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Brexit
"Eine Lösung wie für Norwegen"

Gestern haben die Brexit-Verhandlungen mit der EU begonnen. Der britische Liberaldemokrat Graham Watson hält es für möglich, dass Großbritannien Teil des wirtschaftlichen, aber nicht Teil des politischen Europas werde - wie etwa auch Norwegen. Im Parlament gebe es keine Mehrheit für einen harten Brexit, sagte er im Dlf.

Graham Watson im Gespräch mit Christiane Kaess | 20.06.2017
    Liberaldemokrat Graham Watson.
    Liberaldemokrat Graham Watson. (imago stock & people)
    Christiane Kaess: Der Brexit hat nichts mit dem Terror in Großbritannien zu tun, aber beide halten das Land seit Monaten in Atem, und zwar auf beispiellose Art und Weise. Zuletzt war in der Nacht zum Montag ein Lieferwagen vor einer Moschee in eine Menschengruppe gerast. Premierministerin May sprach von einer furchtbaren Terrorattacke wieder einmal in London. Hinzu kommt dann noch die Großbrandkatastrophe in London von letzter Woche, das alles vor dem Hintergrund einer äußerst schwierigen Regierungsbildung, nachdem die konservativen Tories unter Premierministerin May bei den vorgezogenen Neuwahlen für das Parlament die absolute Mehrheit verloren haben.
    Gestern haben nun die Verhandlungen für den Brexit begonnen. Bis März 2019 sollen Großbritannien und die EU dann auch ganz offiziell geschieden sein. Graham Watson gehört der Partei der Liberaldemokraten in Großbritannien an und er war ehemals Mitglied des Europaparlaments, und er ist jetzt am Telefon. Guten Morgen, Herr Watson.
    Graham Watson: Guten Morgen.
    Kaess: Herr Watson, wie würden Sie im Moment die Stimmung in Großbritannien beschreiben?
    Watson: Die Stimmung ist schwierig, da es in der Tat noch keine Regierung gibt. Das heißt, das Parlament hat noch nicht neu angefangen. Es scheint, dass die großen Firmen sich immer mehr Fragen stellen über Brexit und was das meint, und es scheint auch, dass es im neuen Parlament eigentlich keine Mehrheit gibt für einen Austritt aus der Zollunion zum Beispiel, was David Davis schon angekündigt hat gestern in Brüssel.
    Kaess: Lassen Sie uns, bevor wir noch näher auf den Brexit eingehen, noch einmal kurz zurückblicken auf diesen Anschlag in der Nähe einer Moschee in London in der vorvergangenen Nacht. Haben Sie den Eindruck, Herr Watson, dass sich an der Stimmung im Lande etwas dreht? Richtet sich der Hass jetzt offen gegen Muslime?
    Watson: Es gibt leider und besonders seit der Volksabstimmung im letzten Jahr einen Hass gegen Muslime. Natürlich macht es das schwieriger im Land, aber ich finde nicht, dass das irgendwie einen großen Impact noch auf unsere Politik hat. Die größeren Sachen sind eigentlich, wie es mit der Regierung liegt, und viele, viele Fragen über das Feuer im Turm in London.
    "Großbritannien war nicht sehr vorbereitet"
    Kaess: Sie haben es schon gesagt: Gestern die Brexit-Verhandlungen, sie haben begonnen. Und in Brüssel hieß es, die erste Runde sollte vor allem Vertrauen zwischen EU-Unterhändler Michel Barnier und Brexit-Minister David Davis aufbauen. Wie zerrüttet ist denn das Verhältnis, wenn man schon vertrauensbildende Maßnahmen braucht?
    Watson: Ja, das scheint ein bisschen merkwürdig, dass man solches nötig hat. Aber ich finde, alle sagen, der Start der Verhandlungen ist gut gelungen. Großbritannien war nicht sehr bereit, nicht sehr vorbereitet. Barnier hat vorgeschlagen einen Termin und eine Prozedur und David Davis für Großbritannien hat das angenommen. Es gab keine sehr tiefen Diskussionen gestern, aber die Prozedur ist angefangen, fast ein Jahr nach der Volksabstimmung in Großbritannien. Ich hoffe nur, dass die Regierung andauert, diese Verhandlungen durchzubringen. Das weiß niemand. Die Position von Theresa May, unserer Premierministerin, scheint etwas schwach im Moment zu sein.
    "Für einen harten Brexit keine Mehrheit"
    Kaess: Herr Watson, Sie haben gerade gesagt, Großbritannien ist nicht wirklich vorbereitet, und da fragt man sich tatsächlich auf Seiten der EU immer noch, wo will Großbritannien in den Brexit-Verhandlungen eigentlich genau hin. Wissen Sie es?
