Donnerstag, 18. April 2024

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Briefe an Beethoven
"Lieber Ludwig, Danke für Deinen Geist und Deine Liebe"

"Nicht taub zu sein, bedeutet nicht, hören zu können", schreibt Sophie Pacini in ihrem Brief an Beethoven. Die Pianistin kritisiert darin soziale Medien als "peudogesellschaftliche Auffangnetze", die einen nur halten, wenn man nicht fallgefährdet sei. Durch Beethoven habe sie gelernt, was eine wahre Vision ist.

Von Sophie Pacini | 27.04.2020
Porträt einer jungen Frau mit schwarzen Haaren, die vor rotem Bildhintergrund steht und in die Kamera blickt.
Die Pianistin Sophie Pacini kritisiert die Rolle sozialer Medien in unserer Gesellschaft (_c_A2_Photography)
Lieber, aus vollem Herzen verehrter, Ludwig,
jeden Tag bin ich in Berührung mit Deiner Großzügigkeit, Deiner Unerbittlichkeit, Deinem Optimismus, Deinem Mut, Deiner Stärke, Deiner Willenskraft, Deinem Weitblick, Deiner Sicht in der Vereinigung von Menschlichkeit, kurzum Deiner Liebe, die Du uns in Deiner Musik hinterlassen hast.
Dir nun persönlich einen Brief in, dazu verglichen, scharf umrandeten Worten, wie es die Sprache kaum anders zulässt, zu schreiben, fühlt sich sehr besonders an. Ich spreche Dich an, ja mit Du, erlaube mir diese Nähe, da Du mich mein ganzes Leben bisher begleitet, geprägt, gefordert, getröstet, also erzogen hast, meine Gefühlswelt vertieft und mir beigebracht hast, was eine wahre Vision ist. Die Ebene Deiner Mitteilung, Deiner Größe habe ich so richtig begriffen als ich 13 Jahre alt war. Deine Musik spielte ich bereits auf dem Klavier, Deine musikalischen Linien erspürte ich aber hauptsächlich instinktiv. Wir hatten in der Schule, auf dem Gymnasium, das Schiller Gedicht "Ode an die Freude" auswendig zu lernen, die Bedeutung jener Worte Schillers allerdings war mir nur teils bewusst, ich konnte sie einfach noch nicht so ausfüllend nachfühlen. Zu Hause angekommen, legten meine Eltern den letzten Satz Deiner 9. Symphonie auf CD ein. Die CD, Du wirst diese Art der Musikvervielfältigung und des jederzeit möglichen Abspielens vielleicht bereits zu Deiner Zeit in Deinem grenzenlosen Idealismus manchmal ersehnt haben.
Gefühl der liebenden Umarmung
Wir drehten die Lautsprecher voll auf, als der Einsatz Deiner Innovation "Chor in der Sinfonie" hinzutrat und ein Gefühl von bedingungsloser, selbstloser, liebender Umarmung menschlicher Stimme entstand. Hier gibt es nun kein Entkommen mehr vor Deiner Botschaft, die sich jedem so unerbittlich ins Herz drückt, dass einem die Brust vor Liebe schwillt. Vielleicht wirst Du uns betrachten von Deinem Platz allerorten: was wirst Du wohl über die Entwicklung unserer Gesellschaft denken, wie zufrieden bist Du mit dem Verhältnis zwischen Häufigkeit des Hörens Deiner Musik und der wohl eher selteneren Verinnerlichung Deines Gesamtwerkes? Oder vertraust Du auf diejenigen wenigen, die die emotionale Ebene haben, seien sie sonst im Feld der Musik bewandert oder nicht, Deine Hoffnung auf menschliche Einigkeit zu erfühlen und den Glauben an das Miteinander nicht aufzugeben? Ich denke, dass diese geringe Anzahl, die, sei es in welchem Metier auch immer, eine gute, verbessernde und fürsorgliche Vision verfolgt, ausreichend sein kann. Aber muss diese in einer zunehmend egoistischeren, selbstverliebteren Welt - so nehme ich sie wahr - heute härter dafür kämpfen, alle Menschen immer wieder in einer warmen Umarmung aufzufangen. Auch zu Deiner Zeit war die Anzahl bestimmt nicht größer.
Dir wurde Dein Gehör genommen und Du wurdest auf die härteste Probe gestellt, die ein Musiker durchlaufen kann. Taub zu schöpfen. War es für Dich im Nachhinein doch kein Fluch, sondern in einer gewissen Art eine Hürde, um die Herausforderung, Deine Verinnerlichung noch tiefer zu erspüren und noch weiter in Dir zu graben? Es am Ende umso deutlicher hörbar zu machen, weil es so stark in Dir war, dass Du dafür mit vollem Einsatz kämpftest, um es wider allen Umständen der Welt dauerhaft auf Papier zu hinterlassen?
Durch Wahrhaftigkeit der Zeit voraus
Eines weiß ich mittlerweile mit Sicherheit: Nicht taub zu sein, bedeutet nicht, hören zu können. Durch Dich habe ich verstanden, was die Maxime "Talent verpflichtet" bedeutet. Und auch, jenseits von Grenzen zu denken und durch Wahrhaftigkeit der Zeit voraus zu sein, um zeitlos zu bleiben.
Weißt Du, heute leben wir in einer Zeit, wo ich oft das Gefühl habe, dass wir überflutet werden mit Informationen allerorten zu jeglicher Zeit. "Soziale Netzwerke" ist heute der Überbegriff für – meines Erachtens - pseudogesellschaftliche Auffangnetze, durch die du durchfällst, wenn du nicht der Konstruktionsnorm derselben entsprichst. Oder andersherum, die dich halten, wenn du nicht fallgefährdet bist. Das bist du nicht, wenn du dich der Allgemeinheit anpasst, wenn du dich in die Hülle presst. Ich bin, wenn man so will, fast schon wieder aus diesem Alter und der zerbrechlichen Wachstumsphase heraus, wo mich das nachhaltig betreffen könnte, aber all die jüngeren Menschen, die immer mehr in diesem sozialen Druck aufwachsen, können sich daraus selbst nur mehr schwer befreien, da auch ehrliche Vorbildfunktionen fehlen. Vorbilder, wie Du es für mich bist. Mit Deinem Satz "Musik soll nicht schön sein, sondern wahr. Sie lässt sich nicht in Formen pressen".
Du siehst, was Du damit sagst: sich nicht in eine Form pressen lassen, wahrhaftig, eigenständig und visionär zu sein. Du hast es uns vorgemacht: Es gibt kein Hindernis, wenn man es nicht als solches versteht. Und wir haben alle eine Mission- für ein gemeinsames Europa mit Deiner Hymne und für eine gemeinsame, bessere Welt.
Danke für Deinen Geist und Deine Liebe.
Deine Sophie Pacini