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Brexit
Vereint im Verdruss

Beim EU-Austritt des Vereinigten Königreichs ist eigentlich nur klar, dass nichts klar ist. Das nervt auch viele Briten. In ihrem Ärger auf die Politik sind sie sich alle einig - eigentlich aber ist das Land tief gespalten. Ein Blick in zwei der unterschiedlichsten Stadtteile Londons.

Von Christine Heuer | 21.03.2019
Eine Frau in einem roten Mantel geht in London an einer Absperrung vorbei, an der eine britische und eine EU-Flagge hängen.
Unterschiedlicher könnten die Leben der Menschen in den verschiedenen Teile von London kaum sein - beim Brexit eint sie vieles. (picture alliance / Stephen Chung)
Graubraune Reihenhäuser und Schrebergärten säumen den Weg nach Dagenham im äußersten Osten Londons. Die Arbeitslosigkeit ist hier hoch. Die Sozialleistungen sind es auch. Der Stadteil Barking and Dagenham belegt auf einer Liste der zehn unbeliebtesten Wohnorte im Vereinigten Königreich Platz 1.
Beim Brexit-Referendum haben in Dagenham zwei Drittel mit Leave gestimmt. Aus den bekannten Gründen: Kein Diktat mehr aus Brüssel, kein Geld mehr nach Brüssel, der Stolz aufs Königreich, Schluss mit der Zuwanderung. Früher war alles ein bisschen besser.
An der Rainham Road,Hauptstraße, reihen sich kleine Ladenlokale aneinander. Ein "Pay by Coins" - so heißen hier die Ein-Euro-Läden -, ein Nagelstudio, Polnische Delikatessen. Und das "Enjoy Café".
Verlassene Häuser im östllichen Stadtteil Londons in Dagenham. 
Verlassene Häuser im östllichen Stadtteil Londons in Dagenham. (dpa / picture alliance / David Potter)
Linoleum-Boden, Linoleum-Tische, zusätzlich mit Plastikmatten geschützt. Zur Mittagszeit wird hier Steak mit Erbsen und Kartoffeln serviert. Jung und Alt füllen den Raum, essen, trinken Tee, halten einen Schwatz. Glauben sie hier noch an den Brexit?
"Wir werden nicht gehen. Sie werden Artikel 50 aussetzen. Keiner kommt mit einer Lösung rüber. Die Regierung will im Zweifel lieber in der EU bleiben. So wird es kommen. Und deshalb wähle ich nie wieder. Wir gehen nicht raus. Ich werde nie wieder wählen. Niemals. Für gar nichts."
In Dagenham haben sie keine Angst
Und wenn er doch kommt, der Brexit, vielleicht ohne Deal? Davor haben sie in Dagenham keine Angst.
"Ich glaube, wir sind besser dran außerhalb vom Binnenmarkt. Die EU braucht uns genauso wie wir sie. Glauben Sie, BMW hört auf, hier Autos zu verkaufen? Natürlich nicht. Das ist doch alles Angstmacherei."
Verlassene Wohnblocks im östllichen Stadtteil Londons in Dagenham. 
Die Perspektiven in Dagenham sind recht trostlos (dpa / picture alliance / David Potter )
Von der Politik fühlen sie sich verschaukelt.
"Am einen Tag sagen sie dies, am andern das. Ständig geht es hin und her. Alle lachen über uns. Für mich sind die Müll. Die sind alle korrupt. Die denken nur an sich selbst, nicht an das Volk. Keiner von denen weiß, was er tut."
Gegen Ausländer haben sie hier nichts, sagen sie. Aber die EU zwinge Großbritannien, die falschen Zuwanderer aufzunehmen.
"Wir haben die Arbeitslosen, die die Mülltonnen durchwühlen. Die uns ausrauben. Und die nur in unser Sozialsystem wollen.
