Freitag, 29. März 2024

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Britische EU-Abgeordnete zum Brexit-Aufschub
"Wir brauchen den zweiten Volksentscheid"

Die britische EU-Abgeordnete der Liberaldemokraten Irina von Wiese begrüßt die Verschiebung der Brexit-Entscheidung. Nun gebe es "eine reelle Chance, doch noch in der EU zu verbleiben", sagte sie im Dlf. Das Abkommen von Boris Johnson werde keine Mehrheit finden und ein zweites Referendum nun möglich.

Irina von Wiese im Gespräch mit Friedbert Meurer | 20.10.2019
Irina von Wiese
Die britische EU-Abgeordnete Irina von Wiese hofft auf ein zweites Referendum und Neuwahlen nach dem 31. Oktober (imago images / Jürgen Heinrich)
Irina von Wiese, Mitglied des Europaparlaments für die britischen Liberaldemokraten, zeigte sich erleichtert über den Brexit-Aufschub. Es sei völlig gerechtfertigt gewesen, solch einen wichtigen Deal noch mal ganz genau anzuschauen, sagte sie im Dlf. Das Abkommen sei extrem problematisch – vor allem, weil es in keiner Weise das Risiko eines No-Deals ausschließe.
Der große Unterschied zu dem damals vorgelegten Deal von Theresa May bestehe darin, dass viele Bedingungen "aus dem eigentlichen bindenden Gesetz herausgenommen worden sind", beispielsweise das Freihandelsabkommen. Insofern würde es in vielerlei Hinsicht einen viel härteren Brexit geben. "Und man muss auch bedenken, dass für das Vereinigte Königreich das Ende wäre, denn Nordirland und auch Schottland würden auf die Dauer gehen", so die Liberaldemokratin. Sie geht davon aus, dass dieses Abkommen auch in der kommenden Woche keine Mehrheit im Unterhaus finden wird.
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Mit der neuen Irland-Lösung hätte der britische Premier Boris Johnson etwas zugesagt, was er zuvor abgelehnt hätte, sagte Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn im Dlf. Sollte das Unterhaus dem Vertrag nicht zustimmen, stehe man aber wieder da, wo "wir vorher schon einmal waren."
"Boris Johnson spielt mit der Zukunft seines Landes"
Dass Boris Johnson nicht nur einen Brief mit Bitte um Verlängerung an die EU - ohne Unterschrift - geschickt hat, sondern zwei weitere mit der Aufforderung, nicht zu verlängern, bezeichnet Irina von Wiese als absolute Farce. "Boris Johnson spielt immer politische Spiele, es ist der klassische Spielercharakter. Aber er spielt hier mit der Zukunft seines Landes und er steht nicht mehr auf der Seite der Volksvertretung, aber er steht auch nicht mehr auf der Seite des Volkes. Zunächst mal ist er nicht gewählt, zum anderen hat er eine Minderheitsregierung und drittens vertritt er nicht mehr eine Mehrheit der Bevölkerung. Wir wissen nach allen Umfragen, dass die Mehrheit der Bevölkerung heute in der EU verbleiben wollen. Deshalb will er ja keinen weiteren Volksentscheid. Weil er Angst hat vor diesem Ergebnis."
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"Reelle Chance, doch noch in der EU zu verbleiben"
Irina von Wiese zeigt Verständnis für die Brexit-Müdigkeit der europäischen Nachbarn. "Ich habe auch die Nase voll", sagte sie, aber als Europa-Abgeordnete sehe sie ihre Aufgabe darin, bei der EU für eine Verlängerung zu werben. Denn dann könne es einen zweiten Volksentscheid geben - vorausgesetzt, die Frist sei lang genug. Die Liberaldemokratin ist aber überzeugt, dass die EU das Risiko eines No-Deal-Crash-Out nicht eingehen will und einer Verlängerung doch noch zugestimmt wird. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass Emmanuel Macron oder irgendein anderer Staatschef einen No-Deal riskieren wird. Denn das wäre nicht nur für das Vereinigte Königreich katastrophal, sondern für den Rest der EU."

