
Noch vor gut einer Woche hatte die spanische Regierung in Brüssel wissen lassen, dass sie den Austrittsvertrag und besonders das angehängte Protokoll zu Gibraltar ausdrücklich begrüßt. Das ist wenig erstaunlich, sie hat schließlich selbst daran mitgearbeitet, wie der Verhandlungsführer der EU-Kommission, Michel Barnier betont:
"Das Protokoll zu Gibraltar ist Teil eines größeren Pakets bilateraler Vereinbarungen zwischen Spanien und dem Vereinigten Königreich im Zusammenhang mit Gibraltar."
Dieses Protokoll verstärkt die Zusammenarbeit etwa im Kampf gegen Zigarettenschmuggel und gegen Geldwäsche. Und es sichert den reibungslosen Grenzübertritt für die 10.000 spanischen Arbeiter, die jeden Tag nach Gibraltar pendeln, auch für die Zeit nach dem EU-Austritt.

Als die britische Premierministerin Theresa May letzte Woche in der Downingstreet vor die Presse trat, konnte man förmlich spüren, wie dünn der Faden ist, an dem das Abkommen hängt:
"Der Vertragsentwurf ist das Ergebnis von vielen tausend Stunden harter Verhandlungen zwischen London und Brüssel, erklärte die britische Premierministerin Theresa May hörbar nervös, der Entwurf ist das beste Ergebnis, das bei den Verhandlungen mit Brüssel möglich war."
Auf 585 Seiten soll der Vertrag den geordneten Rückzug des Vereinigten Königreiches aus der Europäischen Union regeln. Doch im Grunde regelt der Austrittsvertrag vor allem, dass bis zum 31. Dezember 2020 erst einmal alles so bleibt wie es ist. Immer vorausgesetzt, dass der Vertrag sowohl von den 27 EU-Regierungen und vom Europäischen Parlament, als auch vom britischen Parlament gebilligt wird. Vor allem die britische Zustimmung gilt als äußerst unsicher. Vermutlich steht deshalb der wichtigste Satz des Abkommens ganz weit hinten, etwas versteckt, in Artikel 127:
"Die Gesetze der Europäischen Union gelten während der Übergangsphase in und für das Vereinigte Königreich."

Der spürbare Austritt wird dann auf den 1. Januar 2021 verschoben, auf das Ende der Übergangsperiode. Die EU und London haben sich erst einmal 21 Monate mehr Zeit gegeben. An diesem 1. Januar 2021 könnte sich dann in der Tat sehr vieles verändern, doch was und wie viel, das muss erst noch zwischen der EU und der britischen Regierung ausgehandelt werden. Das sollen beide Seiten in der Übergangsphase klären. Der jetzt vorliegende Vertragsentwurf sagt über das künftige Verhältnis Großbritanniens zu seinen bisherigen Partnern nichts aus. Ein paar Andeutungen zu einem möglichen Handelsvertrag, zur Rolle des Europäischen Gerichtshofes, zu möglichen Schiedsgerichten und dass die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz, Polizei und Außenpolitik weiter gehen soll.
Ziemlich deutlich wird der Vertrag dagegen bei den finanziellen Verpflichtungen Großbritanniens. In Artikel 155 heißt es unmissverständlich:
"Das Vereinigte Königreich kommt allen seinen Verpflichtungen nach, die es vor dem Inkrafttreten dieses Vertrages eingegangen ist."
"Bei den Zahlungsverpflichtungen geht es sozusagen um die Scheidungssumme, die man dann noch zahlen muss, um den Partner zu entschädigen. Es geht konkret um die Beiträge, die Großbritannien eben noch in den EU-Haushalt einzahlen muss. Das beläuft sich jährlich so auf ungefähr zehn Milliarden Euro. Insgesamt geht es so um 40 Milliarden Euro. Da sind dann noch Kosten drin, die Großbritannien mittragen muss. Unter anderem für die Pensionskosten von britischen EU-Mitarbeitern und so weiter."
