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Brigitte Seebacher-Brandt: Willy Brandt

Ich möchte Ihnen heute fünf Neuerscheinungen vorstellen, von denen ich hoffe, sie stoßen auf Ihr Interesse. Wir beginnen mit einem neuen Buch über Willy Brandt. Geschrieben von seiner letzten Ehefrau Brigitte Seebacher-Brandt.

Von Rainer Burchardt | 28.06.2004
    Danach möchte ich Ihnen die erste umfassende "Geschichte Europas im 20. Jahrhundert" von Harold James vorstellen.

    Es geht weiter mit Büchern über den "Kopftuch-Streit: Das Abendland und ein Quadratmeter Islam". Über "Geschichte und Gedächtnis in der Einwanderungsgesellschaft" sowie über das "Prinzip Partnerschaft".

    Nun hat sie es tatsächlich wahr gemacht: Brigitte Seebacher-Brandt hat ein Buch über Willy Brandt geschrieben – über den SPD-Vorsitzenden, den ersten sozialdemokratischen Bundeskanzler und Friedensnobelpreisträger, über den Staatsmann und Ehemann Willy Brandt. Mit ihm hat sie die letzten 14 Jahre seines Lebens verbracht, war mit ihm verheiratet. 12 Jahre nach dem Tod dieses großen Politikers legt die Journalistin und promovierte Historikerin Brigitte Seebacher nun ihre Brandt-Biografie vor – auch auf seinen Wunsch hin, wie sie beteuert. Bereits früher sind von ihr Biografien über die SPD-Vorsitzenden August Bebel und Erich Ollenhauer erschienen. Auch hat sie die politischen Witze von Willy Brandt herausgegeben mit dem Titel "lachen hilft". Rainer Burchardt hat das neuste Brandt-Buch von Brigitte Seebacher unter die Lupe genommen:

    Nein, eine Biografie ist dieses Buch nun wirklich nicht geworden. Wahrscheinlich war es doch eher Selbsterkenntnis als Selbstbescheidung, dass die, gelinde gesagt, selbstbewusste und mehr noch selbstgerechte Witwe Willy Brandts ihre Auf- und Abarbeitung der historischen Persönlichkeit ein "Portrait" nennt.

    Da darf man dann Subjektivismus und Emotionalität, die eigentlich einer Historikerin schlecht anstehen, schon einmal verzeihen. Das Buch gibt Rätsel auf, wo man so gern Aufklärung gehabt hätte. Etwa, wenn es um angeblich dunkle Machenschaften von KGB und Ostblockagenten geht, irgendwie ist auch Herbert Wehner mit dabei, die den Rücktritt des ersten sozialdemokratischen Kanzlers der Nachkriegszeit herbeiintregiert hätten.

    Es gibt auch Rätsel auf über die emotionale Befindlichkeit der Autorin, wenn sie über ihre gemeinsame Liebe zu Frankreich und den Franzosen höchst anschaulich formuliert, ihren Lebensabschnittsgefährten jedoch auf das Kürzel W.B. reduziert.

    W.B. mochte das Leben in Frankreich nicht nur wegen der Lebensart. Er war dem Land zugewandt. Er kannte seine Geschichte und wusste um seine Empfindlichkeiten. Übertriebene Rücksicht wollte er allerdings nicht nehmen. Gerade weil er das Land verstand, kannte er keine Ehrfurcht und ließ sich auch nicht vereinnahmen. Wer introvertiert ist, verschlossen, jederzeit zum Rückzug bereit, lässt sich ohnehin nicht vereinnahmen, von nichts und niemandem. W.B. bewunderte Frankreich für das, was Deutschland fehlte und was es doch auch haben sollte. Damit meinte er nicht nationale Eigenschaften, die waren, wie sie waren. Französischen Individualismus gegen deutsches Gemeinschaftsgefühl aufzuwägen wäre ihm nicht eingefallen. Er meinte die freiheitliche nationale Tradition, die das Land hochhielt und als ungebrochen hinstellte - aller Brüche zum Trotz und mit der Fähigkeit zum Selbstbetrug. W.B. war kein Fanatiker der Wahrheit und auch insoweit kein Moralist. Zwischen Notwendigkeit und Legitimität unterschied er nicht unbedingt. Er wusste um die Bedingtheit alles Menschlichen und um die Fragwürdigkeit alles Großen. Den General bewunderte er sehr.

