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Brennpunkt des sozialen Lebens

Die Familie bildet für alle in "Tochter einer Familie" das entscheidende Gravitationszentrum. Eine vitale Kraftkomponente ist der Sex, sei es im förderlichen oder im destruktiven Sinn. Maile Meloy behandelt dieses Thema ohne Frivolität und mit großem Ernst.

Von Eberhard Falcke |
    Die Santerres sind das, was gemeinhin als ganz normale Familie gilt. Trotzdem gibt es über sie viel zu erzählen. Dass die Enkeltochter Abby als Siebenjährige eines Tages mit Windpocken bei ihrer Großmutter Yvette einläuft, ist nur ein erstes Zeichen für die spannungsreichen Verhältnisse innerhalb des Familienclans. Abbys Mutter Clarissa gehört zu jenem Teil der 68er-Generation, der der permanenten Selbstverwirklichung nachjagt. Abbys Onkel Jamie gibt seiner Nichte stets Halt, dann aber überschreiten die beiden eines Tages in ihrer Zuneigung eine gefährliche Grenze. Und sogar die scheinbar vorbildlichen Familienmitglieder wie Abbys Großeltern und Tante Margot tragen ein paar beunruhigende Geheimnisse mit sich herum. "Tochter einer Familie" ist der zweite Roman von Maile Meloy, und in beiden stehen die Konflikte einer Familie im Mittelpunkt.

    "Ich glaube nicht, dass alle glücklichen Familien gleich sind, wie es bei Tolstoi heißt. Aber die Familie lehrt uns, wie wir zu sozialen Wesen werden und das tragen wir mit uns. Dieser Roman ist von ähnlicher Art wie mein erster, der ebenfalls das Leben einer Familie seit dem Zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart beschrieb, vor dem Hintergrund der Ereignisse und Veränderungen der Zeit. Am Anfang war diese Familie voller Gewissheiten über ihr Land, ihren Glauben und ihr Innenleben. Doch im Verlauf der sechzig Jahre müssen sie sich gegen all das behaupten, was die Zeit mit sich bringt, sei es Politik, Sexualität oder Wissenschaft. Dasselbe passiert in meinem zweiten Roman."

    Für Maile Meloy bedeutet die Auseinandersetzung mit dem Problemfeld Familie keinen Rückzug aus der Gesellschaft. Bei ihr, wie in allen besseren Familienromanen, erscheint der familiäre Raum nicht als Reservat, sondern als ein Brennpunkt des sozialen Lebens. Die Santerres sind eine katholische Familie, in der es an Sündenfällen nicht mangelt. Hatte Yvette womöglich einen Liebhaber, als ihr Mann Teddy im Krieg war? Gab es einen unehelichen Sohn, den die Großmutter als den ihren ausgab, um den Ruf ihrer Tochter zu retten? Was ist das für ein Spiel, das die mondäne Saffron mit dem unentschlossenen Jamie treibt? Der Wind der Welt bläst kräftig in dieses Familienensemble, und es überrascht, welch große Anzahl von Figuren und Handlungskonstellationen die Autorin zueinander in Beziehung setzt. Und noch verblüffender ist es, wie überzeugend es ihr gelingt, mit psychologischer Intelligenz und menschlicher Intuition fesselnde Szenen und Dialoge zu schreiben. Was mag da an eigenen Erfahrungen drinstecken?, fragt man sich unwillkürlich, zumal auch die Heldin Abby sich nach ihrem Studium zur Schriftstellerin mausert.

    "Leute erzählen mir etwas, und daraus nehme ich oft Einzelheiten, Momente, Handlungsansätze, die ich ausspinne, und sehe, wo sie hinführen. Es geht jedenfalls nicht um die Geschichte meiner eigenen Familie. Aber ich leihe mir hier und da Dinge aus, um Wirklichkeitsnähe zu schaffen, und da lässt sich manches wiedererkennen. Manchmal sind das auch Gefühlswahrheiten, die in Handlung umgesetzt und ausgelotet werden, ohne dass das Tatsachen sein müssen. Auch ich hatte Windpocken, als ich ein Kind war."

