Freitag, 19. April 2024

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Boris-Vian-Übersetzer
Aus Familie Ponteauzanne werden die Brettevorcoppes

Wie übersetzt man französische Wortspiele? Und wie bringt man Boris Vians nonsenshaften Humor unbeschadet ins Deutsche? Frank Heibert hat Vians Liebes- und Schreckensklassiker "L'Écume de jours" neu übersetzt - als "Die Gischt der Tage". Im Dlf spricht er über typisch französische Fallstricke.

Frank Heibert im Gespräch mit Dina Netz | 25.09.2017
Der Übersetzer, Autor und Musiker Frank Heibert auf der Lit.Cologne 2015
Wie man Französisch so übersetzt, dass es auf Deutsch funktioniert - unter anderem darüber spricht Übersetzer Frank Heibert im Vorfeld der Buchmesse. (picture alliance / dpa / Horst Galuschka)
Dina Netz: Und heute mit nur einem einzigen Gast, denn der hat viel zu erzählen. Frank Heibert heißt er und ist, neben vielen anderen Dingen, die er tut, Übersetzer, aus dem Englischen, Italienischen, Portugiesischen und Französischen. In dieser Funktion will ich ihn heute befragen, im Hinblick auf die Frankfurter Buchmesse, deren Ehrengast in diesem Jahr, also in zwei Wochen, Frankreich sein wird. Frank Heibert wird mir Auskunft geben über eine aktuelle Neuübersetzung von ihm: Boris Vian, "Die Gischt der Tage", Verlag Klaus Wagenbach. Und wer jetzt stutzt, stutzt zu Recht, denn dieser Roman, ein Klassiker der französischen surrealistischen Literatur, hieß auf Deutsch bisher meistens "Der Schaum der Tage". Auch darüber wird zu reden sein. "L'Écume des jours", 1947 veröffentlicht, ist wohl das bekannteste Buch von Boris Vian. Es geht darin, sehr kurz gesagt, um zwei junge Liebespaare, deren Liebe keine Chance hat – ein Roman voller Sprachspiele und Phantasiegebilde. Hören wir den Anfang in der Neuübersetzung von Frank Heibert, in dem wir eine der Hauptfiguren kennenlernen: Colin, den Dandy und bald großen Liebenden:
"Colin beendete seine Toilette. Nachdem er dem Bad entstiegen war, hatte er sich ein üppiges Frotteehandtuch umgeschlungen, nur die Beine und der Oberkörper schauten heraus. Nun nahm er den Zerstäuber vom gläsernen Regal und versprühte duftendes Öl auf seinen hellen Haaren. Sein Bernsteinkamm teilte die seidige Masse in lange orange Strähnen, ähnlich den Furchen, die der Fröhliche Landmann mithilfe einer Gabel durch Aprikosenkonfitüre zieht. Colin legte den Kamm zurück, rüstete sich mit dem Nagelschneider und schnitt seine matt glänzenden Augenlider schräg zu, das gab seinem Blick etwas Geheimnisvolles. Sie wuchsen schnell nach, daher musste er sie oft zurückschneiden. Sodann schaltete er die kleine Lampe des Vergrößerungsspiegels ein und näherte sich, um den Zustand seiner Epidermis zu prüfen. Um die Nasenflügel sprangen ihm einige Mitesser entgegen. Als sie im Vergrößerungsspiegel sahen, wie hässlich sie waren, verkrochen sie sich schnurstracks wieder unter der Haut, und Colin löschte befriedigt die Lampe."
Den Surrealismus humoristisch eins weitergedreht
Der Anfang von Boris Vians Roman "Die Gischt der Tage" – in der deutschen Fassung von Frank Heibert. Herr Heibert, Vielleicht müssen wir zunächst klären, warum "L'Écume des jours" 1947 so ein Erfolg war: Da kam in der düsteren Nachkriegszeit ein junger, 26-jähriger Autor und veröffentlichte einen Roman über einen jungen reichen Mann, der sich in eine zauberhafte Frau verliebt, die beiden heiraten. Die Welt, in der sie leben, ist märchenhaft und verspielt, da kommen Aale aus dem Wasserhahn, eine sprechende Maus leistet dem Paar Gesellschaft. Und mit genau demselben Genuss, mit dem Vian diese Welt aufbaute, zerstörte er sie wieder – am Ende sind alle tot. Warum war dieser Roman in dieser Zeit so erfolgreich?
