Freitag, 10. Mai 2024


Brasilianische Gesundheit 2.0

Wir haben uns getäuscht. Wir dachten, dass es auf einer kleinen, ziemlich abgelegenen brasilianischen Insel keine moderne Gesundheitsversorgung gibt. Das Gegenteil ist der Fall: Boipeba hat den Sprung in die Gegenwart hinter sich. Das liegt an einer quirligen Chef-Krankenschwester und einem nagelneuen Gebäude.

Von Jörg-Christian Schillmöller, Fotos: Dirk Gebhardt | 27.07.2013
    "UNIDADE BÁSICA DE SAÚDE DE BOIPEBA": Die silbernen Großbuchstaben leuchten im Sonnenlicht des Vormittags. Ein schneeweißer Quader am Dorfplatz, Baujahr 2012. Um die Ecke liegt der Eingang: links die Notaufnahme, in der die Schlangenbiss-Patienten landen (das Gegengift liegt im gekühlten Impfstoff-Raum bereit). Rechts der Wartesaal mit 25 Sitzplätzen.



    Bezahlt hat das alles die Präfektur mit Sitz auf der Nachbarinsel Cairú, das große Schild hängt unübersehbar im Wartesaal. Bei der Finanzierung dürften auch die Royalties eine Rolle gespielt haben: Das sind die Gebühren, die die öffentliche Hand von den Energiekonzernen für die Nutzung der Öl- und Gasfelder vor der Küste bekommt.

    Gilza hat die Station im Griff
    Wir warten auf Gilza Santos da Silva. Sie ist die fest angestellte Krankenschwester hier und wurde uns als Person beschrieben, die ihren Laden ziemlich gut im Griff hat. Der "posto de saúde" - die Gesundheitsstation - überrascht uns. Der Flur ist blitzsauber, es riecht dezent nach Desinfektion, und Männer und Frauen in weißen Kitteln huschen hin und her. Keine Spur von Überlastung, keine Spur von unhygienischen oder unwürdigen Zuständen, über die in den letzten Monaten aus allen Teilen Brasiliens berichtet wurde.

    Die Chef-Krankenschwester Gilza Santos da Silva
    Die Chef-Krankenschwester Gilza Santos da Silva (Dirk Gebhardt)

    Gilza Santos da Silva lässt uns warten. Die Patienten gehen vor. Später wird sie uns genau erklären, was medizinisch auf Boipeba geht - und was nicht. Anlaufstelle und Basisversorgung: Das kann die Station leisten. Zum Beispiel die Vorsorge-Untersuchungen für Schwangere oder ältere Leute: Blutdruck, Blutabnahme, Labor-Untersuchungen, Physiotherapie, Krebsvorsorge. Gilza hat für alles eine Kladde im Schrank ihres Büros. Sogar eine Zahnärztin gibt es, und deren Behandlungszimmer ist von einem deutschen nicht zu unterscheiden. Das Geräusch des Bohrers auch nicht.

    Ein Schnellboot für die schweren Fälle
    Der "posto de saúde" auf der Insel hat einen so guten Ruf, dass inzwischen Menschen vom Festland nach Boipeba umziehen. Die Gesundheitsstation ist 24 Stunden am Tag besetzt, mit einem System rotierender Ärzte. Für den Ernstfall liegt unten im Hafen die "Ambuláncha" bereit, das Krankentransport-Schnellboot. Es bringt die schweren Fälle aufs Festland.

    Krebspatienten zum Beispiel werden nach Valença gebracht, übernachten dort kostenlos und werden tags darauf weiter nach Salvador da Bahia zur Behandlung gebracht. Alles inklusive: Für diese Leistung muss nach Auskunft von Gilza niemand zahlen. Auch eine kleine Apotheke gibt es in der Krankenstation auf Boipeba, die Medikamente sind ebenfalls kostenlos. Wir staunen.

    Das heißt nicht, dass auf Boipeba alles eitel Sonnenschein wäre: Gilza räumt ein, dass es nicht möglich ist, einen Arzt zu finden, der länger als zwei Jahre bleibt. Dafür müssen die Mediziner, die vom Festland kommen, nach Gilzas Worten zu viel aufgeben. Das Rotationssystem auf Boipeba sieht vor, dass ein Teil der Ärzte unter der Woche hier ist und der andere Teil am Wochenende.

    Die Folge: Weil die Ärzte oft wechseln, bauen sie keine besonders enge Beziehung zu den Patienten auf. Dabei ist das Einkommen mit 10.000 bis 11.000 Reais im Monat (knapp 4000 Euro) ganz schön hoch - in mancher Großstadt in Brasilien verdienen die Ärzte viel weniger. Gilza verdient als Krankenschwester übrigens auch viel weniger, weniger als die Hälfte dessen, was die Ärzte bekommen.

    Die kleine Apotheke im Gesundheitszentrum Boipeba
    Die kleine Apotheke im Gesundheitszentrum Boipeba (Dirk Gebhardt)
    Drogen sind auch auf der Insel ein Problem
    Und die Patienten sind auch nicht einfach: Auf Boipeba werden zum Beispiel alle gängigen weichen und harten Drogen konsumiert, angefangen beim Alkohol. Auch darüber spricht Gilza ganz offen mit uns, während sie mit den Füßen wippt, mit den Händen gestikuliert oder das Mikrofon zu sich heranwinkt, weil sie noch etwas sagen will. Eine Dreiviertelstunde nimmt sich Gilza Zeit für uns, und dabei geht fast ihre ganze Mittagspause drauf.

    Das brasilianische Gesundheitssystem mag marode sein - aber es gibt Beispiele dafür, dass eine Kommune Geld in die Hand nimmt und investiert. Die Präfektur in Cairú hat das getan: Medizinisch geht es der Insel Boipeba heute gut. Aber, sagen die Menschen, dafür haben wir ganz andere Probleme, bei denen uns die Präfektur im Stich lässt.

    Fast alle nennen sie den gleichen Begriff. Er lautet "o lixão". Das bedeutet "die Müllkippe". Gemeint ist die riesige Deponie auf Boipeba - eine Umweltsünde, die jedem Wunsch nach Nachhaltigkeit trotzt und das Grundwasser bedrohen soll. Wir fahren nächste Woche hin.

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    Karte von Boipeba

    Jörg-Christian Schillmöller
    ist seit 2001 Nachrichtenredakteur beim Deutschlandfunk. Er war mehrfach für den Sender im Ausland auf Reportage-Reisen - zuletzt 2012 mit Dirk Gebhardt im Iran. Brasilien hat er im vergangenen Jahr entdeckt.

    Dirk Gebhardt ist Fotograf und Professor für Bildjournalismus an der FH Dortmund. Er arbeitet seit Frühjahr 2012 an einer Langzeit-Dokumentation über den Sertão, eine Trockenwüste im Nordosten Brasiliens. Fotografiert hat er neben Südamerika auch in Afrika und auf dem Balkan.