Das Interview in voller Länge:
Friedbert Meurer: Einen schönen guten Morgen, wir sind hier in London. Der Tag danach, nach den Debatten und Diskussionen im britischen Unterhaus, bei denen viele geglaubt hatten oder es für möglich gehalten haben, es könnte zu einer Entscheidung kommen, dreieinhalb Jahre nach dem Brexit-Referendum. Es sah fast so aus, als würde Premierminister Boris Johnson eine Mehrheit bekommen für den Vertrag, den er mit der EU ausgehandelt hat. Dann gab es einen Änderungsantrag der Opposition; das alles lief daraus hinaus, die Sache ist noch einmal verschoben worden. Irina von Wiese ist Europaabgeordnete für die Liberaldemokraten, eine sehr Europa-freundliche Partei. Wo haben Sie gestern den Tag verbracht, als das Unterhaus tagte?
Irina von Wiese: Ja, guten Morgen, aus einem ausnahmsweise sehr sonnigen London nach Deutschland. Ich war natürlich auf der Straße gestern, den ganzen Tag, mit einer Million weiteren Bürgern aus ganz Großbritannien und aus anderen Ländern, demonstrieren gegen den Brexit und für ein "Peoples Vote", also einen weiteren Volksentscheid. Ich habe also die Entscheidung des Unterhauses selbst nur mitbekommen in einem Regenschauer auf dem Parliament Square, gegenüber von dem Unterhaus.
"Was wir jetzt haben, ist eine weitere Atempause"
Meurer: Da ist per Leinwand übertragen worden das Ergebnis: 322 zu 306 für die Verschiebung. Waren Sie erleichtert?
Von Wiese: Sehr erleichtert. Denn es ist ja nicht nur mein Job als Europaabgeordnete, der da das Risiko hat, sondern natürlich auch unser ganzes Land. Was wir jetzt haben, ist eine weitere Atempause. Die ist auch dringend nötig, denn jetzt hat das Unterhaus die Chance, sich diesen Deal, dieses Abkommen, noch einmal genau anzuschauen. Und je mehr man darüber nachdenkt, je mehr wir lesen, desto mehr wissen wir, dass dieses Abkommen noch schlimmer ist als das, was Theresa May hatte, und jedenfalls nicht akzeptabel für uns.
Meurer: Am Anfang sah es ja so aus, dass Boris Johnson keine Chance oder nur eine geringe Chance auf eine Mehrheit hat. Als die DUP, die nordirische Unionistenpartei sagte: 'Wir stimmen gegen den Vertrag, das schadet uns, das schadet Nordirland'. Dann, gestern morgen – zählen, zählen, zählen – sagten viele Beobachter: 'Das kann er doch schaffen, er kann eine Mehrheit gewinnen.' War das ein bisschen ein unfaires Spiel der Opposition, last minute nochmal zu verschieben?
Von Wiese: Nein. Ich glaube, es war vollkommen gerechtfertigt, sich einen solch wirklich wichtigen Deal noch einmal ganz genau anzuschauen. Die DUP war ja nicht die einzige Partei, die Probleme hatte mit der Nordirland-Lösung. Es gibt viele weitere Probleme mit diesem Vertrag. Es ist deshalb wirklich wichtig, dass wir nicht nur wissen, was in dem Abkommen drin ist, sondern auch in der Gesetzgebung, in der dieses Abkommen ins britische Recht übertragen wird. Darauf warten wir jetzt, und wir denken, dass wir mit der Zeit und mehr und mehr der Oppositionspolitiker, aber auch der kritischen Tories im Parlament, sich gegen dieses Abkommen aussprechen werden.
"Abkommen schließt in keiner Weise einen No-Deal aus"
Meurer: Aber die Opposition – auch gerade Ihre Partei, die Liberaldemokraten – haben sich vor allen Dingen dagegengestellt: es soll auf keinen Fall zu einem No-Deal kommen, dass Großbritannien ohne Vertrag aus der EU ausscheidet. Dann schafft es Boris Johnson gegen alle Unkenrufe, einen neuen Vertrag auszuhandeln. Das Brexit-Gesetz wird nochmal aufgemacht, ein anderes Modell. Er erfüllt den dringendsten Wunsch der Opposition und dann – last minute – sagt die Opposition: 'Das reicht uns auch nicht, wir machen da nicht mit, das wird auf die lange Bank geschoben'.