Frank Heibert: Ja, das ist schon der erste Punkt, über den man reden muss, denn er war zu Beginn gar nicht so erfolgreich. Es war so, dass er seiner Zeit voraus war. Also, der Surrealismus war ja aus der Vorkriegszeit eine relativ klare Sache und wurde eigentlich nicht so eingesetzt, wie Vian das gemacht hat. Also Vian hat ja noch mal den Surrealismus auch humoristisch eins weitergedreht. Das ist das eine, und das andere ist, dass, glaube ich, die Zerstörung dieser wunderschönen Welt, die er da aufbaut, der nihilistische Anteil dieses Buches, dass der ziemlich verstörend ist, und der kam 1947 noch gar nicht so gut an. Richtig erfolgreich wurde das Buch tatsächlich erst nach Vians Tod in den 60er-Jahren. Also, Vian ist Ende der 50er gestorben, und erst danach in Richtung 68 und Studentenrevolution wurde er wirklich erfolgreich.
Netz: Und da war "Der Schaum der Tage" oder "Die Gischt der Tage", wie auch immer, dann auch tatsächlich das Buch dieser Generation. Reden wir mal über heute: Was macht "L'Écume des jours" heute noch so reizvoll, dass der Wagenbach Verlag sich jetzt sogar für eine Neuübersetzung entschieden hat? Ist es die verspielte, surreale Welt, die phantasievolle Sprache oder auch die Gesellschaftskritik, die Vian in dem Buch ja auch sehr heftig übt? Was meinen Sie?
Ein Autoritätenhasser demontiert Säulen der Gesellschaft
Heibert: Ich glaube, es ist natürlich alles auf einmal, weil es miteinander verflochten ist. Es gibt zwei Dinge, die wirklich den Ausschlag geben, warum dieses Buch nicht altert. Auf der einen Seite ist es tatsächlich der unglaublich charmante Reiz dieser Verspieltheiten, dieses teilweise nonsenshaften und teilweise eben durchaus sinngebenden Humors und Sprachspielhumors, und das andere ist die Tatsache, dass Boris Vian ein ganz zutiefst überzeugter Autoritätenhasser ist. Das heißt, er demontiert wirklich die ganzen Säulen der Gesellschaft: die Kirche, den Staat, die Steuerbehörde, die Ärzte, also eigentlich alle.
Netz: Die Pfarrer!
Heibert: Natürlich auch die kulturellen Idole wie Jean-Paul Sartre, der da ausführlich auseinandergenommen wird.
Netz: Als Jean-Sol Partre.
Heibert: Genau, also Jean-Sol Partre, ganz genau. Ich glaube, dass das einfach unwiderstehlich wirkt auf jüngere Leser, die eben auch Autoritäten infrage stellen und infrage stellen wollen und auf alle die Leser, die sich das behalten haben, auch wenn sie älter geworden sind. Also diese Eigenschaft eben, Dinge infrage stellen zu wollen und Autoritäten nicht einfach so zu übernehmen.
Wie man "Charme und Nihilismus" zusammenbringt
Netz: Idealerweise funktioniert das Buch also auch heute noch bei allen! Ihr Nachwort, Herr Heiber, ist "Charme und Nihilismus" überschrieben, und damit umreißen Sie das größte Problem, vor das Sie diese Neuübersetzung jetzt gestellt hat, denn so zärtlich Boris Vian diese zauberhafte Welt der Liebenden aufbaut, so gnadenlos zerstört er sie anschließend wieder. Wie haben Sie denn diese beiden Romanteile zusammengehalten?
