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Brandstifter und Biedermänner
Michael Grüttners Geschichte des Dritten Reichs

Der Historiker Michael Grüttner, Professor am Zentrum für Antisemitismusforschung an der TU Berlin, beschreibt in seiner umfangreichen Analyse des Dritten Reiches, warum sich die Deutschen mit der NS-Diktatur so gut arrangieren konnten. Demnach nutzten die Nazis eine große Hoffnung der Deutschen für ihre Zwecke.

Von Niels Beintker | 06.07.2015
    Die Radikalität ist – im Rückblick betrachtet – noch immer erschreckend. Zum einen, natürlich, die des NS-Regimes, zum anderen aber auch die der Umgestaltung eines trotz wirtschaftlicher und politischer Krisensituation noch immer demokratisch verfassten Landes. Gerade anderthalb Jahre brauchten Hitler und seine Unterstützer, um einen brutalen, menschenverachtenden Terrorstaat aufzubauen, beginnend mit der sogenannten "Machtergreifung", endend mit der Ausschaltung der SA-Führung unter Ernst Röhm. Die Marksteine auf diesem Weg sind bekannt und gut erforscht. Und trotzdem bleibt die Frage: Warum nur konnte sich ein brutales Regime derart ungehemmt entfalten, ohne nennenswerten Widerspruch der Mehrheit der Deutschen? Michael Grüttner geht in seiner vielseitigen Geschichte des so bezeichneten "Dritten Reichs" auch dieser zentralen Frage nach.
    "Ein wesentlicher Grund ist auf jeden Fall die Tatsache, dass die Weimarer Republik in den Augen der meisten Deutschen 1933/34 vollkommen diskreditiert war. Es gab dann einen zweiten Punkt, der wichtig war: dass viele Menschen 1932/33 das Gefühl hatten, dass man eigentlich nur die Alternative hatte zwischen Nazis und Kommunisten. Und da erschien auch vielen, die keine Nazis im engeren Sinne waren, die NDSAP als das kleinere Übel."
    Gelungene Verbindung von Erzählung und Forschungsbericht
    Ein dritter Grund schließlich, so Michael Grüttner, lag in den innen- und außenpolitischen Erfolgen der neuen Diktatur. Das Paradoxe dabei ist: Die Spitze des Regimes achtete in den Jahren bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges genau auf die Loyalität der sogenannten Volksgemeinschaft, wie der Berliner Historiker in seiner großen Darstellung der NS-Diktatur zwischen 1933 und 1939 zeigt. Doch selbst angesichts vieler kritischer Stimmen während der antijüdischen Pogrome vom November 1938 konnte sich die Diktatur behaupten – die Sehnsucht nach Ordnung und innen- wie außenpolitischer Stabilität wog am Ende schwerer. Das Buch ist eigentlich schon im letzten Jahr erschienen, als Teil der Neu-Edition des "Gebhardt", des großen Handbuchs der deutschen Geschichte. Da allerdings ging es in der Wahrnehmung unter, weshalb die überarbeitete Neuveröffentlichung außerhalb der Reihe zu begrüßen ist. Grüttner bietet seinen Leserinnen und Lesern eine umfangreiche und vielseitige Einführung in die sogenannte "Friedenszeit" des "Dritten Reichs", zudem resümiert er immer wieder anschaulich die großen akademischen Kontroversen, etwa über den Nationalsozialismus als politische Religion oder über Hitlers charismatische Herrschaft.
    "Bei aller Aversion, die Hitler gegenüber Verwaltungsapparaten hegte, war er auf eine funktionierende Verwaltung angewiesen, um seine politischen Ziele zu verwirklichen. Tatsächlich wurde die Bürokratie im Dritten Reich sogar ausgebaut. Neben der wuchernden Parteibürokratie von NSDAP, HJ oder DAF entstanden neue Ministerien wie das Reichsluftfahrtministerium oder das Reichspropagandaministerium und zahlreiche Sonderbehörden. Es erscheint daher nicht sinnvoll, das gesamte nationalsozialistische Herrschaftssystem allein mit (Max) Webers Charisma-Konzept zu erklären."