Es könnte auch etwas mehr werden. Schließlich schwanken die Kosten für die einzelnen Programme und Initiativen von Jahr zu Jahr. Doch von den 100 Milliarden Euro, die in Brüssel unmittelbar nach dem Brexit-Votum genannt wurden, ist längst nicht mehr die Rede. Diese gigantische Summe hatte in Großbritannien viele erschreckt und vor allem jene politischen Kräfte gestärkt, die am liebsten ohne jeden Vertrag aus der EU ausscheiden wollten. No Deal, das hätte bedeutet, dass London auch nichts zahlt. Und je höher die Scheidungskosten gerechnet wurden, desto attraktiver schien es vielen Briten, die EU ohne Vertrag zu verlassen.
Der Vertragsentwurf verzichtet darauf, Summen zu nennen. Das könne man jetzt noch nicht so genau sagen, heißt es. Die Schätzungen haben sich aber bei 40 bis 45 Milliarden eingependelt, ein Summe, mit der beide Seiten leben können. Um die Kritik der britischen Konservativen am Scheidungsvertrag nicht unnötig anzuheizen, hat die EU-Kommission offenbar aufgehört, jede EU-Initiative mit britischer Beteiligung auf ihre möglichen Folgekosten hin zu prüfen.
Dieser Artikel war für die Europäische Kommission erklärtermaßen einer der wichtigsten überhaupt. Er soll sicherstellen, dass beispielsweise Deutsche, die schon lange in England leben oder Engländer, die in Deutschland leben, trotz des Brexits weiter in ihren Gastländer bleiben können.
Für die britische Regierung war das einer der heikelsten Punkte. Schließlich war die Ablehnung von Ausländern eines der Hauptargumente für den Austritt aus der EU. In allen britischen Diskussionsrunden vor und nach dem Brexit-Votum wurde der berühmte polnische Klempner bemüht, um eine Überfremdung des Königreiches zu illustrieren und die Notwendigkeit zu unterstreichen, die Kontrolle über Großbritannien zurückzugewinnen.
Die britische Regierung hätte die Grenzen des Aufenthaltsrechts gerne enger gezogen. Aber die EU-Kommission blieb hartnäckig. In mehr als 20 Artikeln werden deshalb die Rechte und Bedingungen aufgelistet, unter denen EU-Bürger in Großbritannien leben und arbeiten dürfen. Dasselbe gilt für Briten in der EU.
So wie es aussieht, wird es für alle EU-Bürger, die nach dem 1.Januar 2016 nach Großbritannien gezogen sind, schwierig werden. Sie werden zum Ende der Übergangsperiode weniger als fünf Jahre im Land gewesen sein und könnten deshalb jederzeit ausgewiesen werden.

Einen Teil dieser Schlussfolgerungen haben EU und London in die politische Erklärung gepackt, die sie dem Brexit-Vertrag nun nachträglich angehängt haben. Dort ist von einer künftigen weitreichenden Partnerschaft die Rede, aber auch von einer zeitlichen Begrenzung der in London so umstrittenen Zollunion als Auffanglösung für Nordirland. Diese Erklärung soll das britische Parlament milde stimmen für die Abstimmung über das Brexit-Abkommen.
"Es geht in dem Brexit-Vertrag nur um den Rückzug Großbritanniens aus der EU. Es geht nicht um die künftigen Lang-Zeit-Beziehungen. Aber sehr viele Beobachter sagen, dass die Verhandlungsergebnisse eine gute Basis sind, um über die künftigen Beziehungen nachzudenken. Deshalb stürzen sich viele jetzt auf die Schlussfolgerungen der EU-Kommission zu diesem Austrittsvertrag, Schlussfolgerungen, die eine Vorstellung geben, wie der endgültige Deal aussehen könnte. Ein Ergebnis, bei dem Großbritannien sehr nahe an der Europäischen Union dranbleiben würde."
Das Grundgerüst dieses Modells findet sich bereits im Brexit-Vertrag, gut verpackt als Notlösung im Nordirland-Protokoll. Sollten die Verhandlungen über die künftigen Wirtschaftsbeziehungen scheitern, ist eine zeitlich begrenzte Zollunion unter Einschluss von ganz Großbritannien vorgesehen. Damit soll eine harte Grenze zwischen der Republik Irland und der britischen Provinz Nordirland vermieden werden.