Von Wiese: Aber da gibt es zwei Dinge zu beachten. Das Erste ist, dass dieses Abkommen in keiner Weise einen No-Deal ausschließt. Das ist ganz wichtig, dass man sich klarmacht, dass wenn wir am Ende dieser Übergangsphase, also zum Ende nächsten Jahres, kein Abkommen über die zukünftige Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU haben und kein Freihandelsabkommen, dass dann immer noch das Risiko besteht eines No-Deal/Crash-Out. Das ist das erste Problem. Das zweite ist ja, dass wir mit dem sogenannten "Benn Act" eine Versicherungspolice haben, der Boris Johnson verpflichtet, jetzt um eine Verlängerung zu bitten – was er auch gemacht hat, jedenfalls bedingt gemacht hat. Das heißt insofern, das Risiko, das jetzt besteht, eines Crash-Outs, ist geringer als das, das wir hätten, wenn der Deal angenommen worden wäre im Unterhaus.
Meurer: Wäre das mit dem Vertrag, den Theresa May ausgehandelt hatte, anders gewesen? Hatte dieser Vertrag ausgeschlossen, dass am Ende einer Übergangsperiode, Ende 2020, Großbritannien auf keinen Fall ohne Deal die EU verlassen kann?
Von Wiese: Ich denke, ja. Denn der große Unterschied zwischen Theresa Mays Deal und diesem neuen Deal von Boris Johnson ist, dass viele der bindenden Bedingungen aus dem eigentlichen Withdrawal Agreement, also aus dem bindenden Gesetz herausgenommen worden sind und in die politische Erklärung geschoben sind. Darunter eben auch das Freihandelsabkommen, darunter auch die gesetzliche Angleichung/Regulatory Alignment. Alle diese Dinge sind jetzt nicht mehr bindend. Insofern war Theresa Mays Deal eine bessere Versicherungspolice. Und natürlich auch besser für Irland und Nordirland, mit dem Backstop.
"Der neue Vertrag ist erheblich schlechter"
Meurer: Das heißt im Umkehrschluss, diejenigen, die kritisieren: 'Da hat doch Boris Johnson einfach nur jetzt Theresa Mays Vertrag neu eingebracht im Unterhaus, hat ein bisschen die Nordirland-Klausel verändert und das war’s', das sehen Sie nicht so. Der neue Vertrag ist schon erheblich anders?
Von Wiese: Der neue Vertrag ist erheblich schlechter, nicht nur für Großbritannien, sondern auch für die EU. Wie er eben dieses Risiko des No-Deal/Crash-Outs nicht ausschließt, weil er in vieler Hinsicht ein viel härterer Brexit ist. Und man muss auch bedenken, dass für das Vereinigte Königreich das wahrscheinlich das Ende wäre, denn Nordirland und meiner Ansicht nach auch Schottland würden auf die Dauer gehen.
Meurer: War es nicht immer klar, dass in Phase 2 der Verhandlungen, wenn es um das künftige Verhältnis zwischen Großbritannien und der EU geht, dass dann all diese entscheidenden Fragen geklärt werden müssen – welcher Handelsvertrag wird es sein, wird es Zölle zwischen beiden Seiten geben, wird man sich bei den Standards zu 100 Prozent oder weniger angleichen? Ist es nicht schon zuletzt und jetzt und immer eine offene Frage, die politisch in den kommenden Jahren entschieden werden muss von einer Regierung in London – ob sie Johnson heißen wird oder Corbyn oder wie auch immer? Das heißt, es ist eine offene Frage, die jetzt doch gar nicht zu entscheiden ist?
Von Wiese: Das ist richtig. Und das ist auch eines der Dinge, die, glaube ich, viele Menschen nicht verstanden haben, dass ja dieser Vertrag nicht das Ende von Brexit ist, sondern eigentlich erst der Anfang. Der Anfang von Jahren, vielleicht auch Jahrzehnten von Handeln, weiteren Verhandlungen, von durchaus schwierigen Verhandlungen mit 27 Staaten in der EU, aber auch mit dem Rest der Welt. Das ist erst der Anfang.
