Dienstag, 23. April 2024

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Brexit und die Demokratie
Steckt der britische Parlamentarismus in der Krise?

Heftige Kritik an Premierminister Boris Johnson: Abgeordneten zufolge will er einen Brexit ohne Vertrag durchbringen, indem er das Parlament in eine Pause schickt. Für den britischen Parlamentarismus sei dadurch aber keine Krise ausgelöst worden, sagt Rechtswissenschaftler Florian Meinel von der Universität Würzburg. Eine solche Krise habe schon längst mit dem Referendum im Jahr 2016 begonnen.

Prof. Florian Meinel im Gespräch mit Christoph Schäfer | 29.08.2019
Das britische Unterhaus in London
Premier Boris Johnson setzt eine Zwangspause für das Britischen Parlaments an. (www.imago-images.de)
Christoph Schäfer: Die Pause für das britische Parlament von Mitte September bis Mitte Oktober ist auch von der Queen genehmigt. Premier Boris Johnson erntet nun heftige Kritik von Abgeordneten sämtlicher Parteien in Großbritannien: Ihnen zufolge will Johnson sie in eine Zwangspause schicken und sie so daran hindern, einen Brexit ohne Abkommen zu verhindern. Was das für den britischen Parlamentarismus nun bedeutet, darüber habe ich kurz vor der Sendung mit Florian Meinel gesprochen. Er ist Professor am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Universität Würzburg. Außerdem Autor des Werks "Vertrauensfrage - Parlamentarismus in der Krise?"
Und genau diese Frage - ob der britische Parlamentarismus in der Krise steckt – das habe ich ihn zuerst gefragt.
Florian Meinel: Ja sicher. Das tut er, aber schon seit einer ganzen Zeit. Im Grunde tut er das ja seit Beginn des Referendums. Der Vorgang, den wir jetzt beobachten, ist nicht so außergewöhnlich. Eine solche Prorogation des Parlaments bedeutet ja, dass alle noch laufenden Gesetzgebungsverfahren sich erledigen und danach eine neue Sitzung beginnt. Das ist an sich jedes Jahr um diese Zeit üblich. Freilich normalerweise nur für ein paar Tage. Natürlich läuft normalerweise auch nicht gerade eine EU-Austrittsfrist ab.
Schäfer Aber man muss dazu sagen, die Zeit durch diese Zwangspause, die Boris Johnson nun verordnet und von der Queen genehmigt wurde, die schränkt den Einfluss der Abgeordneten in der Brexit-Frage schon enorm ein.
Britischer Premierminister mit verfassungsrechtlichem Problem
Meinel: Das ist sicherlich richtig. Und natürlich ist auch vieles, was da an Kritik geäußert wird, berechtigt. Aber es ist mir ein bisschen billig, die Hände über dem Kopf zusammen zu schlagen und zu sagen "Ja, wie kann er nur" und "Anschlag auf die Verfassung". Man muss sich vielleicht nochmals in Erinnerung rufen, dass die Tories ja 2017 bei der Wahl ganz offiziell mit der Botschaft angetreten sind, dass ein Austritt ohne Abkommen besser sei als ein schlechtes Abkommen. Und in gewisser Weise ist das immer eine Schwäche der May-Regierung gewesen, diese Drohung mit dieser Option, intern und extern aus der Hand gegeben zu haben.
Und das verweist vielleicht auf ein viel fundamentaleres verfassungsrechtliches Problem: Dass der britische Premierminister seit einer Gesetzesänderung von 2011 das alte angestammte Recht nicht mehr hat, das Unterhaus einfach aufzulösen und Neuwahlen selbst herbeizuführen. Und damit das Risiko einzugehen, eine Wahl zu gewinnen oder zu verlieren. Das hatte er bis 2011. Dadurch gibt es jetzt in der Situation keinen echten verfassungsrechtlichen Ausweg. Denn ich meine, dass Boris Johnson sein Amt nicht der Fraktion, also nicht dem Parlament, sondern den Parteimitgliedern verdankt, das ist ja ein ernsthaftes Problem für ihn.