    Das klingt sympathisch, lässt sich nebenbei, wie übrigens das ganze Buch, sehr gut lesen und zeugt auch von der gewiss nicht konstruierten inneren Seelenverwandtschaft dieses so ungleichen Paares, WB und BS. Es kann sicherlich kein Zweifel daran bestehen, dass die Autorin ihren prominenten Lebenspartner besser gekannt hat als die Fülle der Biografen von Peter Koch über Gregor Schölgen bis hin zu Peter Merseburger.

    Nach der Lektüre darf man sagen: Alles, was die anderen geschrieben haben, hat Brigitte Seebacher ganz offensichtlich nur tangential berührt. Recht unbekümmert, allerdings auch mit dem Mut zur subjektiven Lücke, schildert sie Willy Brandt aus ihrer Sicht und darüber hinaus auch dessen nicht gerade einfaches Lebensumfeld. Dabei fällt auf, dass das Buch gerade dort am stärksten ist, wo die Historikerin, offensichtlich aus den Erzählungen ihres Subjekts schöpfend, den historischen Willy Brandt, also den Emigranten, dann den Rückkehrer, den Berliner Bürgermeister und schließlich auch den Kanzler dieser Republik nacharbeitet. Erst Ende der 70er Jahre haben sich die beiden gefunden, und es ist sicherlich nicht gewagt, zu behaupten, dass Frau Seebacher sich nicht gerade unwohl zu fühlen scheint in der selbst angemaßten Rolle der rachlustigen Witwe.

    Sie selbst, die umstrittene Thesen zur Befindlichkeit der deutschen Linken mit der nationalen Frage im Umfeld der Einheit Deutschlands publizierte, versucht nachträglich ihren Mann in die Rolle eines Nationalpatrioten hineinzumendeln. Sicher ist richtig, dass Brandt sich den Einigungsprozess anders vorgestellt hat als seinerzeit Oskar Lafontaine. Deren persönliche Krise liegt auch darin begründet, dass Brandt näher bei Kohl als dem saarländischen Pragmatiker war. Dass Brandt allerdings eine despektierliche, wenn nicht gar ablehnende Haltung zur Bürgerrechtsbewegung gehabt haben soll, darf füglich bezweifelt werden.

    Die Friedens- und Bürgerrechtsgruppen, die sich mehr und mehr zusammenfanden und innere Reformen forderten, beschleunigten den Zerfall staatlicher Autorität. W.B. respektierte ihren Mut. Wer gegen die Diktatur anging und Risiken auf sich nahm, wer Licht auf die Zustände werfen und den Zerfall beschleunigen half, durfte auf Respekt rechnen. Aber der sektiererische Zug, der vielen Gruppen anhaftete, gefiel ihm nicht. Er hatte Bärbel Bohley empfangen, als sie zu Jahresbeginn 1988 ausgewiesen worden war. Wider Willen bestätigte sie ihn in der Überzeugung, dass die DDR sich nicht erneuern und nicht aus sich selbst heraus bestehen würde. Die spätere Lesart der Bürgerrechtler, 1989 die Verhältnisse umgewälzt zu haben, fand er absonderlich: Ja, ja, so habe ich mir immer die Revolution vorgestellt, mit der Kerze in der Hand. W.B. misstraute dem akademischen Streben der "Neuen Kräfte", Zeit zu gewinnen und eine Reihenfolge nächster Schritte festzulegen: "So spielen sich geschichtliche Umbrüche in aller Regel nicht ab. Wer nicht improvisierend die Herausforderung anzunehmen entschlossen ist, riskiert leicht, am Wegesrand zurückgelassen zu werden." W.B. freute sich an den Bildern, die Massen von Menschen zeigten - in den Städten der DDR und auf den Straßen in Richtung Westen.

    Ebenso hartnäckig rechnet Frau Seebacher im unautorisierten Namen Willy Brandts mit der SPD ab.