"Die Europäische Union und das Vereinigte Königreich verpflichten sich, die Prinzipien der guten Regierungsführung in Steuerfragen umzusetzen, einschließlich der globalen Standards bei Transparenz und Informationsaustausch. Sie verpflichten sich zu fairer Besteuerung und zu den OECD-Standards gegen die Erosion der Steuerbasis und gegen Profitverschiebung."
"Wir entwerfen hier die Grundlage für eine ambitionierte Partnerschaft. Wir wollen eine Freihandelszone, die auf einem vertieften Regelwerk und einer Zollzusammenarbeit beruht. Alle Marktteilnehmer sollen die gleichen Bedingungen haben. Wir wollen, dass alle Güter frei von Zöllen und Importquoten sind. Das ganze basiert auf einer einheitlichen Freihandelszone, wie wir sie im Brexit-Abkommen vorgeschlagen haben."
EU-Verhandler Barnier geht inzwischen offensichtlich davon aus, dass Großbritannien nach der Übergangszeit endgültig aus dem Europäischen Binnenmarkt austreten wird. Denn während die EU darauf besteht, dass zum Binnenmarkt unbedingt auch der Dienstleistungssektor und die Personenfreizügigkeit gehören, möchte London gerne auf beides verzichten.
Die Personenfreizügigkeit widerspricht dem erklärten Ziel der britischen Regierung, weniger Ausländer ins Land zu lassen. Und der Dienstleistungssektor umfasst die gesamte Finanzbranche, die London gerne vor europäischen Regeln schützen würde. Maria Demertzis vom Bruegel-Institut in Brüssel:
"Für Großbritannien wäre es interessant, Zugang zum Güter-Binnenmarkt zu haben, also für den Handel mit Waren, aber dann ein besonderes Arrangement für Dienstleistungen, also für alles, was beispielsweise die Banken oder Versicherungen machen. Finanzdienstleistungen sind von herausragender Wichtigkeit für Großbritannien, und da hätten sie gerne die Möglichkeit, die Bedingungen und Spielregeln für grenzüberschreitende Finanzdienstleistungen selbst zu gestalten."

"Entscheidend für die Europäische Union ist die Frage der Regulierung. Welche Spielregeln müssen die Banken einhalten. Die EU möchte verhindern, dass Großbritannien die Regeln für die britischen Banken aufweicht. Das ist wichtig allein schon für die Stabilität des Finanzsektors. Das ist die Art von Dingen, die Großbritannien künftig möglicherweise anders machen könnte und das mit Zugang zum Europäischen Markt. Die EU möchte sicher sein, dass das nicht passiert."
Das Druckmittel für die Europäische Union ist der Güter-Binnenmarkt. Für den Zugang zu diesem Markt scheint London bereit zu sein, auch Zugeständnisse in vielen anderen Fragen zu machen.
Im Entwurf zum Brexit-Abkommen findet sich nun erstaunlicherweise ein Passus, der ausdrücklich die Einrichtung solcher Schiedsgerichte zum Ende der Übergangsperiode vorsieht. In Artikel 171 heißt es:
"Die Europäische Union und das Vereinigte Königreich schlagen jeweils zehn Personen vor, die willens und geeignet sind, als Mitglieder eines Schiedsgerichtes aufzutreten. Die Europäische Union und das Vereinigte Königreich schlagen darüber hinaus gemeinsam fünf Personen vor, die als Vorsitzende dieser Schiedsgerichte fungieren."
"Überall, wo die Meinungsverschiedenheiten mit der Auslegung von EU-Gesetzen zu tun haben – und die Gesetze der EU sind praktisch überall in diesem Abkommen – wird der Europäische Gerichtshof selbstverständlich weiterhin seine Rolle spielen."
In der Übergangszeit bis zum 31. Dezember 2020 soll ohnehin weiter der Europäische Gerichtshof in allen juristischen Streitfällen zuständig sein. Maria Demertzis vom Bruegel-Institut glaubt, dass sich die aufgeheizte Stimmung in London in den nächsten Monaten abkühlen wird. Dann werde es auch wieder einfacher sein, über die langfristigen Beziehungen zwischen Europäischer Union und Großbritannien zu reden.