"Es würde mich nicht wundern, wenn Boris Johnson nochmal vor Gericht landet"
Meurer: Da es gestern keine Abstimmung über den Vertrag gegeben hat, hat das Unterhaus folglich den Vertrag mit der EU nicht billigen können. Damit ist dem Gesetz zufolge der Benn Act – benannt nach dem Abgeordneten Hilary Benn – jetzt eingetreten: Boris Johnson muss bei der EU eine Verlängerung bis zum 31. Oktober verlangen. Er hat das gestern Abend getan, er hat drei Briefe abgeschickt. Einmal hat er sozusagen das Gesetz auf den Fotokopierer gelegt – das ist Brief Nummer 1 –, nichts dazu, keine Unterschrift von ihm. Brief Nummer 2 – er sagt der EU, er möchte keine Verlängerung haben, er hält das für keine gute Idee, setzt seine Unterschrift darunter. Und dann gibt es einen dritten Brief seines Botschafters in Brüssel, der die EU auffordert, den Unterhausabgeordneten zu sagen, eine Verschiebung ist eine schlechte Idee. Mogelt er sich damit an dem Gesetz vorbei oder ist das okay?
Von Wiese: Also, ich finde das eine absolute Farce. Und es kann auch kein Mensch verstehen, wie man so etwas überhaupt schicken und akzeptieren könnte. Ich hoffe einfach sehr darauf, dass unsere Partner in der EU das als das sehen, was es vom Gesetz eigentlich sein sollte, nämlich ein Verlängerungsantrag und die anderen beiden Briefe ignoriert, die ganz klar gegen zumindest den Sinn des Gesetzes sprechen. Ich würde mich auch nicht wundern, wenn es da weitere Gerichtsverfahren gibt in Großbritannien. Wir haben ja schon ein Urteil des Supreme Courts, und es würde mich nicht wundern, wenn Boris Johnson da nochmal vor Gericht landet. Denn das ist ganz klar gegen den Zweck dieses Gesetzes.
Meurer: Es ist das – kann man nahezu mit Sicherheit davon ausgehen –, was er mit seinen juristischen Beratern in Downing Street ausgeheckt hat und zu dem Ergebnis kam: Das ist eine Geschichte, so könnte es laufen. Wird es vor dem Supreme Court enden?
Von Wiese: Jedenfalls, auch wenn es nicht vor dem Supreme Court endet, denke ich, dass es rechtlich überhaupt keine Möglichkeit gibt, um den Benn Act herumzukommen. Es ist ja klar, Boris Johnson macht das deshalb, weil er gesagt hat, er würde lieber in einem Graben enden als den 31. Oktober weiter zu verschieben. Da kann er sich politisch jetzt kaum noch aus dieser Ecke herausmanövrieren, das war ein verzweifelter Versuch, es doch noch zu tun. Ich glaube nicht, dass irgendein Gericht oder dass irgendein anderer Mitgliedsstaat der Europäischen Union auf diese Trickversuche hereinfallen wird.
Meurer: Selbst wenn er juristisch nicht Recht bekommt, politisch ist das Signal natürlich für seine Wähler – falls wir Neuwahlen haben werden –, er kämpft für die Bevölkerung, er kämpft für die 52 Prozent und er kämpft gegen alle, die mit Tricks versuchen oder mit Kniffen versuchen, ihn daran zu hindern. Das heißt, ist das für Ihn am Ende ein politisches Spiel, dass er so oder so gewinnen könnte?
von Wiese: Boris Johnson spielt immer politische Spiele. Das ist der klassische Spieler-Charakter. Aber er spielt hier mit der Zukunft seines Landes. Und er steht nicht auf der Seite der Volksvertretung, er steht aber auch nicht mehr auf der Seite des Volkes. Zunächst einmal ist er nicht gewählt, zum anderen hat er eine Minderheitsregierung, das heißt er hat mittlerweile eine Mehrheit von minus 42 im Unterhaus und Drittens vertritt er auch nicht mehr die Mehrheit der Bevölkerung. Wir wissen nach allen Umfragen, dass die Mehrheit der Briten heute in der EU verbleiben wollen. Deshalb will er ja keinen weiteren Volksentscheid, weil er Angst hat vor diesem Ergebnis.
