Donnerstag, 02. Mai 2024

Archiv

Botho Strauß: "Nicht mehr. Mehr nicht. Chiffren für sie"
Romantiker des Verstummens

Die Prosatexte von Botho Strauß sind seit langem schon stimmungshafte Bruchstücke, philosophische und poetische Reflexionen über die Sprache und die Welt. In seinem neuen Buch "Nicht mehr. Mehr nicht" führt er geradezu demonstrativ vor, eine mögliche Geschichte zum Verschwinden zu bringen.

Von Jörg Magenau | 27.09.2021
Der Autor Botho Strauß und sein neuestes Werk „Nicht mehr. Mehr nicht. Chiffren für sie“
Das Erzählen von Geschichten interessiert Botho Strauß schon lange nicht mehr. (Buchcover Hanser Verlag / Autorenportrait (c) Ruth Walz)
Die Voraussetzungen für einen Roman wären durchaus gegeben. Da ist die Frau, und dort ist der Mann. Die beiden haben sich womöglich geliebt, dann hat er sie verlassen. Sie bleibt zurück und sinnt dieser Begegnung und diesem Mann hinterher. In den Worten von Botho Strauß lässt sich das Geschehen in einem einzigen Satz zusammenfassen:

"Wie zwei voreinander sich rasend entkleiden und wieder ankleiden, das wird, im Zeitraffer gesehen, ihre ganze Geschichte gewesen sein."
Helmut Böttiger über Botho Strauß - "Er redet oft wie die Populisten, die er eigentlich ablehnt"
"Expedition zu den Wächtern und Sprengmeistern" heißt der neue Essayband von Botho Strauß. Der Literaturkritiker Helmut Böttiger meint, man müsse es ernst nehmen, wenn sich Strauß als "Rechten" bezeichne – auch wenn er dabei eine "Pose der Geistesaristokratie" einnehme.
Damit ist das, was Roman werden könnte, aber auch schon erledigt. In seinen jüngeren Jahren hat Strauß aus einer ähnlichen Konstellation die Erzählung "Die Widmung" gemacht. Damals war es der Mann, der als Verlassener mit seiner Trauer fertig werden musste. Jetzt ist es die Frau, die spricht, die Lyrikerin Gertrud Vormweg, die sich aber auch gerne in der dritten Person als "sie" anspricht. Der Wechsel zur weiblichen Perspektive ist von großer Bedeutung. Sie ist für Strauß nicht nur eine schützende Hülle und Gelegenheit zu distanzierter Rollenprosa, sondern vielleicht auch eine Art besseres Ich, in das er schlüpft, empathie- und poesiefähig, wie es der in ihren Augen liebesunfähige Mann nicht sein könnte. Doch die Sprecherin ist keine Figur, keine ausgeführte Person, sondern eher ein lyrisches Ich, das aus nichts als Sprache besteht. Was Handlung sein könnte, wird zum Sprechakt und schließlich in Stimmung und Gedanken aufgelöst.

Abschiednehmen aus Überdruss an der dinglichen Welt

"Sollte ich je eine Geschichte erzählen, sie verlöre sich in einem fortwährenden Stimmungswechsel, und dieser Wechsel wäre das Letzte, was sich noch bewegte im Stillstand des Vermissens. Schmerz und Verbitterung, Fluch und Zorn, Sehnsucht und Enttäuschung, Begehren und Aufbegehren."
Zunächst klingt der Text wie ein Monolog für die Theaterbühne, als spräche da Christa Wolfs "Kassandra". Auch Strauß' Rednerin erhöht ihr Schicksal ins Mythische, wenn sie sich mit der karthagischen Prinzessin Dido vergleicht, die sich in Aeneas auf seiner Flucht verliebte, von ihm aber, der ja Rom gründen musste, verlassen wurde und sich in ihrer Trauer dann in ihr eigenes Schwert stürzte. Derlei handlungshafte Tragik liegt Gertrud Vormweg nicht. Doch was sie in der Sprache vollzieht, ist eine andere Form der Selbstauflösung und Auslöschung als Bewegung hin zum Verstummen. Das Leben ist vergangen zwischen dem "Noch nicht" der Jugend und dem "Nie wieder" des Alters. Es überwiegt jedoch der Tonfall des "Nicht mehr", den Strauß oder vielmehr seine Protagonistin im Lauf der Rede von der Trauer des Verlusts des Geliebten in ein aktives Abschiednehmen aus Überdruss an der dinglichen Welt überführt. So endet das Buch mit den Worten, die ihm den Titel geben:

