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Bosnien-Herzegowina
Mützenich: Gefahr der ethno-nationalistischen Zuspitzung

In Bosnien-Herzegowina revoltieren Bürger. Rolf Mützenich, außenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion im Bundestag, hofft, dass sich daraus eine neue politische Kraft entwickeln kann. Insbesondere Korruption und politische Misswirtschaft müssten in dem Land abgestellt werden, sagte er im Deutschlandfunk.

Rolf Mützenich im Gespräch mit Peter Kapern | 10.02.2014
    Blick auf das brennende Kantonverwaltungsgebäude in Sarajevo, Bosnien-Herzegowina, am 06.02.2014, während der Proteste.
    Blick auf das brennende Kantonverwaltungsgebäude in Sarajevo, Bosnien-Herzegowina während der Proteste. (picture alliance / dpa)
    Peter Kapern: Von Hungeraufständen war in der vergangenen Woche die Rede oder auch von einem Tsunami der bestohlenen Bürger, und zwar in Bosnien-Herzegowina. Dort revoltierten Zehntausende Bürger, weil sie um ihr Überleben fürchten. Misswirtschaft und Korruption haben das Land an den Rand des Zusammenbruchs gebracht. Das gesamte Gemeinwesen ist nach wie vor förmlich paralysiert durch die tiefe Feindschaft zwischen den Volksgruppen.
    – Am Telefon bei uns Rolf Mützenich, der stellvertretende Vorsitzende und außenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion im Bundestag. Guten Morgen, Herr Mützenich.
    Rolf Mützenich: Guten Morgen, Herr Kapern.
    Kapern: Herr Mützenich, zeigt sich jetzt, dass Bosnien-Herzegowina so, wie das Land konstruiert ist, gar kein lebensfähiger Staat ist?
    Mützenich: Es ist offensichtlich so, dass es soziale Proteste gibt, die sich auch zurückverfolgen lassen bis in den Sommer letzten Jahres, wo es ja um die Frage ging, ob das Parlament überhaupt in der Lage ist, diesen Staat zu regieren. Insbesondere seinen Verpflichtungen nachzukommen, auch die Bürger zu schützen. Und ich glaube, wir sehen hier, dass es eben nicht mehr entlang von ethnischen Grenzen, religiösen Grenzen Proteste gibt, sondern dass sich hier offensichtlich auch Bürgerinnen und Bürger zusammenfinden, die sozial protestieren gegen eigentlich politische Eliten, die dieses Land nicht mehr regieren.
    Kapern: Diesen Bürgern stehen aber Politiker gegenüber, die offenbar diese Botschaft überhaupt nicht verstanden haben, überhaupt nicht in der Lage scheinen, sie zu verstehen. Die ihre Politik durchaus nach wie vor an den Grenzen der ethnischen Zusammensetzung dieses Landes orientieren.
    Mützenich: Das ist das Drama und das ist letztlich auch das Risiko, was sich mit diesen Protesten auch für das Land verbindet, insbesondere dann, wenn sich Parteien den Protest ethno-nationalistisch auch zunutze machen. Auf der anderen Seite, glaube ich, kommt es gerade jetzt darauf an, in den Gesprächen auch mit politisch Verantwortlichen in den Kantonen, aber letztlich auch gegenüber der Föderalregierung deutlich zu machen, diesen Protest letztlich ernst zu nehmen. Und insbesondere Korruption und politische Misswirtschaft, aber letztlich auch innerhalb der Wirtschaft diese Dinge abzustellen.
    Kapern: Die Föderalregierung, die Sie da gerade erwähnt haben, die hat nach allen Informationen, die wir aus Bosnien-Herzegowina erhalten, absolut überhaupt nichts zu sagen. Sie hat überhaupt keine Gestaltungsmacht. Die Macht liegt in den Händen autonomer Regionen. Die machen was sie wollen. Wie wollen Sie da einen Ansprechpartner in der föderalen Regierung finden?
