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Brouwers "Das Holz"
Internatsgeschichte zwischen dem Kreuz Christi und Misshandlung

"Das Holz" von Jeroen Brouwers ist eine tiefschwarze Geschichte aus den 50er-Jahren. Sie ist an der deutsch-niederländischen Grenze in einem Klosterinternat angesiedelt. Dort herrscht ein Schreckensregime. Der niederländische Autor entwirft in seinem Buch mit großer sprachlicher Virtuosität eine geschlossene, lichtlose Welt.

Von Christoph Schröder | 22.12.2016
    Holzkreuz in einer Kirche
    Das Holz, das dem Roman auch seinen Titel gibt, hat eine doppelte Bedeutung: Zum einen ist es das Kreuz Christi zum anderen das Schlaginstrument, mit dem die Schüler misshandelt werden. (AFP/Olivier Morrin)
    Wer in dieses Buch eintritt, sollte alle Hoffnung fahren lassen. Jeroen Brouwers zieht uns hinein in einen düsteren Mikrokosmos aus Gewalt, Trieb und Bigotterie. Es ist die Karwoche des Jahres 1953, die Woche vor Ostern. In einem katholischen Internat in der niederländischen Provinz, nicht weit entfernt von der Grenze zu Deutschland, lebt Eldert Haman als Aufseher.
    Das Internat wird von Franziskanerbrüdern geleitet, von jenem Orden also, der sich der Armut verschrieben und das Motto "Ora et labora", "bete und arbeite", zum Lebensprinzip erhoben hat. Gnade gibt es hier für die Schüler nicht. Sie werden nicht unterrichtet, sondern gebrochen, nicht erzogen, sondern geprügelt, bei jeder kleinsten vermeintlichen Verfehlung; bei jeder Abweichung von einem engmaschigen Regelwerk.
    "Mit der flachen Hand, mit der Faust, mit beiden Fäusten, mit einem Kleiderbügel, mit einer Sandale, dem Rosenkranz, dem Griff eines Handbesens, den Knoten unseres Büßerstricks, Mansuetus mit dem Holz."
    Das Kreuz Christi und das Schlaginstrument zum Misshandeln
    Mansuetus, das ist der Schulleiter, eine hünenhafte, widerwärtig grunzende Gestalt, genannt nur "Der Eber". Er führt ein Schreckensregime. Das Holz, das dem Roman auch seinen Titel gibt, hat eine doppelte Bedeutung: Zum einen ist es das Kreuz, das Christus, der Erlöser, getragen hat. Zum anderen ist es das Schlaginstrument, mit dem die Schüler misshandelt werden. Der vielfach ausgezeichnete niederländische Autor Jeroen Brouwers entwirft mit großer sprachlicher Virtuosität eine geschlossene, lichtlose Welt.
    Geradezu physisch wird die Intensität der Beklemmung spürbar, in der die Insassen, inklusive Eldert selbst, eingeschlossen sind: das Kratzen der Kutte, die ungewöhnliche Hitze, die in der Karwoche herrscht, die Züchtigungen, der Schmerz, die Demütigungen. Und die Geilheit. Denn der Roman beschreibt auch ein Perpetuum mobile der Schuld: Das Klostersystem selbst erzeugt permanent jene sündhaften Taten, die es nach außen hin zu bekämpfen vorgibt.
    "Der Schulleiter bestellt einen engelhaarigen Knaben zu sich. Wir besprechen mal deine Noten, Junge. Hand streicht dem Jungen durchs Haar, über dessen Hand, über dessen Schenkel. Wenn der Kleine sich zur Wehr setzt, holt Mansuetus ein braunes Fläschchen hervor, drückt ihm etwas aufs Gesicht. Und dann. Und dann. Flüsternd wurde es weitererzählt. Darüber zu schweigen, ist eine Sünde und deformiert mich zu dem Feigling, der ich bin."