Heibert: Ich frage mich immer, wenn ich einen Roman zu übersetzen habe, aus welcher Haltung heraus die Erzählerstimme uns überhaupt diese ganze Geschichte erzählt. Was will der Erzähler in uns bewegen und auslösen. Wenn man den Liebesgeschichtenteil nimmt, den charmanten, den ideal-schönen, klar, dann charmiert einen das, und dann ist es alles wunderbar, aber man kriegt nicht wirklich einen Grund dafür, klar, warum das dann auseinandergenommen werden muss, und irgendwann fiel mir auf, dass es eben keine Liebesgeschichte ist, in der psychologisch die Figuren erklärt werden und aufgefächert werden, sondern es steht da, Colin will sich verlieben, und am nächsten Tag verliebt er sich, Punkt. Da wird nichts erklärt, das wird gesetzt. Mir fiel auf, dass das im Grunde genommen ist wie im Märchen. Da wird etwas einfach behauptet, gesagt, und dann ist es so, und dann nimmt man das auch so hin, und plötzlich passte alles zusammen, denn wir kennen ja auch, dass im Märchen, eben mit der Gnadenlosigkeit wie Kinder Fliegen Flügel ausrupfen, halt einfach plötzlich alles wieder auseinandergenommen wird und dann kaputt geht. Das ist einfach so, das wird nicht thematisiert, infrage gestellt oder sonst wie. Es wird so gesetzt, und damit passt es zusammen. Das ist eine Haltung, aus der heraus das ganze Buch lief, und ergänzen kann man es – dann wird es ein modernes Märchen – eben durch die Sozialkritik, die Gesellschaftskritik, die darin steht, die natürlich jetzt nicht in allen Märchen, die wir kennen, gleichermaßen vorhanden ist. Das ist klar.
Direktheit, mit der Vian hinstellt, was ist
Netz: Aber was hat Ihnen da, Herr Heibert, denn diese Erkenntnis, dass das Buch ein modernes Märchen ist, für das Übersetzen geholfen?
Heibert: Na ja, wenn ich mich entscheide, wie ich Wörter wähle, wie ich Sätze baue, was für einen Ton ich dem Text gebe, dann bin ich auf einem ganz anderen Gleis, wenn ich versuche, so eine psychologische Plausibilität der Ereignisse durch die Adjektive, wenn jemand beschrieben wird, wie er etwas tut, durch die Redeweisen oder so, wenn ich da also versuche, psychologisch plausibel zu bleiben, dann gestalte ich das ganz anders als wenn ich eben sage, nein, es hat eher so eine naive Direktheit ganz oft, in der einfach hingestellt wird, was ist, und das kann dann ruhig auch einen Moment lang einen überraschen als eine neue Information, die nichts vorbereitet hat. Genau das geht im Märchen, das ginge in einem psychologisch plausibel angelegten, eher realistischen Text eben nicht.
Netz: Eine andere große Herausforderung sind sicher die Sprachspiele gewesen, auf die Sie schon zu sprechen gekommen sind vorhin. Vian macht das ja zum Teil aus Lust am sprachlichen Quatsch, zum Teil dann aber auch wieder mit sehr gelehrten Assoziationen, die weit in die Literaturgeschichte ausgreifen. Vor allem Letztere kann man jetzt schlecht analog ins Deutsche übertragen. Wie sind Sie denn mit diesen Sprachspielen, mit diesem Spielerischen umgegangen?
!!Heibert:! Zunächst mal habe ich genau die Unterscheidung getroffen, die Sie auch gerade getroffen haben, nämlich zu schauen, geht es um Nonsens, und wenn ich das zu übersetzen habe, dann bin ich natürlich kreativ ziemlich frei, etwas zu nehmen, was im Deutschen eben auch auf nonsenshafte Weise ulkig und irgendwie charmant wirkt nach meiner Auffassung. Wenn es aber Bezüge gibt, die in irgendeiner Weise bedient werden müssen, dann muss ich mir auch klar machen, okay, was soll das hier an dieser Stelle genau bewirken, wie wichtig ist die präzise Unterlegung mit dieser Bedeutung. Also muss man eben wissen, dass Jean-Sol Partre Jean-Paul Sartre ist – klar, da brauch ich nur die Buchstaben umzudrehen, das kann ich im Deutschen auch prima –, aber es gibt ja auch manchmal Fälle, wo das nicht unbedingt so präzise so sein muss, wo die Wirkung eher ist, da wird jetzt mit was Gelehrtem gespielt, und dann nehme ich was anderes Gelehrtes, wenn die deutsche Sprache mir das anbietet.
Wie übersetzt man Wortspiele?
