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Brexit
Zweites Referendum "wäre die klügste Lösung"

Der britische Blogger Jon Worth ist dafür, die Briten in Sachen Brexit erneut abstimmen zu lassen: und zwar entweder für Theresa Mays Austrittsabkommen oder gegen den Brexit. Das wäre eine viel konkretere Abstimmung als 2016, sagte er im Dlf. Dass May ihren Brexit-Plan durch das Unterhaus bekommen wird, sei unwahrscheinlich.

Jon Worth im Gespräch mit Sandra Schulz | 22.03.2019
Eine Frau in einem roten Mantel geht in London an einer Absperrung vorbei, an der eine britische und eine EU-Flagge hängen.
Gehen oder bleiben - darüber sollten die Briten erneut abstimmen, wenn es nach Jon Worth geht (picture alliance / Stephen Chung)
Sandra Schulz: Was, wenn das britische Unterhaus den Brexit-Vertrag auch in der kommenden Woche nicht annimmt? Das war eine der Fragen, auf die die britische Premierministerin Theresa May den anderen 27 Staats- und Regierungschefs der EU gestern keine klare Antwort geben konnte. Einen Aufschub haben sie aber trotzdem in der Nacht beschlossen. Sollte Theresa May den Deal überraschend in der kommenden Woche doch durchs Parlament bekommen, obwohl sie damit schon zweimal durchgefallen ist, dann kann Großbritannien bis zum 22. Mai bleiben. Falls nicht, gilt die Verlängerung nur bis zum 12. April.
Darüber wollen wir in den kommenden Minuten sprechen. Am Telefon ist Jon Worth. Er begleitet dieses zähe Ringen um den Brexit auf seinem Euroblog, ist Lehrbeauftragter am College of Europa in Brügge und britischer Staatsbürger. Schönen guten Morgen!
Verlängerung oder No Deal?
Jon Worth: Guten Morgen!
Schulz: Herr Worth, ist das ein Ergebnis oder ein Nicht-Ergebnis?
Worth: Das ist so ein Zwischenergebnis und das sehe ich auch als großen Erfolg der EU in diesen Verhandlungen. Das gibt Theresa May jetzt drei Wochen Zeit, hierzu eine Lösung für diese Brexit-Situation in Großbritannien zu finden. Das reduziert ein bisschen den Zeitdruck aufs britische Unterhaus, aber am Ende ist aus Sicht der EU auch noch alles in Ordnung, weil dann das Prozedere um eine Europawahl ordentlich zu organisieren ab dem 23. Mai für die EU auch noch vollkommen möglich ist. Ich sehe das aus Sicht der EU als eine gute Lösung und für Großbritannien mit Theresa May auch nicht schlecht.
Schulz: Würden Sie sagen, dass man das Ergebnis jetzt schon darin übersetzen kann, dass wir dann am 12. April einen ungeordneten Brexit bekommen werden?
Worth: Das schließe ich auch aus, weil wir wissen, die Mitglieder des britischen Unterhauses wollen das auf keinen Fall. Was Brüssel in der Nacht beschlossen hat, war: Im Falle, dass das britische Unterhaus keine Einigung in der kommenden Woche finden kann, dann wäre auch bis zum 12. April eine längere Verlängerung möglich. Dieses Datum vom 12. April haben die Regierungschefs gesetzt, genau weil Großbritannien muss dann eine Europawahl organisieren, und es gibt dann genug Zeit, so was zu organisieren. Ich gehe davon aus, dass Theresa May innerhalb von zehn Tagen zurück nach Brüssel gehen muss und sagen: Moment mal! Der Deal kam nicht durch das britische Unterhaus. Wir brauchen eine längere Verlängerung. – Dies sind aus meiner Sicht jetzt die zwei Optionen, die noch im Spiel sind, entweder eine längere Verlängerung, oder dann ein No Deal. Aber ich denke, die Chancen sind am höchsten, dass Großbritannien länger in der EU bleiben wird.
"Gehe davon aus, das der Deal ein drittes Mal abgelehnt wird"
Schulz: Das heißt, die Chancen für Theresa May, diesen vor allem in London ja umstrittenen Deal doch noch durchs Unterhaus zu bekommen, die würden Sie bei über oder unterhalb von zwei Prozent taxieren?
Worth: Jetzt bei fast null. Vor dieser Entscheidung gestern waren die Abgeordneten unter einem riesen Zeitdruck. Dieser Druck ist jetzt ein bisschen geringer geworden. Die Abgeordneten können dann frei entscheiden. Die wissen jetzt, dass andere Optionen, andere Lösungen doch noch möglich sind. Das bedeutet dann, dass dieser Druck, den Theresa May versucht hat, auf die Abgeordneten auszuüben, und auch in den Statements von Theresa May vor ein paar Tagen in Downing Street, das stimmt jetzt nicht so ganz. Aus meiner Sicht: Ich gehe davon aus, weil dieser Deal wurde schon zweimal abgelehnt, er wird kommende Woche noch ein drittes Mal abgelehnt, dann mit einer großen Mehrheit mal wieder.
Schulz: Aber was genau bringt denn dann die Verlängerung?
Worth: Das bedeutet, Großbritannien braucht eine ganz andere politische Richtung in dieser ganzen Brexit-Debatte. Das bedeutet, es gibt einige mögliche Lösungen. Entweder Großbritannien geht dann mehr in Richtung von einem sanfteren Brexit. Man könnte dann eine Lösung finden, dass Großbritannien wieder im EU-Binnenmarkt bleibt oder in einer Zollunion. Das ist das, was einige Konservative und viele Abgeordnete der Labour-Partei wollen. So könnte man dann eine Einigung finden, mehr in Richtung eines sanfteren Brexits. Das ist, was die Abgeordneten gerade suchen. Für die EU könnte das ein bisschen problematisch sein, aber ein sanfter Brexit wäre keine schlechte Lösung für die EU.
