Capellan: Was empfehlen Sie denn Ihren Parteifreunden?
Müntefering: Ja, an der Linie festzuhalten, das ist konsequent. Die Epoche der großen Koalition in Berlin ist vorbei. Sie hat gute und schlechte Zeiten gehabe; man muss da nicht nur Steine nach schmeißen. Aber aus Gründen der politischen Hygiene – nach der Affäre von Diepgen und Landowsky – ist es Zeit, dass jetzt etwas Neues beginnt. Und deshalb braucht man Neuwahlen in Berlin.
Capellan: Also notfalls auch ein konstruktives Misstrauensvotum?
Müntefering: Ja, das Ziel sind Neuwahlen und die Chance für Wählerinnen und Wähler, sich neu zu entscheiden. Wenn Diepgen aber nicht bereit ist, Konsequenzen zu ziehen – er wackelt ja von einem Bein auf’s andere gestern –, dann muss man auch das konstruktive Misstrauensvotum als möglich ansehen.
Capellan: Welche Koalitionsempfehlung geben Sie Ihren Parteifreunden in Berlin?
Müntefering: Keine, aber natürlich dafür sorgen, dass man selbst möglichst stark wird, viel Vertrauen bei den Menschen einwerben und dann abwarten, welche Konstellation nach der Wahl möglich ist.
Capellan: Nun wäre ja Rot-Grün ein Ergebnis. Eine Koalition mit den Grünen würde die Position der Bundesregierung mit Blick auf den Bundesrat ja auch stärken. Wäre es da nicht sinnvoll, mit einer klaren rot-grünen Koalitionsaussage in den kommenden Wahlkampf zu gehen?
Müntefering: Ja, aber wir müssen ja, so wie die Dinge in Berlin liegen – es ist ja viel Bewegung in der Luft –, die Möglichkeiten offenlassen, die sich nach einer Wahl ergeben. Es gibt sicher eine Priorität für eine solche Koalition, das ist ganz klar. Aber man muss auch sagen, dass man abwarten muss, was aus der FDP wird in Berlin. Die sind ja auf dem Weg nach vorne. Eines scheint mir ausgeschlossen werden zu müssen: Das ist eine Wiederauflage der großen Koalition. Die sollte zu Ende sein.
Capellan: Aber eine Koalition mit der PDS – eine Einbeziehung der PDS – wäre möglich?
Müntefering: Sie ist prinzipiell nicht auszuschließen.
Capellan: Die PDS ist also koalitionsfähig?
Müntefering: Ja, sie ist ja schon in Mecklenburg-Vorpommern und in Sachsen-Anhalt dabei; es gibt Städte und Landkreise, in denen man miteinander regiert. Es ist möglich. Und da Sie das Thema so ansprechen: Ich finde das, was sich da gestern auf Seiten der CDU abspielte – auch bei Herrn Diepgen selbst –, schon eine Ungeheuerlichkeit. Wir sollten jetzt 10/12 Jahre, nachdem die deutsche Einheit glücklicherweise da ist, aufhören, die Stadt und das Land zu spalten. Jetzt brauchen wir wirklich Versöhnen statt Spalten. Berlin braucht keinen Regierenden Bürgermeister, der zehntausend oder hunderttausend Menschen, die die PDS in der vergangenen Zeit gewählt haben, in dieser Stadt ausschließen. Wer nach demokratischen Regeln ins Parlament kommt, der gehört dazu. Dazu muss man sich nicht lieben, dazu muss man sich nicht mögen, aber ein ordentlicher demokratischer Umgang miteinander, der muss schon möglich sein.
Capellan: Mich wundert das ein wenig, Herr Müntefering, denn früher hat sich die Bundes-SPD ja sehr wohl eingeschaltet, wenn in den Ländern über rot-rote Bündnisse gesprochen wurde. Das war in Sachsen-Anhalt so, das war auch in Mecklenburg-Vorpommern so. Als Harald Ringsdorff erstmals eine solche Koalition anstrebte, da gab es heftigen Gegenwind. Es gibt auch jetzt schon wieder kritische Stimmen aus den Reihen der Sozialdemokraten. Warum sieht die Bundes-SPD jetzt alles anders als früher.