Netz: Haben Sie dafür vielleicht mal einen griffiges Beispiel?
Heibert: Mit dem Gelehrten jetzt gerade nicht aus dem Ärmel, aber mit den Namenwortspielen. Vian hat Spaß dabei, telling names, also sprechende Namen zu benutzen, wo eben das Wort, was den Namen ausmacht, auch eine Bedeutung hat. Es gibt die reiche Familie Ponteauzanne, und die ist eben ein Begriff: Pont aux Ânes, also Brücke für Esel wörtlich gesagt, Eselsbrücke, es ist aber nicht nur die im Deutschen bekannte Eselbrücke, sondern es heißt auch so was wie Binsenwahrheit oder einfach eine Erkenntnis, die einem vor der Nase liegt, die man aber irgendwie nicht sieht, weil man gerade auf dem Schlauch steht oder so. Es ist natürlich lustig, wenn so eine edle reiche Familie so einen Namen trägt, und deswegen habe ich beschlossen, ich will die telling names übersetzen. Ich will sie aber gleichzeitig nicht ins Deutsche übersetzen, denn das spielt ja schließlich in Frankreich, und dann ist ein deutscher Nachname irgendwie komisch.
Im Deutschen heißt die Familie Bretteforcoppe
Netz: Eselsbrücke wäre komisch.
Heibert: Genau! Die Familie Eselsbrücke wäre sehr merkwürdig. Deswegen habe ich beschlossen, weil das auch zum Vian’schen Humor mir zu passen scheint, dass ich mir überlege, welche deutschen Formulierungen ich nehme, die man erkennen können soll. Ich schreibe sie dann aber so auf wie sie geschrieben werden müssten, damit ein Franzose sie korrekt deutsch ausspricht. Also die Familie heißt bei mir jetzt Brettvorkopp, und das wird aber so geschrieben, also eben Brett mit tte und dann Doppelname, zweite Hälfte forcoppe. Irgendwann wird es jeder Leser merken und dann natürlich auch amüsiert sein, und ich denke, das ist derselbe Amüsement-Effekt wie es im französischen Original dann auch ist.
Neuübersetzung bei besserer Quellenlage
Netz: Herr Heibert, Sie haben also, mit anderen Worten, versucht, so witzig zu sein wie Boris Vian – das ist ehrgeizig! Es gab ja eine auch schon kanonisierte Übersetzung von Antje Pehnt von Boris Vians "Der Schaum der Tage". Was haben Sie denn insgesamt genommen anders gemacht?
Heibert: Es sind ganz verschiedene Dinge. Also tatsächlich bin ich bei den Sprachspielen anders vorgegangen. Also das mit den Namen hat sie anders gelöst. Dann muss man sagen, dass viele der Andeutungen und der Doppeldeutigkeiten, und was da alles so abgerufen wird, durch die Pléiade-Ausgabe, die Frau Pehnt damals noch gar nicht hatte, erläutert werden und dass ich dann natürlich mehr Möglichkeiten hatte, die präziser umzusetzen, und vom Ton her, glaube ich, ist tatsächlich einerseits das Märchenhafte vielleicht anders, und andererseits wechselt Vian in seinem Ton zwischen einer gewissen Umständlichkeit zu einer episch ausufernden und manchmal auch ironischen ausufernden Sprache und andererseits zu einer Direktheit, und das ist, wenn ich mir die alte Übersetzung angucke, da nicht so unterschieden voneinander, sondern das verfließt ein bisschen ineinander, und das verliert deswegen so ein kleines bisschen für mich die Tonlagenspezifik, die Vian eigentlich hat.
Warum "Gischt" und nicht "Schaum der Tage"?
Netz: Sprechen wir noch über den Titel. Der Roman ist ein Klassiker der Moderne, wie Sie selbst im Nachwort schreiben. Er hieß auf Deutsch fast immer "Der Schaum der Tage". 2013 ist das Buch noch von Michel Gondry verfilmt worden, deutscher Titel des Films: "Der Schaum der Tage". So einem kanonisierten Text mit einem neuen Titel zu versehen, das ist ja schon mutig. Warum war das aus Ihrer Sicht nötig und zutreffend vor allem?