"Wir brauchen diesen zweiten Volksentscheid"
Meurer: Deutschlandfunk, Interview der Woche, Irina von Wiese, Europaabgeordnete. Die 27 anderen Staats- und Regierungschefs der EU – am Donnerstag/Freitagmorgen – waren, glaube ich, das war die Einschätzung hier, erleichtert, dass man endlich jetzt einen neuen Vertrag gefunden hatte und haben, glaube ich, gehofft, dass das Unterhaus zustimmt. Worauf gründen Sie Ihre Hoffnung, dass die EU-Staats- und Regierungschefs jetzt bereitwillig sagen werden: Dann ziehen wir das bis zum 31. Januar eben hin?
Von Wiese: Also, ich kann durchaus verstehen, dass unsere europäischen Nachbarn und Freunde die Nase einfach voll haben von dieser never-ending Brexit-Saga. Ich habe auch die Nase davon voll. Aber als Europaabgeordnete sehe ich meine Aufgabe darin, mit unseren Partnern aus der EU zu sprechen und ihnen klar zu machen, dass wir jetzt eine reelle Chance haben, dass wir doch noch in der EU verbleiben werden. Wir brauchen diesen zweiten Volksentscheid und dafür brauchen wir eine Verlängerung, und zwar nicht nur für ein paar Wochen, sondern mindestens sechs Monate. Daran arbeite ich mit meinen Partnern aus Deutschland, aus Frankreich, aus Polen, aus dem Rest der EU.
Meurer: Bevor wir gleich sofort zu Ihrem Anliegen kommen, eines zweiten Volksentscheids, glauben Sie, dass die EU-Staats- und Regierungschefs jetzt ein bisschen auf Zeit spielen werden in Richtung 31. Oktober und erst einmal nicht die drei Briefe mit Ja beantworten?
Von Wiese: Ich denke – verständlicherweise –, dass es da eine Diskussion geben wird, unter den 27 anderen Mitgliedsstaaten – das ist auch verständlich. Ich bin aber überzeugt, dass je näher wir an den 31. Oktober heranrücken und damit an das Risiko eines No-deal/Crash-out, desto wahrscheinlicher wird es, dass einer Verlängerung im Endeffekt doch noch zugestimmt wird. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Emmanuel Macron oder irgendein anderer Staats- und Regierungschef in Europa wirklich einen No-Deal-Crash riskieren will. Denn das wäre ja nicht nur für das Vereinigte Königreich katastrophal, sondern auch für den Rest der EU.
Meurer: Thema "Zweiter Volksentscheid" – zentrales Anliegen der Liberaldemokraten, die allerdings seit einiger Zeit sogar so weit gehen zu sagen: ‚Lasst uns den Schritt direkt überspringen und Artikel 50 zurückziehen‘, also den Artikel, der den Austrittprozess in Gang gesetzt hat. Es gab gestern auch einen Antrag im Unterhaus – wenn er denn zur Abstimmung gekommen wäre –, der eine zweite Volksabstimmung vorsah, über einen Vertrag, über den Vertrag Boris Johnsons, und die zweite Alternative ist, in der EU zu bleiben. Viele sagen, im Unterhaus gibt es dafür im Moment noch keine Mehrheit. Warum ist das so?
Von Wiese: Wir werden sehen, ob es eine Mehrheit dafür gibt. Denn im Grunde genommen haben wir keine weiteren Alternativen mehr. Wenn wir diesem Vertrag nicht zustimmen – und ich gehe davon aus, dass es keine Mehrheit gibt für das Abkommen –, dann ist wirklich die einzige Alternative das Abkommen unter der Bedingung, dass es in einem sogenannten "Confirmatory Referendum", also einem Volksentscheid mit der Option, in der EU zu verbleiben, unterlegt wird. Das ist die einzige Möglichkeit, die wir jetzt noch haben, aus dieser Misere und dem never-ending Brexit herauszukommen.