Müntefering: Also, dass Berlin die Stelle ist, wo die deutsche Teilung die meisten Wunden geschlagen hat und dass noch vieles davon offen ist, das will ich ja überhaupt nicht bestreiten. Aber ich werbe dafür, dass sie dies nicht zu einer Sache auf Unendlichkeit machen. Das ist nun 10 Jahre her. Dazu gehört die Bereitschaft, aufeinander zuzugehen und zu sagen: "Wir arbeiten jetzt ‚Pro Berlin‘ miteinander, und wir schließen nicht zehntausende – oder wie viele – von Wählerinnen und Wählern im Osten dieser Stadt aus". Manchmal habe ich den Eindruck, dass in den Köpfen von Diepgen oder auch anderen Leuten noch ein bisschen mehr Mauer ist, als man in Berlin hier sehen kann.
Capellan: Also die PDS hat sich zum Positiven – Ihrer Ansicht nach – gewandelt?
Müntefering: Wir messen sie an dem, was sie heute tut. Und wenn man sich Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt anguckt und wenn man die handelnden Menschen bei der PDS in Berlin kennt, dann weiß man, sie gehören zum demokratischen Spektrum dazu. Da muss man nicht mit allem einverstanden sein. Auf der Bundesebene ist ihre Außen- und Sicherheitspolitik nicht so, dass man an eine Zusammenarbeit im Jahr 2002 irgendwie denken könnte. Eine Koalition mit der PDS ist nicht unsere Lieblingsvorstellung, aber man kann sie aus demokratischen Gründen nicht ausschließen.
Capellan: Und Sie können sich – Sie haben es angedeutet – auch eine sozial-liberale Koalition vorstellen?
Müntefering: Ja, natürlich – auch mit den Grünen noch dazu. Das sind alles Möglichkeiten, die offen sind. Nur – ich sage nochmal: Wenn Berlin vorankommen will, und das soll es, dann muss diese Zeit der großen Koalition jetzt zu Ende sein, die ihre Berechtigung hatte. Aber es ist jetzt nötig, die Türen und Fenster aufzumachen und neue frische Luft hier reinzulassen.
Capellan: Wäre Rot-Rot in Berlin das richtige Signal für die Bundestagswahl?
Müntefering: Ich glaube gar nicht, dass das große Auswirkungen hat. Ich finde, dass in den letzten 3-4 Jahren sich da in Deutschland vieles verändert hat und die Menschen damit sachlicher und nüchterner umgehen als bisher. Nochmal: Es geht um die Wählerinnen und Wähler. Möglichst viele von denen hätten wir und haben wir gerne für uns. Und dafür werden wir auch werben. Aber dann werden wir sehen, wie entschieden ist; und dann muss auch irgendwie regiert werden. Und deshalb kann man nicht im Vorhinein alle Möglichkeiten ausschließen.
Capellan: Herr Müntefering, Berlin – die Stadt Berlin – ist ja mehr oder weniger Pleite. Kann – muss der Bund einspringen?
Müntefering: Zunächst einmal ist Berlin auf sich selbst angewiesen – so wie jedes Land. Ich meine, es ist einer der Gründe für die Krise, die wir jetzt im Augenblick haben: Die Arroganz, mit der Herr Diepgen und Herr Landowsky umgegangen sind mit dieser Situation und die Leichtigkeit, mit der sie in den vergangenen Tagen Vorschläge gemacht und wieder einkassiert haben, zeigt ja, dass sie die Brisanz der Situation noch gar nicht begriffen haben. Das wird, wenn man regiert, keine leichte Zeit in Berlin sein. Da gibt es nichts zu verschenken. Aber es ist ganz klar: Der Bund wird gegenüber Berlin das tun, was seine Aufgabe ist; das tut er schon bisher. Aber Berlin wird sich anstrengen müssen.