    Mützenich: Nein, es geht ja insbesondere darum: Wir haben ja mit so vielen Entscheidungsträgern letztlich zu tun in den Kantonen, aber durchaus auch in der Föderalregierung und auch in den Staatsorganen. Aber auf der anderen Seite in der Tat ist es so: Wir sehen mittlerweile eine längere Linie von Protesten, die eben, das muss man auch sehen, in Gewalt ausgeartet sind. Auf der anderen Seite beachtenswert, dass viele Bürgerinnen und Bürger in den letzten zwei Tagen dazu aufgerufen haben, friedlich zu demonstrieren, beziehungsweise die Verwüstungen versucht haben, selbst wieder in Ordnung zu bringen. Das zeigt eigentlich, dass wir hier eine Zivilgesellschaft haben, die gegenüber der politischen Machtelite versuchen, eben auch letztlich ihre Interessen durchzusetzen. Und jetzt kommt es darauf an, wie zum Beispiel mit Herrn Dodik auch die entsprechenden Worte letztlich zu führen. Das ist Aufgabe der Europäischen Union, aber letztlich auch einzelner Nationalregierungen in Europa.
    Kapern: Glauben Sie tatsächlich, dass sich durch, sagen wir mal, strenge Gespräche der nationalistische Furor der Politiker, die dort die Macht haben, tatsächlich sänftigen lässt?
    Mützenich: Das ist schwer. Wir müssen diesen Versuch letztlich unternehmen, weil ich glaube auch, wir haben gar keine anderen Möglichkeiten, als mit massiven Gesprächen auf dem Hintergrund der sozialen Proteste auch auf diese Entscheidungsträger einzureden. Dass ich natürlich nicht hoffnungsfroh bin aufgrund der Geschichte, insbesondere eben auch der Benutzung von Gegensätzen in diesem Land und letztlich auch, was aus dem Dayton-Vertrag geworden ist, das ist ganz offensichtlich. Aber wir müssen vonseiten der Politik versuchen, zumindest die zu identifizieren, die auch bereit sind zu einem konstruktiven Dialog mit den Menschen im Land.
    Kapern: Die Europäische Union, die war ja über das Gesprächsstadium mit den Politikern in Bosnien-Herzegowina durchaus schon einen Schritt hinaus. Da sind kürzlich sogar Subventionen gekürzt worden aus Brüssel, weil die Lage in Bosnien so ist, wie sie ist. Das heißt, nicht einmal solch scharfe Mittel bringen Politiker in Bosnien-Herzegowina offenbar zur Räson?
    Mützenich: Ich weiß. Und das ist auch die bittere Erkenntnis aus diesen Maßnahmen. Wir haben es aber letztlich auch damit zu tun, dass wir in der Tat, wo wir ja auch drüber gesprochen haben, ganz unterschiedliche Einheiten haben, die durchaus nicht für diese Mittel empfänglich sind, sondern weiter versuchen, dieses Land auszuplündern. Aber auf der anderen Seite, glaube ich, ist es richtig, dass wir zum Beispiel auch mit den Vereinten Nationen und mit dem Hohen Beauftragten hier versuchen, weitere Fortschritte letztlich zu erreichen, zumindest diesen politischen Dialog zu nutzen. Auf der anderen Seite werden wir sehen müssen, ob aus den sozialen Protesten sich auch eine Organisationsform entwickeln wird mit einem politischen Programm, die auch in der Lage sind, möglicherweise bei anstehenden Wahlen in diesem Jahr sich zu beteiligen. Auch das könnte ja eine Alternative sein.
    Kapern: Das heißt, Sie sehen die Chance für einen Neubeginn darin, dass völlig neue Parteien entstehen?
    Mützenich: Es ist nicht ausgeschlossen. Ich kann nicht sagen, dass das heute zum jetzigen Zeitpunkt bereits voraussehbar ist. Aber noch mal: Wir hatten im letzten Jahr diese sozialen Proteste gehabt, die sich aus ganz unterschiedlichen Landesteilen und letztlich auch unterschiedlichen Gruppen in der Gesellschaft zusammengefunden haben. Und auch jetzt sehen wir ja, dass sich offensichtlich an unterschiedlichen Orten des Landes ein gemeinsamer Protest artikuliert. Und ich würde zumindest nicht ausschließen, dass es hier auch Entscheidungsträger geben könnte, die in Zukunft nicht mehr entlang von ethno-nationalistischen Grenzen versuchen, ein politisches Programm zu formulieren. Deswegen müssen wir das sehr aufmerksam auch beobachten.