    Für nachfolgende Generationen hatte W.B. viel Verständnis; er fand nicht, sie müssten Politik machen, wie er sie gemacht hatte. Aber wenn ihn der Eindruck überkam, mit den ernsten Dingen des Lebens werde gespielt, dem Schicksal des eigenen Landes und dem Recht auf Selbstbestimmung, hörte die Nachsicht auf. In privaten Kreisen hatte er schon 1990 resigniert: Man sollte an die Lernfähigkeit und Lernbereitschaft derer, die nachfolgen, nicht übertriebene Erwartungen knüpfen. In zeitlichem und emotionalem Abstand, als er im Sommer 1991 den Freund aus Emigrationstagen, Richard Löwenthal, zu Grabe trug, erwähnte er, traurig, die Kluft, die zwischen der alten und der jetzigen Partei lag: "Ich weiß, es ist nicht mehr ganz leicht, den Nachwachsenden zu erklären, was das für unsereins bedeutete 'deutsche Arbeiterbewegung’. Und wieso man in ihr seine geistige Heimat finden konnte. Das war kein bilderstürmendes Aussteigertum, sondern der Wunsch, gesellschaftliche Erneuerung voranbringen zu helfen und sich durch kein anmaßendes Denkverbot und keine feiste Selbstgefälligkeit daran hindern zu lassen." Er wusste, dass Selbstgefälligkeit den Frevel begünstigte.

    Es ist das eigentlich Bedauerliche an diesem Buch, dass man bisweilen das Gefühl nicht los wird, Brigitte Seebacher versuche noch nachträglich ihre persönliche Frustration an der SPD über Auffassungen ihres Mannes abzuarbeiten, die weder zu beweisen noch zu widerlegen sind. Das gilt auch für die Beschreibung einer Szene, nachdem Willy Brandt von einer Begegnung mit Gerhard Schröder gesprochen haben soll.

    W.B. hätte nie nur schreiben mögen. Auch jetzt nicht. Er blieb ein Akteur. Zumindest einer, der sich den Akteuren verbunden fühlte und ihnen nahe sein wollte. Er war enttäuscht, fast ein wenig verwirrt, als er eines Abends im März 1992 nach Hause kam und von einer Zufallsbegegnung erzählte. Auf dem Flur des Bundeshauses hatte er Gerhard Schröder getroffen und ihn rufen hören: Man müsste sich doch mal wieder sehen. - Aber ja, melde Dich doch. - Ich bin jetzt Ministerpräsident von Niedersachsen und habe keine Zeit mehr. Es sollten die letzten Worte sein, die Gerhard Schröder an W.B. richtete.

    Es kann so gewesen sein, aber war es auch so? Oder gehört dies nicht auch in die Reihe von persönlichem Politklatsch, dessen Verlockungen die Autorin offenbar ganz gezielt nicht widerstanden hat? Nicht nur Herbert Wehner und andere, angeblich verräterische Genossen, bekommen ihr Fett weg, sondern auch ausländische Politiker und eine ganze Reihe von Frauen, allen voran Ruth Brandt, deren Nähe Frau Seebacher offenbar nicht ertragen konnte. Sie schirmte in den letzten Jahren ihren Mann gezielt von seinem Lebensumfeld ab und verwehrte sogar dem Besucher Michail Gorbatschow, wenn auch angeblich unbeabsichtigt, den Zugang zu ihrem schwerkranken Ehemann.

    Den Arzt rufe ich jetzt oft. Auch am Sonntagabend, 20. September, ist er da, sein Auto steht sichtbar vor der Tür. Ich stehe mit ihm, wie immer, am Bett, als es klingelt. In dieser Zeit wird oft geklingelt. Manchmal von Leuten, die einen Blumengruß hinters Tor gelegt haben, manchmal einfach so. Ich springe hinunter und frage durch die Sprechanlage, wer dort sei. Eine Stimme sagt Gorbatschow, ich denke, welch übler Scherz, und springe wieder nach oben. Das Spiel wiederholt sich noch einmal, dann ist Ruhe. Am anderen Tag höre und lese ich, er sei es tatsächlich gewesen, mit Begleitern. Hätte man ihn nicht anmelden können?

    Wie gesagt, dies Buch ist allenfalls ein subjektives Portrait Willy Brandts, aber auch und gerade vielleicht ganz unbeabsichtigt, ein Portrait der Frau, mit dem er seine letzten Lebensjahre verbracht hat - der Autorin nämlich.

    Rainer Burchardt besprach das neue Willy Brandt-Buch von Brigitte Seebacher-Brandt. Es ist Ende Mai bei Piper in München erschienen und umfasst 455 Seiten. Kostenpunkt:22 Euro und 90 Cent.