    Für den breiten Leserkreis, an den sich Michael Grüttner – Professor am Zentrum für Antisemitismusforschung an der TU Berlin – wendet, ist die Verbindung von erzählender Darstellung und Forschungsbericht Gewinn bringend. Sein Buch ist nicht einfach nur eine weitere Analyse der NS-Diktatur. Es gibt einen Überblick, bilanziert die bisherigen Forschungen und ist anschaulich erzählt, greift etwa immer wieder zeitgenössische Quellen auf, zum Beispiel die Deutschland-Berichte der Exil-SPD oder auch Tagebücher wie die des Dresdener Romanisten Viktor Klemperer oder des amerikanischen Journalisten William L. Shirer. Zudem lenkt Grüttner das Augenmerk auf gesellschaftliche Themen, zum Beispiel auf den Sport in der NS-Diktatur. Es gab einen großen Sportboom, vor allem gefördert von den neuen nationalsozialistischen Organisationen. Dazu auch eine Selbstgleichschaltung der alten Sportvereine.
    "Aus der Sicht des Regimes standen die ideologischen Interessen natürlich im Vordergrund. Für viele Leute, die im Sportverein waren, sah das vermutlich anders aus. Und wenn man die nach 1945 gefragt hätte, dann hätten die vermutlich gesagt: Das war eigentlich alles so, wie es vor 1933 auch gewesen war. Das stimmt aber nicht ganz, denn gerade die Sportvereine haben sehr früh schon begonnen, jüdische Mitglieder auszuschließen, obwohl das zu diesem Zeitpunkt vom Regime noch gar nicht gefordert wurde."
    Michael Grüttner gelingt es, nahezu alle Themenfelder in der Geschichte des "Dritten Reichs" darzustellen. Und immer wieder zieht er den Bogen über die zentrale Zäsur des deutschen Überfalls auf Polen am 1. September 1939 hinaus, schildert Kontinuitäten in der nationalsozialistischen Politik vor und nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Für die letzten zwei Jahre vor Kriegsbeginn verzeichnet er beispielsweise eine nochmalige Radikalisierung der NS-Diktatur, innen- und außenpolitisch. Der Weg zur systematischen Vernichtung der europäischen Juden war damit nicht zwingend vorgegeben – und doch liegt in der Vorkriegszeit in mehrfacher Hinsicht ein wichtiger Schlüssel zur Genese der nationalsozialistischen Massengewalt nach 1941.
    Multiperspektivische Einführung in die NS-Geschichte
    "Nicht als Plan, wohl aber als Option, die später einmal unter anderen Bedingungen realisiert werden konnte, war der Mord an den Juden in Hitlers Denken (...) schon lange vor 1941 präsent. Sein mörderischer Hass auf die Juden kam bereits in Mein Kampf deutlich zum Ausdruck."
    "Als Option heißt, dass Hitler davon ausging, dass im Falle eines großen Krieges auch die Gelegenheit da sein würde, sich der Juden und auch anderer unerwünschter Minderheiten, etwa der Psychiatrie-Patienten zu entledigen. Also der Gedanke, dass eines Tages man die sogenannte Judenfrage auf dem Wege des Massenmordes lösen könne – in Anführungszeichen –, der war in Hitlers Denken schon 1935 nachweisbar präsent."
    "Der Preis einer Überblicksdarstellung liegt in der Verdichtung. Bei einer genauen Lektüre finden sich denn auch einige wenige Leerstellen. Zum Beispiel widmet sich Grüttner ausführlich der Kulturpolitik im "Dritten Reich", schildert die Entwicklungen in einzelnen Künsten wie der Literatur, der Bildenden Kunst, der Musik oder dem Film. Die Architektur allerdings – für die pompös-bombastische Selbstinszenierung der NS-Herrschaft elementar – wird nur ganz kurz erwähnt. Doch ungeachtet dessen ist die solide und eine riesige Menge an Forschungsliteratur überblickende Darstellung ein empfehlenswertes Buch. Es eignet sich als eine viele Perspektiven eröffnende Einführung in die komplexe Geschichte des nationalsozialistischen Deutschland. Es hat Bestand neben anderen aktuellen großen Veröffentlichungen zum Thema, darunter Richard Evans dreibändige, vor allem für das englische Publikum geschriebene Geschichte. Und es bietet Orientierung, zumal für Leser, die mehr über die wissenschaftlichen Diskussionen erfahren wollen. Ein Handbuch im besten Sinn.
    Michael Grüttner: "Brandstifter und Biedermänner". Deutschland 1933-1939" ist im Verlag Klett Cotta erschienen. 607 Seiten kosten 32,95 Euro.