    Kapern: Ich habe es eben gesagt: Die Europäische Union hat kürzlich sogar 45 Millionen an Subventionen für Bosnien-Herzegowina gestrichen. Auf der anderen Seite hören wir, dass es dort eine immense, eine bittere Armut gibt, dass die Menschen tatsächlich Hunger haben. Wie kriegt man das unter einen Hut, einerseits die Gelder zu sperren, andererseits zu sehen, dass dort große Hilfsbedürftigkeit herrscht?
    Mützenich: Ich habe keine einfache Lösung. Deswegen bietet ja auch die Bundesregierung hier Entwicklungshilfe an, über längere Zeiträume, wo bestimmte Gelder auch in der Vergangenheit zurückgehalten worden sind. Wir sehen einen landwirtschaftlichen Sektor, der überhaupt nicht mehr konkurrenzfähig ist, der teilweise aber auch seine Produkte im Ausland nicht anbieten kann aufgrund von Misswirtschaft und Missmanagement. Alles das sind Tatsachen, die dieses Land in der Tat treffen, wo wir auch aufpassen müssen, dass diese Sanktionen dann gezielt letztlich auf die politischen Entscheidungsträger wirken. Es ist fast ein hoffnungsloses Unterfangen in der Tat, das weiß ich, aber wir müssen politisch alles versuchen, damit die Lage nicht in Gewalt eskaliert. Wir haben einzelne Gruppen, Hooligans und Fußball-Clubs in der letzten Zeit gesehen, Fußball-Fans, die gewaltsam sich in diesen Protesten auch bemerkbar gemacht haben. Das ist eine sehr schwerwiegende Krise, die dieses Land trifft. Und deswegen muss die Europäische Union zusammen mit den nationalen Regierungen hier versuchen, gemeinsam letztlich in den nächsten Tagen vorzugehen.
    Kapern: Nun hat die Europäische Union, Herr Mützenich, den Ländern des westlichen Balkans ja eine Beitrittsperspektive eingeräumt. Und nun muss man feststellen, dass diese Beitrittsperspektive überhaupt nicht die Wirkung entfaltet, die man sich von ihr erhofft hat, nämlich eine Art von Anstrengung, tatsächlich den Standards und Normen der Europäischen Union gerecht zu werden. Ist das überhaupt kein probates Mittel mehr?
    Rolf Mützenich
    Geboren 1959 in Köln, Nordrhein-Westfalen. Der SPD-Politiker studierte Politikwissenschaften, Geschichte und Wirtschaftswissenschaften. 1991 promovierte er zum Dr. rec. pol. an der Universität Bremen, arbeitete im Anschluss zunächst als Referent im Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen. 1976 trat Mützenich der SPD bei. Seit 2002 ist er Abgeordneter im Deutschen Bundestag. Seit 2009 ist er außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, seit 2013 dort auch stellvertretender Vorsitzender.
    Mützenich: Doch, ich glaube schon, weil es einfach sehr unterschiedlich ist. Man kann nicht sagen, die Balkan-Länder, sondern wir haben ja sehr unterschiedliche Länder in der Region, die entweder bereits Mitglied geworden sind oder weiterhin die Beitrittsperspektive haben und auch von der Nachbarschaftspolitik profitieren. Wir haben immer noch in der Bevölkerung von Bosnien auch eine relative Mehrheit für den EU-Beitrittsprozess, wo sich Menschen etwas von diesen Maßnahmen versprechen, natürlich in wirtschaftlicher Hinsicht. Aber auf der anderen Seite auch im Hinblick auf ihre Gesellschaft, auf Rechtsnormen und das, was sie jetzt in ihren Protesten verlangen. Von daher, glaube ich schon, ist diese Perspektive weiterhin da. Wir haben das entscheidende Problem, dass wir in der Nach-Dayton-Ära des Vertrages es offensichtlich mit einem politischen System zu tun haben, was Misswirtschaft und auch bestimmte Fragen der Gewaltkriminalität in ihren Reihen hat, und das ist das große Problem, wogegen sich jetzt die Gesellschaft wendet.
    Kapern: Der stellvertretende Vorsitzende und außenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion im Bundestag, Rolf Mützenich, heute Morgen im Deutschlandfunk. Das Gespräch haben wir heute früh aufgezeichnet.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.