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Boris Blachers "Die Flut"
Kleine Bühne, viel Bewegung

Mit der Reithalle hat die Bayerische Staatsoper einen alternativen Aufführungsort gefunden, der ideal zur sehr experimentellen Form von Boris Blachers Kammeroper "Die Flut" passt. Mit diversen Video-Einwürfen und im Publikum verteilten Statisten ist die Darbietung ebenso anstrengend wie anregend.

Von Jörn Florian Fuchs | 07.07.2014
    Die ukrainische Dirigentin Oksana Lyniv in Aktion.
    Mit der jungen Dirigentin Oksana Lyniv ist die musikalische Leitung in kompetenten Händen. (picture-alliance / dpa - Ronald Wittek)
    Schon beim Betreten der Reithalle flimmern einem lautlose Videos entgegen, auf neun Leinwänden sieht man nervöse Menschen und eine Vielzahl unklarer Dinge. Ganz in der Mitte, auf einem leicht erhöhten Podest, sitzen Mitglieder von Orchester und Chor der Bayerischen Staatsoper. Stühle gibt es kaum, etwas ratlos läuft man hin und her, da geht plötzlich das Licht aus.
    Eine sonore Stimme aus dem Lautsprecher erzählt mit altmodischem Pathos eine tragische Geschichte über ein Unglück, das offenbar schon lange zurück liegt und immer noch Auswirkungen auf die Gegenwart hat. Wenig später wird dies ganz real spürbar, eine junge Frau, ein junger Mann und ein Bankier lassen sich von einem alten Fischer jenes einst überspülte Wrack zeigen, von dem vorher die Rede war. Auf einmal setzt erneut die Flut ein und bringt die Protagonisten in prekäre physische und vor allem psychische Zustände, die auch dann noch bleiben, als das Wasser letztlich zurückweicht.
    Sehen kann man das nicht wirklich, man versteht es aber durch Boris Blachers mit breitem Pinselstrich erzeugte Bögen, die zeitweise hektisch durchrhythmisierte Textur, die expressiven Gesangslinien. Blachers 1946 uraufgeführte Kammeroper besitzt viel vom Kolorit der Zeit, schaut indes auch mal zurück ins 19. Jahrhundert, dann wieder ein wenig voraus zu Schostakowitsch. Der Stoff stammt von Guy de Maupassant, Heinz von Cramer hat ihn in gut singbares, obgleich recht pathetisches Deutsch übertragen.
    Turbulente Viehversteigerung
    Vier frische, bestens disponierte Stimmen (herausragend Iulia Maria Dan als Mädchen) erfüllen das Stück mit vokalem wie szenischem Leben, gespielt wird auf einer sehr kleinen Bühne, die sich sanft durch den Raum bewegt. Auch sonst ist vieles in Bewegung, Videokünstler Aernout Mik recycelt zwar schon vorhandenes Material, doch das meiste passt gut zu Blachers Stück.
    Zu sehen sind – vermutlich – eine turbulente Viehversteigerung, ein völlig außer Kontrolle geratener Börsentag mit wild herum liegenden Papieren und Börsianern, eine Art Happening mit turnenden und hüpfenden Hippies. Wie in den verrätselten Fotografien von Jeff Wall, bleibt auch bei Aernout Mik vieles bewusst undeutlich. Der suggestiven Kraft tut dies keinen Abbruch. Manchmal werden Bildwelt und Handlung gekoppelt, manchmal sind es zwei völlig autonome Ebenen.
    Man wandert also umher, schaut dort hin, geht da hin, immer auf der Suche nach Sinn und Verstehen. Dass auch der übrige Teil des Publikums mit wandert, versteht sich von selbst. Doch warum läuft dem Rezensenten dieser junge Mann in kurzer Hose und mit Sportschuhen schon das zweite Mal in exakt derselben Pose hinterher? Das wirkt ja fast wie eine Choreografie!
    Statisten im Publikum
    Und warum legt er sich jetzt mitten auf den Boden, etwa weil die hervorragende junge Dirigentin Oksana Lyniv dem Blech einen harten Signalton entlockt? Und wieso sinken justament noch zwei Dutzend andere Personen sanft zu Boden?
    Allmählich begreift man, dass Aernout Mik sich keineswegs nur auf Videos und die sich bewegende Bühne verlässt, unters Premierenpublikum mischt er diverse Statisten, die in Tanzbewegungen verfallen, sich in seltsamen Posen an die Wand lehnen, zeitweise auch einfach gar nichts tun, aber das sehr auffällig.
    Mehr und mehr entsteht ein multidimensionaler Spiel-Raum, bei dem gar nichts mehr klar ist, der einen kreativ verwirrt, bis nach nur einer Stunde alles einfach zu Ende ist. Der Handlung folgte man da bereits nicht mehr so ganz, zu viel gab es abseits des Kampfes der Figuren mit ihren inneren und äußeren Fluten zu entdecken.
    Möglich wird solch ein intensives Erlebnis auch deshalb, weil die Bayerische Staatsoper mit der Reithalle einen alternativen Aufführungsort gefunden hat, der ideal zu experimentellen Formen passt. Vor kurzem zeigte Krzysztof Warlikowski dort sein viereinhalb stündiges "Warschauer Kabarett", eine dunkle Revue der Begierden und Sehnsüchte, in zwei Wochen wird das Opernprojekt "Zeisls Hiob" uraufgeführt.
    Mit Blachers "Flut" ist den Münchner Opernfestspielen ein ebenso anregender wie anstrengender Abend gelungen, eine spannende Ergänzung zum eher kulinarischen Programm im Nationaltheater.