"Nicht mehr! Mehr nicht! Sie tritt, nur um wegzusehen, vor die Tür. Nicht mehr davon! Und dann einfach: mehr nicht, nichts mehr. Nicht."
Nichts bleibt von dieser existentiellen Abwendung unberührt, nicht einmal die Sprache selbst, die Strauß der medialen Kommunikation und der bloßen Unterhaltung entgegensetzt. Nur in und mit der Sprache ist das Sein berührbar. Da gelingen Strauß immer wieder wunderbar kraftvolle Momente. Dann sind es die Wörter selbst, die materielle Gestalt gewinnen. Die Schrift wird zum religiösen Erfahrungsraum. Das klingt dann etwa so:

"Von nun an, wenn sie das Wort Gott schreiben wollte, kam sie aus dem O-Rund nicht wieder heraus. Das O entließ ihre Hand und ihren Stift nicht mehr. Sie kreisten endlos darin."

Einsame Wege durch die Uckermark

Da ist es nicht verwunderlich, dass Strauß – oder vielmehr seine Protagonistin – sich nach Hieroglyphen sehnt, nach Chiffren, nach Zeichen der Geheimhaltung. Die "Chiffren für sie" – so der Untertitel des Buches – wären demnach eine Art Geheimsprache, die "das Weltwissen aufbewahrt wie in einem Fingerhut". "Chiffren für sie" heißt aber auch, dass sie selbst, die Lyrikerin Gertrud Vormweg, als sprechendes Ich nur eine Chiffre ist, damit die Sprache einen Leib erhält, mit dem sie sprechen kann.

"Worte der vollkommenen Sinnlichkeit, wie keine Haut, kein Körper sie je erregen könnte. Worte, an die man sich lehnt, in sie verloren, wie an eine Mauer im Weinberg."
Schließlich aber ist auch die Sprache nicht vor dem Zerfall gefeit. Am Ende allen Schrifttums sieht Strauß einen Menschen, der von den tausend Büchern, die er las, nichts behalten hat als das Alphabet, das er nun aufsagt. Was bleibt von Gott, wenn er nichts ist als ein rundes O? Strauß‘ weibliches Alter Ego bezieht sich auch darin auf die mythische Figur der Dido. Dido erhielt vom Numiderkönig eine Kuhhaut, die die Fläche des Gebiets bestimmen sollte, auf dem sie mit ihrem Gefolge siedeln durfte. Sie zerschnitt die Haut in feinste Streifen und legte so die Grenzen fest, innerhalb derer Karthago entstand. So wie Dido die Kuhhaut, zerschneidet die Autorin ihr Manuskript in einzelne Zeilen.
Exakt darin besteht das ästhetische Verfahren von Botho Strauß. Er hofft darauf, dass die einzelnen Sätze, aneinandergelegt, ein größeres Terrain öffnen, als es ein von Handlung, Dialog und Geschehen begrenzter Roman je könnte. Worte der vollkommenen Sinnlichkeit, wie keine Haut, kein Körper sie je erregen könnte. Botho Strauß ist der wortreiche Romantiker des Verstummens. Er spricht, wo niemand mehr zuhört, spricht mit sich selbst auf seinen einsamen Wegen durch die Uckermark mit ihren Weiden, Seen, Rapsfeldern und Rebhühner, die auch diesem Buch einen konkreten Ort geben. Das Geschriebene bietet Gelegenheit, ihn dabei zu belauschen. Das lohnt sich allemal.
Botho Strauß: "Nicht mehr. Mehr nicht. Chiffren für sie"
Hanser Verlag, München 2021
156 S., 22 Euro