"Wir stellen uns nicht gegen Neuwahlen per se"
Meurer: Es gibt noch eine zweite: Neuwahlen, gegen die sich die Liberaldemokraten stellen.
von Wiese: Ja, aus gutem Grund. Wir stellen uns nicht gegen Neuwahlen per se, ganz im Gegenteil. Wir haben ausgesprochen gute Umfragen und wollen unbedingt eine Neuwahl, in der ich überzeugt bin, wir auch gut abschneiden werden. Aber natürlich nicht vor dem 31. Oktober. Denn wenn wir das machen, riskieren wir dann doch noch, dass es im Endeffekt zu einem No-Deal Brexit kommt. Das heißt: Neuwahlen, ja, auf jeden Fall, aber erst nachdem wir das No-Deal-Risiko abgewendet haben.
Meurer: Wann, glauben Sie, kann es diese Neuwahlen geben? 31. Oktober ist ja schon bald. Also, man könnte sie in der ersten Novemberwoche beschließen und dann finden die im Dezember statt?
Von Wiese: Ja. Wir sind bereit. Und wir freuen uns auf die Neuwahlen. Wir sind überzeugt davon, dass das zum Ende des Zwei-Parteien-Systems hier führen wird, die Liberaldemokraten gut abschneiden werden. Und wenn wir gewinnen und falls wir die stärkste Fraktion werden sollten, dann würden wir in der Tat Artikel 50 zurücknehmen. Denn das wäre dann das Mandat dafür, Brexit zu stoppen. Wir wollen auf jeden Fall nicht zurücknehmen, was wir wollen und was wir immer gesagt haben, wir wollen einfach Brexit stoppen. Wie wir das machen, das werden wir dann sehen. Natürlich ist der Volksentscheid immer noch die wahrscheinlichste Lösung, aber wenn die Mehrheit der Bürger Liberaldemokraten hier deshalb wählen, weil sie Brexit stoppen wollen, dann sehen wir das als ein Mandat, Artikel 50 auch sofort zurück zu nehmen.
Meurer: Sie sind jetzt, Frau von Wiese, seit vier Monaten Europaabgeordnete für die Liberaldemokraten in Brüssel und in Straßburg. Wie nehmen Sie die Stimmung in den anderen Fraktionen, bei den anderen Kolleginnen und Kollegen wahr? Haben Sie den Eindruck, die hoffen darauf, dass es last minute vielleicht doch tatsächlich noch zu diesem mittleren Wunder kommen könnte, dass Großbritannien mittels eines zweiten Volksentscheides in der EU bleibt?
von Wiese: Also, wir haben ganz großartige Unterstützung gefunden von unseren Freunden im Europaparlament, vielleicht mit Ausnahme der Brexit Party und der Rechtsaußen-Parteien. Alle andern haben uns gesagt, und zwar aus allen Parteien, aus allen Ländern: Wir wollen, dass ihr bleibt. Wir hatten phantastische Unterstützung, wir hatten einen Kollegen aus Rumänien, der gestern kam und mit uns auf den Straßen von London demonstriert hat. Das fand ich ganz, ganz toll. Und das gibt uns eben die Hoffnung, dass wir doch noch die Chance haben zu verbleiben.
"Natürlich ist der Ruf Großbritanniens geschädigt"
Meurer: Vielleicht ist der Enthusiasmus bei den Staats- und Regierungschefs etwas weniger ausgeprägt. Wäre Großbritannien, wenn es wirklich in der EU bliebe, nicht ein so unbequemer Partner, der sich gegen alle weiteren Integrationsbemühungen und Maßnahmen stellen wird, sodass etliche Staats- und Regierungschefs vermutlich denken, es hat keinen Sinn mehr mit den Briten?
Von Wiese: Also, ich kann nur für das Parlament sprechen. Von den 73 britischen Abgeordneten sind 39 ganz, ganz klar pro-europäisch und engagieren sich in sehr konstruktiver Weise. Natürlich gibt es da viel zu reparieren. Natürlich ist der Ruf Großbritanniens geschädigt. Aber ich sehe auch meine Aufgabe als Deutsch-Britin und die Aufgabe aller britischen Abgeordneten, daran zu arbeiten, dass dieses Verhältnis verbessert wird. Dazu gehört natürlich auch, eine positive, konstruktive Rolle zu spielen im Europaparlament und in der EU insgesamt. Ich denke, daran wird man arbeiten müssen, das wird eine Weile dauern. Und wir können natürlich auch nicht davon ausgehen, dass wir sofort wieder akzeptiert werden, als wäre nichts passiert. Aber ich glaube, dass es ganz wichtig ist, dass wir gerade jetzt zeigen, dass Großbritannien pro-europäisch ist, dass es vieles gibt, wo wir beitragen können. Und darin sehe ich auch ganz persönlich meine Aufgabe im Europaparlament.