Heibert: Einerseits aus rein bedeutungsmäßigen Gründen. Das französische Wort écume hat ein weiteres Bedeutungsfeld, als im Deutschen ein Wort hätte. Also im Französischen ist es einfach Schaum und Gischt gleichzeitig, sodass man sich da entscheiden muss. Dann habe ich überlegt, okay, was assoziiere ich denn, wenn ich Schaum höre, und da assoziiere ich eine ganze Menge Dinge vom Badeschaum bis hin zum Schaum vor dem Mund – alles Dinge, die mit dem Buch eigentlich nicht unbedingt was zu tun haben. Schaum vor dem Mund ist pathologisch und Badeschaum ist irgendwie gemütlich, lauwarm, zum Entspannen. Das ist alles in dem Buch da nicht, aber was in dem Buch los ist, ist tatsächlich, dass die Leben verfliegen, im Winde verfliegen und zerfetzt werden so wie das passiert mit der Gischt, die wir am Meeresufer sehen. Es gibt im Buch selber nur eine einzige Stelle, wo das Wort écume in seiner Adjektivform vorkommt: écumeux, und das ist tatsächlich so eine etwas allegorische Passage am Meeresstrand, wo genau die Wellen, die da kabbelig sind, das Unstete im Meer und dann tatsächlich eben auch das Gischtige beschrieben werden, sodass ich das Gefühl hatte, es passt wirklich viel besser, es ist ein weniger abgenutztes Wort, Gischt. Es hat auch diese gewisse Schärfe mit dem I-Laut, einfach ischt-Laut, und das passt für mich schon auch zu diesem nihilistischen Aspekt, der in der Rezeption ja eigentlich oft lieber ausgeblendet wird. Man redet lieber von der wunderschönen Liebesgeschichte und erinnert sich an die, und dass das alles so gnadenlos am Schluss wirklich vor die Wand gefahren wird, was einen echt auch erschüttern kann, das gerät so ein bisschen in den Hintergrund, und das darf es eigentlich nicht, weil es im Grunde schon im ersten Drittel mit Vorboten anfängt und dann später eben tatsächlich immer konsequenter in die Schwärze führt, und das wollte ich so ein kleines bisschen dann auch in dem Titel aufgehoben wissen.
Französische Literatur drechselt und spielt viel mehr
Netz: Herr Heibert, ich habe Sie heute nicht nur in den "Büchermarkt" eingeladen, um über Boris Vian, "Die Gischt der Tage", zu sprechen, sondern auch, um über das Übersetzen aus dem Französischen allgemein zu reden. Jetzt ist Vian sicher ein besonders schwieriger Fall wegen des spielerischen Umgangs mit der Sprache. Was sind denn generell die Fallstricke beim Übersetzen aus dem Französischen?
Heibert: Ich würde sagen, zwei Dinge: Das eine ist, dass die französische Literatur oder Kultur im Allgemeinen sogar, wenn man das Theater noch mit dazu nimmt, immer sehr sprachbezogen war. Also man kann sagen, bei den Theaterstücken spielt die Sprache auch immer mit eine Rolle auf der Bühne. Die steht da sozusagen als Figur mit drauf. Das heißt, da wird viel mehr mit Sprache gearbeitet, gespielt, es wird gedrechselt und gemacht. Das ist also was ganz anderes als bei dem normalen, zum Beispiel, englisch-amerikanischen guten Erzählen, flüssigen Erzählen. Das ist eine Herausforderung für die Übersetzung, weil man gucken muss, dass der deutsche Text dann eben auch die gleiche Wirkung hat. Weil wir das im Deutschen in anderer Weise machen, darf man es nicht überziehen, sonst wird es künstlich im Deutschen, und das wäre schade, weil die Wirkung im Original, im Französischen, ja durchaus eben nicht immer künstlich ist.
