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Brexit-Chefunterhändler Barnier
"Der Binnenmarkt ist unser wichtigstes Gut"

Die EU müsse auf alle Brexit-Szenarien vorbereitet sein, auch auf einen ungeordneten Austritt, sagte EU-Chefunterhändler Michel Barnier im Dlf. Man arbeite an einem Abkommen. Zugeständnisse dürften aber keinesfalls zu Lasten dessen gehen, "was wir sind". Bei der Irland-Frage gibt Barnier sich pragmatisch.

Michel Barnier im Gespräch mit Jörg Münchenberg | 30.08.2018
    EU-Chefunterhändler Michel Barnier bei einer Pressekonferenz am 8.12.2017 in Brüssel
    Michel Barnier, Chefunterhändler der EU für den Brexit, will auf alles vorbereitet sein – auch auf einen ungeordneten EU-Austritt der Briten (AP/Geert Vanden Wijngaert)
    Jörg Münchenberg: Herr Barnier, Endspurt bei den Brexit-Gesprächen; aber es hakt gewaltig, trotz der knappen Zeit. Die Uhr läuft, sagen Sie immer. Wie ist Ihre allgemeine Einschätzung – drohen die Gespräche eher zu scheitern, oder stehen EU und Großbritannien eher vor einem Durchbruch?
    Michel Barnier: Ich glaube nicht, dass wir beim Brexit von Erfolg sprechen können, denn der Brexit ist eine Negativ-Verhandlung. Wir bedauern die Entscheidung des britischen Volkes zutiefst, auch wenn wir sie respektieren und umsetzen müssen. Aber beim Brexit gibt es nur Verlierer. Er bietet keinem einen Mehrwert. Deswegen fällt es mir schwer, von Erfolg zu sprechen. Aber wir arbeiten an einem Abkommen. Wir arbeiten daran, diese außergewöhnlichen und komplexen Verhandlungen positiv zu Ende zu bringen. Wir arbeiten zunächst an dem Rückzug, der Trennung, beziehungsweise Scheidung, zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU. Traurigerweise müssen wir einen geordneten Rückzug ausarbeiten. Mein Ziel und das meines Teams ist es, im Namen der 27 Mitgliedsstaaten ein Abkommen mit dem Vereinigten Königreich zu erzielen, das den Bedingungen beider Seiten gerecht wird. Wir arbeiten an dem Abkommen, versuchen, den Brexit zu einem guten Ausgang zu führen. Dabei geht es um die Trennungsmodalitäten und gleichzeitig darum, in einer Erklärung die mögliche und wahrscheinliche politische Beziehung auszuloten. Denn viel wichtiger und interessanter als die Scheidung ist die zukünftige Partnerschaft, die wir mit dem Vereinigten Königreich aufbauen müssen.
    "Wir müssen vorbereitet sein" – auch auf No Deal
    Münchenberg: Die britische Regierung veröffentlicht derzeit schon Papiere für einen ungeordneten Brexit. Das heißt, sie baut vor für ein Scheitern der Gespräche. Das hört sich nicht danach an, als wären die Verhandlungen auf einem guten Weg…
    Barnier: Unsere Verantwortung ist es, in jedem Fall gut auf alle möglichen Ausgänge vorbereitet zu sein. Das schließt auch das No-Deal-Szenario mit ein. Aber das ist kein Misserfolg, weil wir gegenwärtig noch nicht soweit sind, ein Abkommen zu schließen. Also müssen wir vorbereitet sein. Und das ist auch meine Botschaft in jeder Hauptstadt, in der ich bin – heute Berlin, übermorgen in Kroatien – an die Geschäftswelt, Gewerkschaften, die dortige Regierung: Wir müssen vorbereitet sein. Denn wir müssen uns den Konsequenzen des Brexits stellen. Die einseitige Entscheidung des Vereinigten Königreichs, die EU zu verlassen, hat in vielerlei Hinsicht Konsequenzen: Menschlich, sozial, für die Bürger – eine unserer Prioritäten –, für die Geschäftswelt. Dann gibt es rechtliche und finanzielle Konsequenzen. Wir müssen gut vorbereitet sein, denn es wird nicht wie bisher weitergehen, kein "Business as usual". Auf alles vorbereitet zu sein, schließt auch die Option eines No-Deal mit ein. Wir bereiten uns entsprechend auf alle Optionen vor und haben schon 70 Mitteilungen dazu vorm Sommer veröffentlicht. Diese Mitteilungen werden wir in den nächsten zwei Wochen auch auf Deutsch veröffentlichen.
    "Das ist kein Pokerspiel, weil das kein Spiel ist"
    Münchenberg: Auch die EU hat solche Papiere veröffentlicht über die möglichen Konsequenzen, falls die Brexit-Verhandlungen doch scheitern sollten. Das hört sich in meinen Ohren eher an wie ein großes Poker-Spiel, das da derzeit abläuft…
    Barnier: Nein, das ist kein Pokerspiel, weil das Ganze kein Spiel ist. Der Brexit ist kein Spiel, er ist viel zu ernst. Unsere Verantwortung und also auch die der Geschäftswelt, der Gewerkschaften, der Bürger, der Regierung ist es, auf alle Optionen vorbereitet zu sein. Deshalb haben wir vorm Sommer diese 70 Mitteilungen vorgelegt. Das schließt auch den No Deal mit ein.
    Münchenberg: Nun hat ja auch die britische Regierung vor einigen Monaten ihre Position präzisiert. Theresa May schlägt demnach vor, dass man bei den künftigen Beziehungen eine Art Freihandelszone für Waren schaffen könnte. Müsste sich denn jetzt nicht auch die EU endlich kompromissbereiter zeigen?