Meurer: Deutschlandfunk, Interview der der Woche, Irina von Wiese, Europaabgeordnete der Liberaldemokraten. Sie waren gestern bei der Demonstration dabei, "Pro Verbleib in der EU" – hunderttausende, vielleicht eine Million Menschen, zum zweiten Mal eine Großdemonstration hier in London, in einigen anderen Stäten Großbritanniens übrigens auch. Sie haben aber auch selbst zu spüren bekommen gestern, dass da einige Spannungen vorhanden sind – es waren auch Brexiteers da. Wenn Sie vielleicht kurz schildern, wie Sie das gestern erlebt haben?
Von Wiese: Ja, das ist richtig. Also, wir waren natürlich eine Million Menschen, die gegen den Brexit protestiert haben und dann gab es eine Handvoll von Demonstranten, die sich für Brexit ausgesprochen haben, auch relativ aggressiv gegenüber vom House of Lords standen. Und ich persönlich war im Fernsehen, beim Interview mit einem deutschen Fernsehsender, und wurde also angeschrien von einer Frau, die es nicht gut fand, dass wir unsere berühmten T-Shirts, mit dem berühmten Slogan der Liberaldemokraten – den ich jetzt nicht wiederholen darf im Radio – auf der Straße standen. Und das war also ein relativ aggressiver Angriff. Ich habe sie dann nur gefragt, ob sie denkt, dass es besser sei für ihre Kinder, die Kinder unserer Generation, einen Brexit zu haben, der ihnen die Chancen in der Zukunft sehr vermindert als vielleicht einen Slogan – der jetzt nicht ganz jugendfrei ist – auf einem T-Shirt. Aber diese Auseinandersetzung sehen wir natürlich häufig. Wir hatten auch natürlich mit der Brexit-Partei im Europaparlament ständig relativ aggressive Auseinandersetzungen, und die britische Gesellschaft ist gespalten. Das liegt nicht an Europa, das liegt an Großbritannien. Und daran werden wir Jahrzehnte arbeiten müssen, um dieses Land wieder zu heilen.
"Wir haben Angriffe gehabt auf Abgeordnete"
Meurer: Man liest ja das gerade und hört im Unterhaus – gerade vor zwei Wochen, glaube ich –, wie sehr gerade weibliche Abgeordnete bedroht werden. Bekommen Sie das auch zu spüren?
Von Wiese: Ja, das ist richtig. Und das ist wirklich sehr traurig. Also, die Aggression, das ganze Level der Debatte – verbal, aber leider oft auch physisch. Wir haben die Angriffe gehabt auf Abgeordnete, wir haben den Mord an Jo Cox gehabt, kurz vor dem ersten Referendum. Das sind ganz tragische Verhältnisse. Und für mich, als relativ neue Politikerin, ist es auch wirklich tragisch, dass wir viele Menschen haben, die jetzt sagen: ‚Wir wollen das nicht! Wir würden gerne uns politisch engagieren, aber wir haben Angst vor diesen Übergriffen.‘ Damit verlieren wir viele gute Kandidaten.
Meurer: Es gab ja gestern auch Szenen, die konnte man im Fernsehen sehen, da wurden Brexiteers verbal angegriffen – Michael Gove, Jacob Rees-Mogg war mit seinem Sohn da, der Sohn bekam das alles mit, wie sein Vater da beschimpft wurde. Ist das ein bisschen eine neue Aggressivität, die auch jetzt ein bisschen in die andere Richtung geht?
Von Wiese: Also, ich halte jede Form von Aggression, egal aus welcher Richtung sie kommt, für total unakzeptabel. Was man daran sieht ist, dass diese ganze Spannung und diese ganze Polarisierung der Gesellschaft immer schlimmer wird. Ich denke, dass wir in der Vergangenheit wesentlich mehr Übergriffe gesehen haben von den Brexiteers, aber natürlich gibt es Aggressionen von allen Seiten. Das liegt einfach daran, dass dieses Land so gespalten ist.