Französische Sätze muss man immer umstellen
Das ist das eine. Das andere ist, dass die französische und die deutsche Syntax, also der Satzbau, anders funktionieren. Die Betonungen liegen woanders. Also im Deutschen gibt es so die Regel, je weiter zum Schluss des Satzes hin, desto wichtiger ist die Information. Im Französischen konzentriert sich das eher in der Mitte, und am Anfang und am Ende, wo im Deutschen die Betonungen liegen können, da sind eher ausgegliederte Ortsangaben, Zeitangaben, solche Dinge, weil man die wegen der mangelnden Deklination der Substantive nicht im Satz unterbringen könnte, ohne dass es schwierig wird. Und deswegen muss man aufpassen, dass man nicht am Satzbau entlang, am französischen Satzbau entlang die deutschen Sätze baut, weil man sonst andere Betonungen und andere Schwerpunkte ins Deutsche fabriziert, sondern eben die Sätze immer umstellt. Man muss sie eigentlich praktisch immer umstellen. Wenn man so beim Übersetzen ist, gerade in der ersten Fassung, dann ist es immer verlockend, dass man so am Satz entlang übersetzt, und dann steht es eben doch da, weil es im Deutschen durchaus ja auch möglich ist, und dass die Betonung ein bisschen woanders landet, müsste man dann im ersten Überarbeitungsgang merken, und hoffentlich merkt man es dann auch, aber das ist wirklich immer wieder ein Fallstrick, bei dem man einfach vorsichtig sein muss.
Wie geht Übersetzen zu zweit?
Netz: Apropos erster und zweiter Arbeitsgang: In diesem Sommer ist gerade auch Ihre Übersetzung von Yasmina Rezas neuem Roman "Babylon" erschienen. Sie haben das Buch zusammen mit Hinrich Schmidt-Henkel übersetzt. Wie muss ich mir denn gemeinsames Übersetzen vorstellen? Macht da einer die erste Fassung und der andere die zweite?
Heibert: Das machen wir unterschiedlich, je nachdem, was das Buch am ehesten nahelegt. Manchmal gibt es verschiedene sprechende Figuren. Also bei dem Reza-Buch davor, "Glücklich die Glücklichen", gab es ja ganz viele Figuren, die immer einzelne Kapitel hatten, da haben wir uns die aufgeteilt, wer Lust hatte, welche Stimme zu übernehmen, Manchmal teilen wir uns auch das Buch auf und sagen, okay, Hälfte, Hälfte, und vor allem ist der Punkt aber, dass wir sehr, sehr sorgfältig, und dann wirklich auch in Sitzungen am selben Tisch und nicht nur per E-Mail hin und her, überarbeiten und besprechen, wie wir dafür sorgen können, dass der Ton tatsächlich einheitlich wird, und da wir Frau Rezas Ton mittlerweile schon seit 2001 übersetzen, kennen wir sie schon ganz gut. Das geht also gut. Man muss das aber wirklich sorgfältig tun, und wenn es schwierig zu werden droht nach der ersten Lektüre, dann muss man tatsächlich, finde ich, ein Kapital vorab übersetzen, jeder für sich, und dann vergleichen, wie das war, und dann eben vorab drüber sprechen, worauf man achten muss, damit es ein einheitlicher Ton wird.
Übersetzer wird zur deutschen Stimme des Autors
Netz: Jetzt übersetzen Sie, Herr Heibert, nicht nur gemeinsam, sondern auch noch aus verschiedenen Sprachen. In diesem Sommer ist auch der neue Roman von Richard Ford in Ihrer Übersetzung erschienen, "Zwischen ihnen", also völlig verschiedene Autoren, aus verschiedenen Sprachen. Wie gehen Sie da ran – bekommen Sie die Aufträge so rechtzeitig, dass Sie die in aller Ruhe nacheinander bearbeiten können, oder müssen Sie auch schon mal zwischen, zum Beispiel, Yasmina Reza und Boris Vian hin- und herswitchen, was ich mir nicht so einfach vorstelle?
Heibert: Also switchen mach ich nicht, weil der Punkt ist ja, ich werde zu dieser deutschen Stimme für die Zeit, die ich an dem Buch arbeite. Ich muss mich da reinversetzen, ich muss in die Haut des Erzählers, der Erzählerin schlüpfen und das einfach auf Deutsch neu erzählen. Da kann ich nicht halbtägig oder halbwöchig da irgendwie umschalten. Das ist einfach albern. Das ist eine Energieverschwendung. Ich muss also ein sehr genaues Auftragsbuch führen, damit ich meine Termine einhalten kann, und wenn es ganz hart kommt und irgendein wichtiges von einem meiner Autoren dann noch auf den Tisch fällt, dann muss ich halt irgendwie Abendschichten fahren. Das ist dann was anderes, aber …
"Ich fange an mit der Interpretation"
Netz: Ich nehme an, das ist im Vorfeld der Frankfurter Buchmesse jetzt so gewesen.