Capellan: So weit SPD-Generalsekretär Franz Müntefering. Das Gespräch mussten wir vor 10 Minuten aufzeichnen. Direkt live am Telefon begrüße ich nun Münteferings CDU-Kollegen Laurenz Meyer. Guten Morgen Herr Meyer.
Meyer: Guten Morgen Herr Capellan.
Capellan: Herr Meyer, Sie haben gehört, was Franz Müntefering gesagt hat. Er sieht die PDS als koalitionsfähig an. Sie habe sich gewandelt. Warum sehen Sie das anders?
Meyer: Ja, also ich finde das Argument, wer also im Parlament ist, ist prinzipiell koalitionsfähig – das finde ich nun blanken Unsinn - wenn Sie nur mal daran denken, dass wir - Gott sein Dank - ganz anders reagiert haben, wenn rechtsradikale Protestparteien ins Parlament gewählt worden sind, und man muss das Argument von Herrn Müntefering auf diese Situation anwenden, dann zeigt sich schon, dass das also Quatsch ist. Ich sehe das also ganz, ganz anders. Berlin ist doch sozusagen der Inbegriff dessen, was wir mit deutscher Teilung verbunden haben und mit all den Schrecken, die dort an der Mauer passiert sind. Wir haben in diesem Jahr am 13. August den 40-jährigen Jahrestag der Berliner Mauer, mit all dem Schrecklichen, was da passiert ist. Und in solch einem Jahr sich zu überlegen, mit der Nachfolgepartei der SED eine Koalition in Berlin einzugehen . . .
Capellan: . . . aber immerhin – Entschuldigung, Herr Meyer – immerhin bekennt sich doch die PDS zu ihrer Vergangenheit, und sie will sich auch für die Toten an der Mauer nun entschuldigen . . .
Meyer: . . . ja, also ich habe da keinen Zugang zu, muss ich ganz offen sagen. Viele Berliner werden das genau so sehen. Die Berliner SPD war früher ein Teil des Freiheitskampfes in Deutschland, also das war ja sozusagen der Inbegriff in Berlin, in dieser Frontstadt. Also, Ernst Reuter und Willy Brandt würden sich im Grab umdrehen, wenn sie sehen würden, dass aus purem Machtstreben jetzt die SPD bereit ist, hier mit der PDS zusammen eine Koalition einzugehen.
Capellan: Warum? Was ist noch gefährlich an der PDS – Ihrer Ansicht nach?
Meyer: Ja nun, die PDS ist in ihrer Mitgliedschaft ganz eindeutig zusammengesetzt aus Mitgliedern und auch aus Führungskräften, die aus der alten Zeit herübergekommen sind und eine entsprechende Vergangenheit haben. Und mit solchen Leuten darf man keine Koalition eingehen, gerade nicht in Berlin.
Capellan: Aber gerade wenn Sie sich die Führung anschauen: Da sind doch sehr viele neue Köpfe auch in der PDS.
Meyer: Ja sicher, aber ein Programm irgendwie in einer Absetzung – zu dem hat sich die PDS ja bisher nicht verständigen können, das muss man ja nun ganz eindeutig sagen . . .
Capellan: . . . ich habe gesagt, sie bekennen sich zur Vergangenheit der SED, sie bekennen sich auch zum Grundgesetz; die kommunistische Plattform hat an Bedeutung verloren innerhalb der PDS. Warum darf sie nicht mitregieren?
Meyer: Ja, wir sehen das aus prinzipiellen Gründen so, dass man das also nicht machen darf, und gerade in Berlin nicht. Das wäre eine wirklich verheerende Botschaft. Nun mal abgesehen davon, dass Herr Müntefering den Versuch ja macht, Herrn Diepgen, der sicher viel weniger an irgendwelchen problematischen Vorgängen dieser Bank beteiligt war, als die allermeisten SPD-Leute, die da in den Aufsichtsgremien gesessen haben. Der Aufsichtsratsvorsitzende wurde von der SPD gestellt; die ehemalige Finanzsenatorin Fugmann-Heesing hatte diese ganzen Vorgänge mit gesteuert. Wenn Sie nur mal bedenken: Gestern abend musste der Schatzmeister der Berliner SPD zurücktreten, weil er als Anwalt bei diesen Bankgeschäften offensichtlich noch versucht hat, Kredite für diese Bauträgergesellschaft einzufordern, als die Bank schon keine Kredite mehr geben wollte. Also, die Berliner SPD versucht hier, sich sozusagen reinzuwaschen, sich aus dem Staub zu machen. Die sollten gemeinsam sehen, dass die also Ordnung reinbringen . . .