    Watson: Es ist gesagt im Wahlprogramm der Konservativen Partei, man soll nicht mehr Mitglied des Binnenmarktes oder der Zollunion sein. Aber ich glaube nicht, dass es eine Mehrheit im Parlament Großbritanniens gibt, Großbritannien aus der Zollunion rauszubringen. Es kann auch sein, dass es eine Mehrheit gibt, innerhalb des Binnenmarkts zu bleiben. Das bedeutet drei Probleme. Erstens keine offizielle Regierung bis jetzt, zweitens eine große Trennung im Kabinett zwischen denen, die einen Verbleib wollen, und denen, die ganz raus aus der Union gehen wollen. Und drittens ein Parlament, wo es für einen harten Brexit keine Mehrheit gibt. Hier brauchen wir eine Regierung nationaler Einheit und es kann sein, dass es dazu kommt, wenn Theresa May es nicht schafft, im Amt zu bleiben.
    Kaess: Aber wenn ich Sie richtig verstehe, Herr Watson, dann gehen Sie davon aus, dass dieser ganz harte Brexit, wie Premierministerin May das will, überhaupt nicht kommen wird.
    Watson: Ich glaube, es wird so: Es gibt innerhalb der Labour Party keine Mehrheit dafür. Innerhalb der Konservativen ja, aber anderer Parteien nicht. Und auch nicht bei den Politikern aus Nordirland, die für Theresa May wichtig sind, um ihr eine Mehrheit zu geben.
    "Nicht auszuschließen ist eine Lösung wie für Norwegen"
    Kaess: Dann ist die Frage natürlich, wie weit das Ganze aufgeweicht wird. Halten Sie es tatsächlich für realistisch, dass Großbritannien doch im Binnenmarkt verbleibt?
    Watson: Ich hoffe, es könnte so sein. Ich weiß nicht, ob das einfach wird, aber was nicht auszuschließen ist, ist eine Lösung wie für Norwegen, wo sie Teil des wirtschaftlichen Europas sind, aber nicht Teil des politischen Europas.
    Kaess: Aber das hieße dann ja auch, dass Großbritannien nach wie vor die anderen Freiheiten der EU akzeptieren müsste, und dann hätte es wieder keine Handhabe über seine Einwanderungspolitik, oder?
    Watson: Es könnte so sein. Man weiß nicht. Am besten, viele Leute wissen das. Am besten wäre, dass wir so wie bis jetzt weitergehen, das heißt, dass wir immer noch Mitglied der Europäischen Union bleiben. Ich halte das für sehr unwahrscheinlich. Es gibt innerhalb der zwei großen Parteien keine Mehrheit dafür. Ich glaube, wir werden eine andere Lösung finden müssen. Aber wie hart diese Lösung sein kann, ist im Ganzen unklar im Moment, und deshalb wird es sehr schwierig für Michel Barnier und Jean-Claude Juncker, mit Großbritannien solche Verhandlungen zu führen. Großbritannien weiß nicht, unsere eigenen Verhandler wissen noch nicht, was akzeptabel für das Land ist und was möglich an Unterstützung im Parlament zu kriegen sei.
    "May sagt nichts über die, die in Zukunft nach Großbritannien reisen wollen"
    Kaess: Dann schauen wir zum Schluss noch auf die Punkte, die jetzt schnell konkret werden sollen zu Beginn dieser Brexit-Verhandlungen, nämlich zum Beispiel die Frage der EU-Bürger in Großbritannien. Ihre Einschätzung, wird die britische Regierung diesen EU-Bürgern entgegenkommen?
    Watson: Theresa May hat gesagt, sie wird am Donnerstag beim Gipfel der EU etwas sagen. Sie hat gesagt, es wird generös. Sie hat gesagt, für die Leute aus anderen EU-Mitgliedsstaaten, die schon in Großbritannien sind, sollte es kein Problem sein. Aber natürlich sagt sie nichts über die Möglichkeiten für Leute, die in Zukunft nach Großbritannien reisen wollen, und es sind viele, die immer noch dieses Recht haben. Es sind auch Briten, die in anderen EU-Mitgliedsländern wohnen. Wir werden sicher eine Lösung für diese Leute finden, aber es kann sein, dass das nicht einfach wird, da Großbritannien für zukünftige Einwanderer keinen fairen Deal geben will, oder mindestens ist es nicht klar.
    Kaess: … sagt Graham Watson. Er gehört den Liberaldemokraten in Großbritannien an und er war ehemals Mitglied des Europaparlaments. Danke für Ihre Zeit heute Morgen, Herr Watson.
    Watson: Danke sehr!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.