    In diesen perversen Kreislauf aus Eros und Züchtigung hat Eldert, der Ich-Erzähler, sich integriert, ohne dass er so recht wusste, wie ihm geschah. Seine Vorgeschichte wird angedeutet: Er war ein aufgeklärter Mann, Deutschlehrer. Er hat Hölderlin gelesen und Rilke, aber auch Faulkner und Camus. Doch die Glaubensgemeinschaft hat ihn, den eher labilen, von den Erfahrungen mit den NS-Besatzern, die seinen Vater haben verschwinden lassen, noch traumatisierten Intellektuellen, aufgesogen. Man könnte auch sagen: Er wurde umgedreht.
    Die frühere Existenz hinter sich gelassen
    Aus Eldert Haman wurde Bruder Bonaventura. Ein Mann, der das, was innerhalb der Klostermauern passiert, mit den Gräueltaten der Nationalsozialisten vergleicht. Und der doch zu feige ist, dagegen aufzubegehren, selbst nachdem er vom Schulleiter öffentlich gedemütigt und vom Lehrer zum Schlafsaal-Aufseher degradiert wurde. Eldert hat seiner früheren Existenz abgeschworen und zugelassen, dass jegliche Anknüpfungspunkte an das weltliche Leben wie eine Krankheit ausgemerzt wurden.
    "Wie unter völliger Betäubung, bei der das Krebsgeschwulst herausgeschnitten wird, verschwand ich aus mir selbst, denn ich sei das Geschwulst, sagten sie. Und auch die Welt außerhalb der Mauer war das Geschwulst. Die Bücher und Zeitungen und Filme, die Tanzmusik und der Teufelsjazz aus dem Radio und die scharfen asiatischen Speisen, zu denen man Bier trinkt, verursachten den Krebs des Geistes."
    Wie lange hält man das aus? Und was muss geschehen, damit sich etwas ändert? Das letzte Drittel des Romans verliert zwangsläufig ein wenig an atmosphärischer Intensität, weil Brouwers die Klostertüren öffnet – wenn auch nur für eine Reihe von Zahnarztbesuchen.
    Bei einem davon lernt Eldert eine Frau kennen, Patricia, die, der Begriff ist passend, mit Engelszungen auf ihn einredet, den Mut zu finden, aus dem Abhängigkeitsverhältnis auszubrechen. Doch es bedarf noch weiterer Geschehnisse, bis Eldert in einer großen Schlussszene am Gründonnerstag während der Heiligen Messe quasi seine eigene Auferstehung feiern kann.
    "Sieh mich, wie ich dem offenen Tabernakel den Rücken zukehre, barfuß, schwitzend wie ein Kautschukbaum, noch immer blind, auch wenn ich alles wahrnehme, und taub, auch wenn ich die Stimmen höre, das Poltern, den Lärm und mitten hinein die Orgel. Durch den Mittelgang zwischen den Bänken gehe ich, ich renne nicht, ich schlurfe nicht, ich gehe, wie ich immer gehe, zum anderen Ende der Kapelle, noch immer überrascht über meine eigene Gelassenheit."
    In der Reihe großer Internatsgeschichten
    Man könnte annehmen, dass Brouwers ein wenig zu viele Motive auf dem doch recht engen Raum von 230 Seiten verarbeitet hat: Katholizismus und Nationalsozialismus, Lust und Schmerz, Kollaboration und Emanzipation. Doch Brouwers gelingt es, seinen Stoff sprachlich zu kanalisieren und jegliches Pathos zu vermeiden. "Das Holz" steht in einer Reihe großer Internatsgeschichten, von Musil über Zoderer bis hin zu Peter Hoegs "Plan von der Abschaffung des Dunkels". Und auch wenn der Buchmessenschwerpunkt Niederlande bereits Vergangenheit ist – es wäre bedauerlich, wenn dieser Roman nicht noch die Aufmerksamkeit bekäme, die er verdient.
    Jeroen Brouwers: "Das Holz", Verlag Weissbooks, Frankfurt am Main 2016, 234 Seiten, 24 Euro.