Heibert: Ein bisschen ist es so gewesen, ja, aber das haut dann schon hin, wenn man eben die Autoren kennt. Neue Autoren würde ich dann eben selten übernehmen, weil das eben dann einfach zu viel wäre. Und hauptsächlich muss man wirklich in diese Figur hineinschlüpfen und dann deren Sprache auf Deutsch finden, und dann kann man eben auch so ein bisschen wie Schauspieler ganz verschiedene Rollen spielen können, eben auch ganz verschiedene Stimmen im Deutschen neu kreieren.
Wirkung ins Deutsche übertragen: "Nur so geht Übersetzen"
Netz: Apropos neu kreieren: Jedes Übersetzen ist gestaltendes Interpretieren, schreiben Sie im Nachwort zu eben Boris Vians "Die Gischt der Tage". Was genau muss ich mir darunter vorstellen, wie weit gehen Sie zum Beispiel als Gestalter?
Heibert: Ich fange an mit der Interpretation, das heißt, der Versuch zu verstehen, was ist die Haltung dieses Erzählers, worum geht es bei dem Buch grundlegend und dann auch bei den einzelnen Sätzen genau zu verstehen, was macht der da im Text, was will der bewirken. Da schaffe ich mir eine Meinung durch genaue Lektüre, durch Indizien im Kontext und so weiter, also einfach, um zu verstehen, warum jeder Satz da steht, wie er steht, und wenn ich dieses Bild vom ganzen Text und auch von einzelnen Sätzen mir gemacht habe, dann muss ich mir überlegen, wie kann ich das jetzt im Deutschen am besten so schreiben, dass die Wirkung, die das Original auf die Originalleser hat, die ich natürlich spekulativ kalkuliere, dann auch auf meine deutschen Leser so rüberkommt. Das ist der Punkt, um den es geht, wo ich gestalterisch tatsächlich nicht mehr wortwörtlich übersetze. Das weiß man ja sowieso, dass das nicht geht, aber gestalterisch heißt dann eben, nicht nur zu sagen, ah, jetzt musste ich mich doch ein bisschen entfernen vom Original, als wäre das eine Notlösung, sondern genau so geht Übersetzen, nur so kann es wirklich funktionieren, dass ein neuer literarischer Text in der Zielsprache entsteht.
Den Übersetzerberuf aus dem Kleingedruckten holen
Netz: Herr Heibert, Ende September ist auch wieder Hieronymustag, internationaler Übersetzertag, bei dem sind Sie auch aktiv. Wir können jetzt nicht in dieser Sendung noch das ganze Fass des Übersetzerstandes aufmachen, aber was wäre Ihr wichtigstes Anliegen am Hieronymustag 2017?
Heibert: Es geht einfach darum, wahrzunehmen, dass übersetzte Texte übersetzt sind, dass man nicht denkt, ich lese ein Buch von García Márquez und sage, boah, dieser García Márquez, der hat aber ein Deutsch, das gibt es ja gar nicht. Das ist ein Zitat, dieser Satz, diese Situation. Das ist einfach schade, weil es war eben tatsächlich noch jemand anderes dazwischen, der die deutsche Sprache gestaltet hat. Jeder Satz, den man liest, ist tatsächlich von jemand anderes geschrieben worden als vom Autor. Bis auf die Eigennamen hat der kein einziges Wort dieses deutschen Buches geschrieben, und das wäre schön, wenn sich das die Leser einfach in gewisser Weise auch klar machen würden, nicht nur bewundernd, oh toll, oder irgendwie mystifiziert, das große Rätsel des Übersetzens, was passiert da eigentlich, sondern eben auch einfach durchaus auch kritisch also wahrnehmen, was ist da passiert, wie ist das gestaltet worden, überzeugt mich das, gefällt mir das, sodass unser Berufsstand einfach weiter aus dem Kleingedruckten in die Wahrnehmung hochsteigt sozusagen, wo wir hingehören, was in den letzten zehn, fünfzehn Jahren ja auch schon viel, viel stärker passiert ist – zum Teil eben auch dank solcher Initiativen wie Hieronymustag, wo eben Übersetzer auf die Bühne gehen und Werke vorstellen, ohne ihre Autoren, wo gläserne Übersetzer eben live übersetzen, während das Publikum zugucken und auch kommentieren kann. Solche Dinge, das sind Aktivitäten, um einfach zu sagen, wir arbeiten zwar alleine in unserem Kämmerlein, aber wir sind trotzdem da, und es lohnt sich, uns warzunehmen.