    Obwohl der Roman eine Vielfalt von persönlichen Geschichten ins Bild rückt, bildet Abbys Entwicklung von der Siebenjährigen zur jungen Schriftstellerin das Zentrum der Handlung. Auf der Suche sind aber alle in diesem Roman, und alle bewegen sich im Spannungsfeld zwischen ihrer individuellen freien Selbstentfaltung und den Forderungen des Beziehungslebens, der Ehe, der Familie. Maile Meloys Roman hat absolut nichts Akademisches oder Sprödes, und dennoch taugen die verschiedenen Verhaltensweisen der Figuren geradezu als Fallstudien zu der Frage: Was kann nicht alles passieren, wenn der Mensch seinen Weg zwischen einsam und gemeinsam sucht.

    "Es gibt ein Motto in der amerikanischen Ausgabe, von der Schriftstellerin Mary MacLane, die auch in Montana aufwuchs, hundert Jahre vor mir. ... Sie sagt da, dass es nicht die Natur war, die sie zur Familientochter bestimmt hat. Das soll heißen: Ich bin nicht zur Familientochter geschaffen, aber ich bin es. Und in gewisser Weise ist das der Kampf, in den alle weiblichen Figuren meines Romans verstrickt sind."
    Auf unterschiedliche Weise bleibt die Familie für alle in diesem Roman das entscheidende Gravitationszentrum. Doch eine der vitalsten Kräfte, die dabei immer wieder ins Spiel kommen, ist der Sex, sei es im förderlichen oder im destruktiven Sinn. Sex kann Familien entstehen lassen, und er kann sie gefährden oder zerstören. Auch für dieses Kräftespiel bietet der Roman einen erstaunlichen Variantenreichtum, ohne deshalb ins Schematische abzurutschen. "Sex and the Family" könnte daher auch ein treffender Titel sein. Maile Meloy behandelt dieses Thema unverblümt, aber ohne Frivolität und mit großem Ernst. Die moralische Frage nach richtig oder falsch steht immer im Raum, jedoch ohne bevormundende Antworten, sondern eher als ein Zeichen dafür, dass alle Handlungen Folgen haben, mit denen es gilt, ins Reine zu kommen.

    "Wenn man einen Roman liest, gibt es das Phänomen des praktizierten Mitgefühls. .... Ich wollte, dass der Leser sich auf die Seite der jeweils handelnden Figur stellen kann, um zu sehen, ob er tun würde, was sie tun, ob er ihre Partei ergreifen kann. Mir ging es um diese abwechselnde, rotierende Verbindung zu den Figuren und darum wollte ich diese verschiedenen Perspektiven."

    Als Abby schließlich, zur jungen Frau gereift, auf der Basis ihrer Erfahrungen einen Familienroman schreibt, bekommen die Mitglieder der Familie Santerre die Gelegenheit, in den Spiegel der Literatur zu blicken. Auch das tut jeder auf seine Art und niemand ohne Gewinn. Denn Abbys Buch ist nicht als Skandalwerk angelegt, sondern als Katalysator, der geeignet ist, konstruktive Reaktionen in Gang zu setzen. Auch Maile Meloy geht vorsichtig und sensibel mit ihren Themen und Figuren um. Für den individualistischen Eigensinn bringt sie ebenso viel Gespür auf wie für das Bedürfnis nach Bindung. Dahinter steckt, so lässt sich ihren Worten entnehmen, eine Erfahrung, die sie für ihre Generation, sie wurde 1972 geboren, als prägend ansieht.

    "Als ich aufwuchs, waren die Eltern aller meiner Freunde geschieden. Wenn ich dagegen heute die Paare betrachte, die heiraten, kommt es mir so vor, als gäbe es da eine Rückkehr, eine Wiederversöhnung und weniger das Bedürfnis auszubrechen. Zugleich ist die Unsicherheit im Hinblick auf die Ehe größer, weil sie erschreckend instabil erscheint, anders als früher, als zumindest das Gefühl da war, es gebe Stabilität. Meine Generation setzt diese Stabilität der Ehe nicht mehr voraus. Aber vielleicht gibt es dafür eine größere Entschlossenheit, daraus etwas Haltbares zu machen, weil man sich der Zerbrechlichkeit bewusst ist."

    Nur wenigen Familienromanen dieser Tage gelingt es, zugleich die Zeitverhältnisse zwanglos und dennoch überzeugend ins Auge zu fassen. Maile Meloy hat das mit "Tochter einer Familie" geschafft. Nicht so effektvoll wie Jonathan Franzen, aber dafür mit großer bewundernswerter Wahrhaftigkeit.

    Maile Meloy: "Tochter einer Familie". Roman. Aus dem Amerikanischen von Ursula-Maria Mössner. Kein & Aber, Zürich 2010. 383 Seiten, 22,90 Euro.