Und die Tatsache, dass es ein Parlament ist, in dem es nur negative Mehrheiten gibt, ist ja auch ein Problem, das Johnson nicht irgendwie erzeugt hat, sondern das er geerbt hat. Und deswegen ist es aus seiner Sicht, würde ich sagen, um ihn so ein bisschen zu verstehen, nicht unplausibel, dass er das an sich anders gemeinte Instrument der Parlamentsferien, also der Prorogation, benutzt, um in der gegenwärtigen Krise irgendwie eine Entscheidung in diesem Machtkampf zu suchen, in dem er dann irgendwie zu Neuwahlen kommen kann.
"Das Parlament hat seiner eigenen Entmachtung zugearbeitet"
Schäfer:Sehen Sie jetzt keinen tiefen Einschnitt in der Geschichte des britischen Parlamentarismus in dieser Sache.
Meinel: Na ja, es ist schon ein Einschnitt, aber der Einschnitt liegt vielleicht woanders. Denn der Einschnitt liegt vielleicht darin, dass mit dem Referendum damals etwas in diesem diffizilen Gefüge des britischen Regierungssystems, ich will nicht sagen kaputt gegangen, aber doch ins Wanken geraten ist, weil dieses Referendum im Grunde ein Fremdkörper in diesem System ist. Das kann aber aus politischer Opportunität niemand sagen. Denn den Willen des Volkes ignorieren, will offiziell niemand. Der Wille des Volkes ist aber auch so diffus, dass alle sagen können, dass sie ihn vollziehen. Deswegen ist natürlich klar, dass beide - Regierung und Opposition - versuchen, sich auf das Volk zu berufen. Die Opposition versucht, das Verhalten von Boris Johnson als Staatsstreich von oben hinzustellen. Und natürlich macht die Persönlichkeit des Premierministers diese Lesart plausibel. Andererseits aber, vielleicht gehört auch das zur Wahrheit, muss ja mit diesem konkreten Parlament, was sie haben, sicherlich niemand sonderlich großes Mitleid haben. Denn es hat es in Monaten nicht geschafft, eine positive Mehrheit für irgendwas zu bilden und hat damit in gewisser Weise seiner eigenen Entmachtung zugearbeitet.
Schäfer: Aber Sie haben vorhin den Willen des Volkes erwähnt. Wer sollte in dieser heißen Phase des Brexit die Politik an die Bürger herantragen, wenn nicht die Abgeordneten?
Meinel: Das ist eben eine offene Frage. Das parlamentarische Regierungssystem kennt ja beide Möglichkeiten. Gerade das britische parlamentarische Regierungssystem ist historisch ganz stark dadurch geprägt und im Grunde erst dadurch entstanden, dass die politische Führungsverantwortung, das Recht der Gesetzgebungsinitiative, das Recht die Tagesordnung des Parlaments zu bestimmen, eben gerade nicht beim Parlament, sondern bei der Regierung liegt. Und dadurch Parlament und Regierung zu einer Einheit verbunden sind, wo man nicht mehr so genau sagen kann, ob es die parlamentarische Mehrheit ist, bei der die Führung liegt oder die Regierung. Und das ist ja im Grunde im Moment das Problem, dass wir einen tiefgreifenden Riss, eine tiefgreifende institutionelle Störung haben im Verhältnis von Regierungsmehrheit im Parlament, vom Parlament einerseits und der Regierung auf der anderen Seite.
Misstrauensvotum gegen Johnson als letztes Mittel?
Schäfer: Welche Gegenmaßnahmen könnten die Parlamentarier jetzt noch ergreifen?
Meinel: Ich sehe mal von der etwas vagen Möglichkeit ab, die Sitzungspause jetzt auf gerichtlichem Weg zu stoppen. Da bin ich mir nicht so richtig sicher, an was die da denken. Die Chancen des Parlaments jetzt noch ein Gesetzgebungsverfahren durchzubringen, was dann einen No-Deal ausschließt, sind vermutlich tatsächlich sehr gering. Allerdings ist auch das, glaube ich, nach dem 14. Oktober zumindest theoretisch noch möglich. Die einzige Möglichkeit, die dann bliebe, wäre ein erfolgreiches Misstrauensvotum gegen Johnson auf Antrag der Opposition nächste Woche. Denn danach hätte die Opposition 14 Tagen Zeit, eine neue Regierung zu bilden oder eine Gesetzgebung auf den Weg zu bringen, die das No-Deal-Szenario ausschließt. Aber welche Regierung das sein soll, ist im Moment auch noch völlig offen, so dass auch das im Grunde jetzt im Moment keine sonderlich greifbare Strategie ist.
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