara. Doch die Kallahuayas leben nur in einem bestimmten Dorf, eine halbe Tagesreise entfernt. Und um echte Yatiris zu treffen, müssten wir noch weiter kraxeln . hinauf in die einstige Vorstadt El Alto, die auf über 4.000 Metern Höhe liegt und mittlerweile größer ist als La Paz selbst. Das schaffen wir heute nicht mehr. Aber nach den Lamaföten wollen wir noch fragen.
Vom Lamafötus zum Lamasutra
Margarita: "Der Lamafötus, das ist eine uralte Tradition. Das haben schon unsere Ahnen vor sehr langer Zeit getan. Der Lamafötus ist ein Bote, er weist uns den Weg, damit es dir gut geht, damit du eine glückliche Zukunft hast. Deshalb verwendet man ihn. Einen kleinen für zu Hause. Wenn Sie aber ein Haus bauen oder ein anderes Gebäude, dann nehmen Sie ein großes Lama und begraben es im Fundament, damit in diesem Gebäude keine Unfälle passieren, damit es keine Probleme gibt, und nicht zuletzt, damit der Bau schnell fertig wird."
Der Lamafötus, auch sullu genannt, ist, flapsig gesagt, ein Lieblingsessen der Pachamama. Er wird nicht nur in Grundmauern eingesenkt, sondern ist ebenso fester Bestandteil der verschiedenen mesas, also Brandopfer-Tische, wie sie Doña Margarita zuvor aufgezählt hat. Die Nachfrage nach den Föten ist entsprechend riesig. Trotzdem beteuern alle in der Calle Linares, es handele sich ausschließlich um natürliche Aborte, kein Lama werde für die Rituale gewaltsam getötet. Nun ja…
Wir wenden uns talwärts, steigen auf der anderen Seite des Hügels hinab. Hier geht die Zunft der Heilerinnen und Hexen nahtlos über in die Zunft der Souvenirhändler. Vom Lamafötus zum Lamasutra sind es nur ein paar Schritte. Das Lamasutra ist ein beliebtes T-Shirt-Motiv in den Andenkenläden. Sie können sich sicher denken, für welche Art der Illustration das kleine Andenkamel da herhalten muss.