"Wir können einfach diese Spaltung nicht ignorieren"
Meurer: Wäre es für die Stimmung und für diese Aggressivität besser, jetzt den Schnitt zu machen, jetzt für Johnsons Vertrag zu stimmen als mit einem zweiten Referendum nochmal ein Jahr lang alte Wunden tief aufzureißen?
Von Wiese: Ich glaube, die Wunden sind ohnehin da. Und wir dürfen nicht vergessen, dass ja dieser Deal nur der Anfang von vielen, vielen Jahren von weiteren Verhandlungen wären, wo genau die gleichen Themen wieder zum Vorschein kommen. Wir können einfach diese Spaltung nicht ignorieren und nicht einfach heilen. Ein zweites Referendum würde zumindest den Menschen eine Gelegenheit geben, ihre Meinung wieder zu äußern. Danach muss man daran arbeiten, dass die vielen Probleme, die zu diesem ersten Volksentscheid-Resultat geführt haben, dass diese Probleme gelöst würden. Wenn wir die nicht lösen, dann können wir auch nichts an der Spaltung tun.
Meurer: Letzte Position der Liberaldemokraten ist ja, wie gesagt, gar kein zweites Referendum mehr, gleich den Antrag zurückziehen. Ist das wirklich eine gute Idee?
Von Wiese: Also, wie gesagt, was wir wollen als Liberaldemokraten, ist Brexit zu stoppen und in der EU zu verbleiben. Wie wir dahinkommen, das ist eine sekundäre Frage. Der Volksentscheid ist das Wahrscheinlichste. Wir sind davon überzeugt, dass wir einen solchen zweiten Volksentscheid gewinnen werden. Der Wahlkampf muss sehr anders sein als der vor dreieinhalb Jahren – aber wir werden ihn gewinnen. Wenn wir die stärkste Fraktion werden im Unterhaus, nach den Neuwahlen, dann sehen wir das als ein Mandat, den Brexit sofort zu stoppen. Denn das wäre ja auf unserem Wahlslogan.
Meurer: Eher unwahrscheinlich, dass es dazu kommt, aufgrund des Mehrheitswahlrechts. Würden Sie eine Koalition mit Jeremy Corbyn eingehen?
Von Wiese: Wir brauchen keine Koalition. Wir sind zuversichtlich, dass wir das auch alleine können. Eine Koalition momentan, mit irgendeiner der anderen Parteien, ist vollkommen ausgeschlossen.
"Ich habe das Vertrauen auch, dass ich dableiben werde"
Meurer: Vor vier Monaten hat für Sie das Abenteuer Europaabgeordnete angefangen, vielleicht ist es in elf Tagen schon wieder vorbei. Haben Sie gewusst, auf was Sie sich einlassen?
Von Wiese: Natürlich. Wir wussten alle, worauf wir uns einlassen. Ich habe meinen Job als Anwältin in der City aufgeben müssen, ich habe auch keinen Plan B dafür, was jetzt passieren sollte. Ich glaube, wir sind ganz bewusst dieses Risiko eingegangen. Ich hoffe, es war es wert. Ich habe ein Team von sieben Leuten, die für mich arbeiten, die auch keinen Job mehr hätten am 01. November. Das ist natürlich sehr schwierig, ist auch psychologisch sehr schwierig für uns. Ich persönlich arbeite einfach mit der Zuversicht, dass wir noch da sein werden. Mein Kalender ist voll bis ins nächste Jahr. Ich werde am 31. Oktober in Washington sein, United Nations-Ausschuss, in meiner Rolle als Vizepräsidentin des Menschenrechtsausschusses im Europäischen Parlament. Und es hat uns keiner gesagt: 'Nein, das könnt ihr nicht machen, ihr seid ja vielleicht nicht mehr da'. Das heißt, unsere europäischen Partner haben das Vertrauen in uns gehabt. Und ich habe das Vertrauen auch, dass ich dableiben werde.
Meurer: Eines kann man nicht behaupten, dass es hier nicht spannend ist, in Großbritannien, London und Brüssel. Herzlichen Dank für das Gespräch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.