Lesetipp des Übersetzers - Fiston Mwanza Mujila: "Tram 83"
Netz: Also kann man Sie auch wieder wahrnehmen am 30. September am Hieronymustag, aber sicherlich auch bei der Frankfurter Buchmesse in zwei Wochen. Da ist eben Frankreich das Gastland in diesem Jahr, unter anderem deswegen sprechen wir miteinander, und da erscheinen ja wirklich zahllose französische beziehungsweise französischsprachige Bücher in deutscher Übersetzung. Ich finde, man bekommt wirklich einen guten Eindruck dieses Jahr von der Vielfalt der Literaturen, die auf der ganzen Welt auf Französisch publiziert werden. Haben Sie, Herr Heibert, einen besonderen Tipp, welches französisch-, französischsprachige Buch man – außer Boris Vians "Gischt der Tage" natürlich – man in diesem Herbst unbedingt lesen sollte?
Heibert: Ja, die Qual der Wahl. Es ist tatsächlich so, dass die Titel sehr gut und sehr interessant sind. Also, mich hat beeindruckt, das erscheint jetzt nicht frisch zur Frankfurter Buchmesse, aber mich hat doch wirklich sehr beeindruckt das französischsprachige Buch des kongolesischen Autors Fiston Mwanza Mujila, "Tram 83", was in Afrika spielt und was mit allem Können der französischen Sprache und mit allem Können einer hervorragenden Übersetzung von Katharina Meyer und Lena Müller dann auch im Deutschen einen Einblick in einen französischsprachigen Teil der Welt, nämlich dem Kongo, gibt und wirklich ziemlich einzigartig ist als Werk. Das ist natürlich jetzt immer noch da und wird, glaube ich, auch mit Veranstaltungen noch mal in Frankfurt vorgeführt, und das wäre so das Buch, was mich eigentlich in letzter Zeit aus Frankreich am meisten beeindruckt hat, und sicher gibt es noch zehn andere, die mir gerade nicht einfallen!
Wunsch des Übersetzers - Marie Darrieussecq: "Notre vie dans les forêts"
Netz: Und gibt es vielleicht ein Buch, das Ihnen einfällt und das Sie schon auf Französisch gelesen haben, das Sie in Deutschland noch vermissen?
Heibert: Ja, also, das ist so ein bisschen die Frage des Zeitpunkts. Also der neue Roman einer Autorin, von der ich einige Bücher schon übersetzt habe, Marie Darrieussecq, der ist im Französischen gerade erschienen, "Notre vie dans les forêts", "Unser Leben im Wald", und das ist ein sehr, sehr tolles Buch, und ich hoffe sehr, dass der deutsche Verlag Hanser dieses Buch von ihr machen wird.
Netz: Boris Vian: "Die Gischt der Tage". Aus dem Französischen neu übersetzt und mit einem Nachwort von Frank Heibert. Erschienen im Wagenbach Verlag, 232 Seiten kosten 20 Euro.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Boris Vian: "Die Gischt der Tage"
Aus dem Französischen neu übersetzt und mit einem Nachwort von Frank Heibert
Klaus Wagenbach Verlag, Berlin 2017. 232 Seiten, 20 Euro
Fiston Mwanza Mujila: "Tram 83"
Übersetzt aus dem Französischen von Katharina Meyer, Lena Müller
Zsolnay Verlag, München 2016. 208 Seiten, 20 Euro
Marie Darrieussecq: "Notre vie dans les forêts"
P.O.L Editeur, Paris 2017. 192 Seiten, 16 Euro