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Britischer Gesundheitsdienst NHS
Nationalheiligtum und Zankapfel

National Health Service - das staatliche Gesundheitssystem Großbritanniens wird über Steuergelder finanziert. Kein Brite zahlt also direkt für Krankenhaus- oder Arztbesuche. Insofern wirkt der NSH wie die letzte sozialistische Insel im Mutterland des Kapitalismus. Vor der Wahl ist diese nationale Instanz heiß umkämpft.

Von Sandra Pfister | 06.06.2017
    In einem Krankenhaus in Wales, Großbritannien, hört ein Arzt einen Patienten ab
    Das britische Gesundheitssystem NHS ist stark unterfinanziert und steht unter Druck. (imago / UIG)
    Der NHS ist nach dem US-Verteidigungsministerium, McDonald's, Walmart und der chinesischen Volksbefreiungsarmee mit 1,5 Millionen Beschäftigten der größte Arbeitgeber der Welt. Aber einer, der bescheiden bezahlt. Der britische Gesundheitsminister wurde in einer beliebten britischen Talkshow unlängst gegrillt, weil so viele britische Krankenschwestern neuerdings bei Lebensmitteltafeln gesichtet werden.
    Die Gesundheitsexperten sind sich weitgehend einig, dass es dem NHS noch nie so schlecht ging wie heute. Die Labour-Opposition schlachtet das im Wahlkampf weidlich aus. Jonathan Ashworth, bei Labour Anwärter auf den Posten des Gesundheitsministers. "Lassen Sie uns das nicht kleinreden: Noch nie in der Geschichte des Gesundheitssystems wurde es so unter Druck gesetzt und ausgequetscht. Deshalb haben sich die Standards der Behandlungen so sehr verschlechtert."
    Auch, dass ein Computervirus vor drei Wochen so viele britische Krankenhäuser lahmlegen konnte, wird auch der Unterfinanzierung angelastet. Neue Software und Sicherheits-Updates sind für viele britische Krankenhäuser schlichtweg zu teuer.
    Neue Behandlungsmethoden, eine alternde Bevölkerung und mehr chronische Krankheiten: Das Office für Budget Responsability, so etwas wie die Wirtschaftsweisen in Deutschland, hat ausgerechnet, dass pro Jahr vier Prozent in den Britischen Gesundheitsservice fließen müssten, um den Behandlungsstandard aufrecht zu erhalten. Davon ist die derzeitige Regierung weit entfernt – aber auch alle anderen Parteien, sagt Goerge Stoye vom unabhängigen Institute for Fiscal Studies.
    "Die Parteien unterscheiden sich gar nicht so stark. Die Konservativen versprechen mehr Geld, das sie über sechs Jahre strecken wollen, das würde 1,2 Prozent netto jährlich entsprechen. Und Labour wäre etwas generöser und würde zwei Prozent in Aussicht stellen. Aber verglichen mit dieser historisch noch nie da gewesenen Kraftanstrengung versprechen die Parteien wenig."
    Nur wenige Pflegeplätze in Heimen
    Der größte Vorteil des NHS – sein kostenloser Service – ist zugleich auch sein größtes Problem: Die Ausgaben für IT-Sicherheit und Krankenschwestern konkurrieren mit der für Polizisten oder neue Bahnstrecken. Seit 2010 jedoch sind Steuererhöhungen quasi tabu. George Stoye: "Wir könnten höhere Steuern erheben, wir könnten woanders sparen, oder wir könnten einfach den Leuten klarmachen, dass sie ihre Erwartungen an den Service zurückschrauben müssen, den das Gesundheitssystem leisten kann."
    Die Erwartungen sind schon niedrig: Mehr Patienten denn je müssen vier Monate oder länger auf Operationen warten, Zehntausende Krebspatienten werden erst nach mehr als drei Monaten behandelt. Viele Notaufnahmen sind chronisch unterbesetzt; Ärztevertreter warnen, eine Behandlung dort sei ein Gesundheitsrisiko.
    Vor allem hat die Regierung nicht ausreichend für die Altenpflege vorgesorgt. In Großbritannien gibt es keine Pflegeversicherung und zudem viel zu wenige Pflegeplätze in Heimen. Deshalb bleiben ältere Menschen oft wochenlang im Krankenhaus. Das ist nicht nur teuer für den Steuerzahler. Für andere Patienten bleiben auch nicht genug Betten. Gesundheitsminister Jeremy Hunt verteidigt sich – und lenkt ab:
    "Andere Parteien behaupten einfach, dass es einen magischen Baum gibt, von dem das Geld nur gepflückt werden muss, wir sagen: Das Gesundheitssystem kann nur stark sein, wenn wir eine starke Wirtschaft haben, und deshalb spielt der Brexit für das NHS eine so große Rolle, und warum es wichtig ist, dass Theresa May einen guten Brexit-Deal aushandelt."
    Dabei steht eher zu befürchten, dass der NHS damit zum Dauerpatienten wird: Ein Zehntel der verzweifelt gesuchten Ärzte und Pfleger kommen aus der EU, und fast die Hälfte denkt über eine Rückkehr nach.
    Überdies gibt es Indizien, dass mit einem gesünderen NHS erst gar nicht so viele Briten für den Brexit gestimmt hätten. "Jede Woche schicken wir 350 Millionen Pfund an die EU – lasst sie uns stattdessen unserem NHS geben!", war der bekannteste Slogan der Brexit-Befürworter. Schon am Tag nach dem Referendum wurde das Versprechen kassiert. Die wirksamste Lüge der Brexit-Kampagne war eine NHS-Lüge.