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Brand vor 825 Jahren
Als die Kathedrale von Chartres in Flammen aufging

Der Brand von Notre Dame in Paris vom 15. April 2019 hatte einen historischen Vorläufer. Bereits 1194 ging die Kathedrale von Chartres in Nordfrankreich in Flammen auf. Genau wie heute sorgte auch damals die Katastrophe für Entsetzen - sie begründete aber auch einen neuen Baustil.

Von Jochen Stöckmann | 11.06.2019
    Eine Außenansicht der gotischen Kathedrale von Chartres in der Normandie
    Der Architekt, der die Kathedrale von Chartres nach dem Brand vor 825 Jahren wieder aufbaute, ist bis heute unbekannt (imago images / imagebroker)
    Weithin sichtbar prägen die hohen Türme der Kathedrale von Chartres die nordfranzösische Landschaft. Der Bischofssitz ist mit seiner Domschule ein geistiges Zentrum der katholischen Elite – und populär durch das seit dem 9. Jahrhundert hier verwahrte Gewand der Muttergottes, eine der kostbarsten Marienreliquien. All dies steht auf dem Spiel, als das Bauwerk in der Nacht auf den 11. Juni 1194 in Flammen aufgeht.
    "Die größte Gefahr für solche Kirchen war das ungeheure Holz, mit dem der riesige Dachstuhl gehalten wurde. Und da die Kirche schon einige Jahrhunderte alt war – das war eine karolingische Kirche – ist vermutlich das ganze Steinwerk schließlich in sich zusammengebrochen."
    Kein Historiker weiß genau, was damals passierte. Eberhard König, Professor für Kunstgeschichte der Gotik, kann sich aber vorstellen, welche Reaktionen die Katastrophe in der Bevölkerung auslöste:
    "Was die Leute ungeheuer beeindruckt hat: das schönste Glasfenster der alten Kirche, mit einer Darstellung der Mutter Gottes, ist erhalten. Wir denken, alles ist verloren, aber das prachtvollste Bild der Mutter Gottes und die Reliquie ist erhalten."
    Das Glasfenster "Notre Dame de la belle verrière" in der gotischen Kathedrale von Chartres in der Normandie
    Das Glasfenster "Notre Dame de la belle verrière" in der gotischen Kathedrale von Chartres in der Normandie (imago images / Peter Seyfferth)
    Notre Dame de Chartres war der Name der Kirche, Maria die Schutzpatronin. Die wundersame Rettung ihrer Heiligtümer spornte alle, vom Bischof bis zum einfachen Bürger an, die Kirche schnell wiederaufzubauen:
    "Alle großen Geistlichen spenden. Der König, der stiftet soviel er kann. Wer nur seine Körperkraft hat, wirft sich ins Zeug und zieht diese riesigen Steine hoch auf den Hügel, wo die Kathedrale neu errichtet werden soll, weil man die alten Steine nicht mehr richtig verwenden kann."
    Bis heute namenloser Baumeister
    Die neue Kathedrale, deren Baumeister über die Jahrhunderte namenlos bleibt, ist schlicht und formvollendet, ein virtuoses Zusammenspiel der Proportionen, von Raum und – weil die bislang üblichen Emporen fehlen – von bislang ungeahnter Lichtwirkung.
    "Die Kirche wird auf dem Grundriss der alten, riesigen Krypta gebaut. Damit richtet sich der Architekt, der sicher zu den intelligentesten Architekten des Mittelalters gehörte, in einer nicht von ihm entworfenen Form ein. Aber – was er dann oben drauf baut, ist völlig einzigartig und neu."
    Man verzichtet auf alle figürlichen Elemente
    Neu ist der Stil, mit dem der unbekannte Baumeister und seine Helfer – vor allem Steinmetze und Schmiede – auf die Katastrophe antworten: Wie Phönix aus der Asche geht aus dem Brand von Chartres die Gotik hervor. Um das Mittelschiff von über 16 Meter Breite zu überwölben, werden – auch mit Blick auf eine möglichst kurze Bauzeit – Spitzbögen anstelle der weniger stabilen Rundbögen verwendet. Die neuartige Konstruktion wird im Innern zusammengehalten von Eisenankern, dafür braucht es Schmiede. Die Steinmetze – zuständig für die Ausschmückung – arbeiten ganz anders als gewohnt:
    "Man verzichtet auf alle figürlichen Elemente. Das, was in romanischen Kirchen so faszinierend ist, von Teufeln zum Heiligen Geist, darauf wird völlig verzichtet. Es ist ein ganz schlichtes Blattwerk. Man braucht dafür keinen genialen Bildhauer."
    Für die damalige Zeit ungewöhnlich kurze Bauzeit
    Keine Baukünstler, aber zusehends versiertere Handwerker meistern den Bau der neuen gotischen Kathedrale, die im Oktober 1260 geweiht wird. Diese für damalige Verhältnisse ungewöhnlich kurze Bauzeit erklärt Eberhard König:
    "Eine standardisierte Architektur für nahezu alle Teile: Die Pfeiler haben alle die gleiche Größe, alle die gleiche Struktur. So etwas konnte man unter einem Dach, also in einer Bauhütte, erarbeiten."
    Die Bauhütte war mehr als nur Schutz gegen Wind und Wetter, unter ihrem Dach kamen unterschiedliche Handwerker zusammen – und konnten so die Folgen der Katastrophe von 1194 bewältigen.