    Barnier: Wir sind von Anbeginn an bereit gewesen, eine starke Beziehung einzugehen. 27 Staats- und Regierungschefs, darunter auch Angela Merkel sowie der französische Präsident und weitere Staatschefs, haben dem Vereinigten Königreich eine einmalige Partnerschaft vorgeschlagen. Keine simple Handelspartnerschaft für Waren und gewisse Dienstleistungen durch ein Freihandelsabkommen. Das war unser Vorschlag, und es freut uns, dass das Vereinigte Königreich ihm zugestimmt hat. In bestimmten Bereichen, Luftfahrt, Zusammenarbeit in den Bereichen Universitäten und Forschung, bis hin zur inneren und äußeren Sicherheit sowie Außenpolitik sind wir bereit, diese starke und bis dato einmalige Partnerschaft aufzubauen.
    "Der Binnenmarkt ist unser wichtigstes Gut"
    Aber sie kann nicht zu Lasten dessen errichtet werden, was wir sind. Der Binnenmarkt, der Heimatmarkt, ist ja unser wichtigstes Gut. Das Vereinigte Königreich möchte zu unserem Bedauern austreten, aber wir setzen die Entscheidung um. Wir respektieren alle roten Linien des Vereinigten Königreichs. Sie wollen sich nicht an die Regeln der Charta der Gerechtigkeit halten, sie wollen nicht unserem Rechtsrahmen folgen, sie wollen nicht zahlen, sie wollen keine Freizügigkeit. Alle diese Punkte sind die Eckpfeiler des Binnenmarkts und der EU. Also müssen wir bewahren und schützen, was uns ausmacht.
    Münchenberg: Keine harte Grenze zwischen Irland und Nordirland, das ist die ganz klare Position der Europäischen Union. Auf der anderen Seite hat ja London deutlich gestellt, dass man keine Lösung akzeptieren wird, die die Einheit des Landes gefährdet. Das hört sich für mich eigentlich an wie eine "Mission Impossible".
    Barnier: Der Fall Irland ist ein sensibler Punkt, da spürt man viele negativen Folgen des Brexits. Da müssen wir besonders vorsichtig sein, denn die Lage in Nordirland ist sehr fragil. Auch hier wieder müssen die britischen Politiker Verantwortung für ihre eigenen Entscheidungen übernehmen. Der Brexit schafft Probleme in Nordirland. Da das Vereinigte Königreich aus dem Binnenmarkt austritt, tritt auch Nordirland aus dem Binnenmarkt und der Zollunion aus. Wir müssen eine Lösung finden, um den Warenverkehr zu kontrollieren, ohne dabei die Grenze zwischen Nordirland und Irland wieder aufzubauen.
    Vorschlag einer Ausnahmeregelung für Irland
    Münchenberg: Und das ist möglich?
    Barnier: Ich denke schon. Wir haben vorgeschlagen, ausnahmsweise Nordirland ins Zollgebiet mit aufzunehmen und die Warenverkehrsgesetze zwischen Nordirland und dem EU-Binnenmarkt aufeinander abzustimmen. Das ist ein außergewöhnlicher Vorschlag für die EU-Chefs. Wir dürfen diesen Vorschlag aber auch nicht so dramatisch bewerten. Wir müssen eben auf die notwenigen Warenkontrollen schauen und ich bin sicher, wenn wir eine Lösung finden wollen, ohne Grenzen und so, dass das Vereinigte Königreich Wort halten kann und auch das Karfreitags-Abkommen wahren und den Frieden in Nordirland fördern kann, können wir eine Lösung finden.
    Münchenberg: Gibt es in Brüssel immer noch die Hoffnung, dass es ein zweites Referendum in Großbritannien geben könnte, dass die Menschen sagen, der Brexit ist eine schlechte Idee?
    Barnier: Ich hatte Ihnen ja bereits gesagt, was ich vom Brexit halte. Darauf möchte ich nicht noch einmal eingehen. Als Chefunterhändler für die EU der 27 ist es nicht meine Aufgabe, britische Innenpolitik zu machen. Ich verhandle im Namen der 27 EU-Staaten, dem EU-Parlament, das eine Schlüsselrolle dabei spielt. Wir dürfen nie vergessen, dass das Parlament das letzte Wort bei den Brexit-Verhandlungen hat. Wir müssen mit der britischen Regierung, mit Frau May verhandeln. Wir müssen berücksichtigen, was sie zu sagen haben. Und sie haben gesagt, dass sie aus der EU, dem Binnenmarkt und der Zollunion austreten wollen. Also müssen wir diese Entscheidung umsetzen. Das ist das Einzige, was ich als Verhandlungsführer dazu sagen kann.
    Barnier als Spitzenkandidat der EU-Konservativen?
    Münchenberg: Herr Barnier, ich möchte noch eine Frage zu einem anderen Thema stellen. Wollen Sie eigentlich Spitzenkandidat der Konservativen, der EVP für die Wahlen zum Europäischen Parlament im nächsten Jahr werden?
    Barnier: Nein, diese Frage kenne ich schon, und ich verstehe das Interesse. Aber um es ganz klarzustellen: Bei mir geht es einzig um den Brexit. Da muss ich jetzt erst mal abliefern. Und darauf möchte ich mich auch heute konzentrieren.
    Münchenberg: Aber auf der anderen Seite beginnt ja demnächst der Nominierungsprozess, und das schon im nächsten Monat, im September… da müssen Sie schon sagen, was Sie wollen.
    Barnier: Ja, ich sage immer, was ich will. Ich will meine Verantwortung voll übernehmen und meinen Auftrag ausführen und den Brexit so gut wie möglich zu Ende führen. Das ist meine Verantwortung heute.
    Münchenberg: Herr Barnier, vielen Dank für das Interview.
    Barnier: Auf Wiedersehen und danke.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.