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"Engländer fahren nicht LKW"
In der Logistik-Agentur zwei Türen weiter vom Café beschäftigt David Isaac fast ausschließlich osteuropäische LKW-Fahrer. Die Engländer, klagt er, interessierten sich nicht für diese Art von Job. Davids Mitarbeiterin Svetlana ist Bulgarin. Sie wird deutlicher:
"Das Problem ist: Die Briten brauchen niedrig qualifizierte Menschen: Leute auf dem Bau, Putzleute, LKW-Fahrer. Die meisten unserer Fahrer kommen aus Bulgarien und Rumänien. Engländer fahren nicht LKW. Wer soll Laster fahren? Wer soll die Supermarktregale auffüllen?"
David Isaac macht sich Sorgen über den Brexit. Chinesen und Inder werden als neue Einwanderer gehandelt. LKW-Fahrer seien die aber auch nicht. Ist er vorbereitet auf den Brexit?
"Nein. Niemand ist vorbereitet. Alle warten einfach ab und warten, was passiert."
Die Luftaufnahme von London zeigt unter anderem die Tower Bridge, den Finanzdistrikt und die Themse. 
Blick auf London: Tower Bridge, Finanzdistrikt und die Themse.  (picture alliance / dpa / Dominic Lipinski)
Zeitreise vom analogen ins digitale Zeitalter
David Isaac wohnt in der Nähe von Canary Wharf. Immer noch Ost-London. Aber die Fahrt dorthin von Dagenham ist wie eine Zeitreise vom analogen ins digitale Zeitalter.
Canary Wharf ist ein modernes Finanzviertel. Dutzende neue Wolkenkratzer aus Stahl und Glas ragen in den Himmel.
Dazwischen wimmelt es von Männern in Anzügen und Frauen mit High Heels. Die Ausgänge der Bankzentralen, für die sie arbeiten, führen direkt in eine riesige Einkaufsmall.
Canary Wharf surft souverän auf jeder Welle der Globalisierung
Coffee to go, rasch ein paar Einkäufe, in den Bars bahnen sie beim nachmittäglichen Glas Weißwein Geschäftsabschlüsse an. Wer in Canary Wharf arbeitet, surft souverän auf jeder Welle der Globalisierung. Und hat für die Brexiteers nur Kopfschütteln übrig. Manche auch Spott.
"Wenn der Brexit passiert, werden viele Unternehmen von hier weggehen. Viele machen neue Pläne. Und Großbritannien ist nicht der Ort, an dem sie bleiben. Da haben Leute im Fernsehen geklagt, sie hätten nicht gewusst, wofür sie gestimmt haben. Das sind Leute in Wales. Denen wird's besonders schlecht gehen. Die werden weniger für ihr Lammfleisch bekommen. Ich lebe in der City. Mein Job ist sicher. Ich möchte nicht mehr für mein Lammfleisch bezahlen."
Blick auf One Canada Square in Canary Wharf in London: Hier sitzt die European Banking Authority (EBA). Für die Behörde wird wegen des Brexits ein neuer Standort gesucht.
Hochhäuser, Glasfassaden und Stahlbetonkonstruktionen: In der Canary Wharf pulsiert das englische Herz der Wirtschaft (imago/PA Images)
Der Verdruss auf die Politiker ist hoch
Nur was die Politiker angeht, sind sie hier einig mit den Leuten aus Dagenham:
"Wir haben abgeschaltet. Da blickt doch keiner mehr durch. Ich verfolge das schon lange nicht mehr. Das tut zu weh."
Am Ausgang der Mall ragt die Reuters-Zentrale in die Höhe. Auf einem Schriftband laufen die Agenturmeldungen von drinnen vorbei: Das Pfund steigt, May ist für eine Brexit-Verschiebung, die EU ist ungeduldig. An der Rolltreppe zur U-Bahn wirbt ein Technologiekonzern mit dem Slogan "Hör nie auf, die Zukunft zu verbessern."
Die Zukunft gehört in diesem Moment einem Teenager. Die Stadt hat auf halber Höhe zur U-Bahn-Station ein Klavier aufgestellt. Jeder der mag, kann hier spielen. Und dieses Mädchen tut es. Der Brexit ist auch eine Generationenfrage. Aber er interessiert sie nicht. Noch nicht vielleicht.