Oder dann gibt es andere Lösungen. Großbritannien bekommt eine zweite Volksabstimmung oder theoretisch auch eine Unterhauswahl. Es gibt auch mittlerweile Gerüchte, dass Theresa May selbst zurücktreten könnte. Diese Optionen sind dann im Spiel auf der britischen Seite. Es gibt dann ganz andere Lösungen in Großbritannien. Das ist das, was in der kommenden Woche in Großbritannien debattiert wird.
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Mehr Hintergrundinformationen finden Sie auf unserem Portal "Countdown zum Brexit" (AFP / Tolga Akmen)
Zweites Referendum wäre "die klügste Lösung"
Schulz: Ich finde Ihre Zuversicht sehr sympathisch. Aber erklären Sie uns noch genauer, worauf die fußt. Wir erleben doch jetzt seit Wochen, seit Monaten auch im britischen Unterhaus eine Pattsituation, eine absolute Verhärtung der Fronten, viel parteipolitisches Kalkül auch. Welche Kraft soll denn das jetzt auflösen oder ausbrechen? Was wäre mit dem Rücktritt Theresa Mays gewonnen?
Worth: Aus meiner Sicht wäre ein Rücktritt von Theresa May möglich, aber das ist keine gute Lösung. Die beste und klügste Lösung aus meiner Sicht bleibt, noch eine zweite Volksabstimmung zu organisieren. Das ist der Vorschlag von ein paar Hinterbänklern der Labour-Partei. Die sagen, außer einem zweiten Referendum findet Großbritannien keine Lösung. Das bedeutet, man sagt: Okay, wir wissen alle, ein No-Deal-Brexit ist keine Lösung für Großbritannien. Theresa Mays Deal hat keine große Unterstützung. Wir schicken das wieder ans Volk und dann organisieren wir eine zweite Volksabstimmung. Das wäre aus meiner Sicht noch die klügste Lösung und das könnte doch noch gehen mit dem, was die in Brüssel gestern Abend abgeschlossen haben. Aber dafür braucht man eine längere Verlängerung der Verhandlungsperiode, weil dieses Referendum könnte erst im Herbst dieses Jahres stattfinden.
Schulz: Herr Worth, wir haben doch die Stimmen x-mal gehört, die sagen, ein zweites Referendum, das geht gar nicht, wir können das Volk nicht so lange abstimmen lassen, bis das Ergebnis dann irgendwann mal passt.
Worth: Aber wir können das britische Unterhaus nicht ständig abstimmen lassen, damit das Ergebnis dort doch noch passt. Das ist natürlich auch keine ideale Lösung. Aber der Grund für ein Referendum ist folgender: 2016 in dieser Volksabstimmung, da gab es keine Klarheit. Es gab eine klare Position, den Verbleib, aber was Brexit bedeuten würde, war damals nicht klar. Diesmal haben wir zwei klare Botschaften auf dem Tisch. Die eine ist Theresa Mays Austrittsvertrag und die andere klare Botschaft ist der Verbleib. Es wäre dann eine ganz andere Volksabstimmung diesmal als in 2016. Und wenn das dann für den Brexit ausgeht und Großbritannien geht raus, dann wissen wir diesmal wie, weil zumindest Theresa Mays Plan ist konkret und den könnte man ausführen. Das ist meine Hoffnung, dass es zu einem Referendum kommt, und dann ist dieses Problem letztendlich geklärt. Aber es wird noch einige Monate dauern, bis man diesen Punkt erreichen könnte.
"Das Mehrheitswahlrechtssystem ist ein großes Problem"
Schulz: Im Moment haben wir diese Selbstblockade. Wenn wir den Schritt zurückmachen auf das britische System – ist es so, dass im Moment Großbritannien das auf die Füße fällt, was in der britischen Demokratie immer richtig und gut war, nämlich "the winner takes it all"?
Worth: Es gibt gerade große Spannungen innerhalb des britischen politischen Systems. Das Mehrheitswahlrechtssystem ist hier wirklich ein großes Problem. In Sachen Europapolitik sind die beiden großen traditionellen Parteien tief gespalten, nicht nur die Torys, die Konservativen, sondern auch die Labour-Partei. Großbritannien braucht mittelfristig eine tiefgehende politische Reform, eine komplette Modernisierung der Parlamentsprozeduren und auch eine Reform der politischen Parteien. Ja, das ist dringend nötig und das zeigt die Grenzen vom jetzigen britischen politischen System. Aber der Brexit muss zuerst gelöst werden und dann kann Großbritannien sein eigenes System danach reformieren.
Schulz: Wird Großbritannien jetzt in dieser Krise lernen, was es heißt, Kompromisse zu schmieden?
Worth: Da bin ich nicht so sicher. Wenn man in die britischen Zeitungen schaut, es geht immer noch um Kampf, kann Theresa May etwas in Brüssel gewinnen, oder setzt Theresa May die britische Meinung durch oder so. Ich fürchte, obwohl diese Situation für uns, die in Deutschland leben oder in anderen Ländern der EU, blöd aussieht, Großbritannien steckt in einer sehr schwierigen Lage, das haben viele britische Politiker selbst nicht verstanden. Die haben nicht gesehen, wie ernst diese Situation ist. Viele Briten insgesamt, die generelle Bevölkerung hat das gelernt, aber das politische System bis jetzt leider sehr wenig, wenn man sich das anschaut.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.