Capellan: . . . das haben sie aber auch angekündigt, Herr Meyer; das hat die SPD angekündigt, dass man sich auch zur Verantwortung bekennt und dass man untersuchen will, was da falsch gelaufen ist. Aber nochmal zurück zum Thema "SPD-PDS". Es läuft ja nun vieles auf eine Einbeziehung der PDS in eine künftige Koalition hinaus. Werden Sie eine Kampagne dagegen starten in Form einer neuen "Rote-Socken-Kampagne"?
Meyer: Nein, nicht in Form einer neuen Rote-Socken-Kampagne. Aber wir werden schon ganz energisch dagegen antreten, dass in Berlin eine Koalition zustande kommt unter Einbeziehung der PDS. Und da die SPD hier ganz offensichtlich – und wenn Sie sich die Zahlen ansehen – ausschließlich aus Machtstreben versucht, hier mit der PDS zusammenzugehen, dann muss man also da energisch gegen vorgehen. Wenn Sie die Umfragen jetzt gesehen haben, dann zeigt sich, dass also bei den Wählern etwa zur Zeit Herr Gysi durch die Wähler im Osten einen erheblich höheren Vertrauensvorschuss hat als der SPD-Kandidat Wowereit, der gestern aufgestellt worden ist. Die Zahlen waren so, dass sich 22 Prozent der Wähler für Herrn Gysi ausgesprochen haben und 6 Prozent für Herrn Wowereit. Das zeigt doch die Ausgangsposition. Die SPD gerät ja sogar in die mögliche Position, dass sie hier vielleicht sogar Minderheitspartner in einer solchen Koalition wäre. Also, eine schreckliche Vorstellung für Berlin. Und die Probleme zu bewältigen in einer solchen Koalition: Das hat ja mit dem Bankgeschehen noch am wenigsten zu tun. Hier sind Milliarden strukturelle Defizite aufzuarbeiten, die mit der Situation der Teilung Deutschlands zu tun haben, mit Wohnungsbeständen, die im Osten der Stadt sind. Alleine 3,5 Milliarden jedes Jahr muss diese Stadt bezahlen, weil sie Wohnungsbestände im Osten übernommen hat in der Finanzierung, die sie heute nur schwer tragen kann.
Capellan: Herr Meyer, lassen Sie uns nochmal über Gysi sprechen. Das ist ja interessant, was Sie gerade angesprochen haben – die guten Umfragewerte. Das zeigt doch, dass die Bevölkerung eigentlich sich vorstellen kann, dass die PDS regiert, dass sie sogar den Regierenden Bürgermeister stellt. Warum kann die CDU das einfach ignorieren? Glauben Sie, dass das bei Ihren Parteifreunden im Osten wirklich gut ankommen kann?
Meyer: Es ist doch offensichtlich so, dass die PDS immer noch ein Sinnbild ist für ein geteiltes Land. Sie hat ja nur im Osten der Stadt Rückhalt, dort allerdings sehr großen – aus der Geschichte, aus der Struktur der Wählerschaft im Osten Berlins. Und von daher ist es sozusagen hinfällig. Und wenn man hier die Teilung der Stadt zementieren will, dann muss man die PDS an der Regierung beteiligen. Und jetzt sie auch noch hoffähig zu machen, das ist reines Machtstreben der SPD. Wir werden also da energisch gegen vorgehen. Also, zwölf Jahre nach der Wiedervereinigung einen solchen Schritt zu tun – ausschließlich unter machtpolitischen Gesichtspunkten –, das zeigt, dass hier also die Bundes-SPD auch weit weg ist von ursprünglichen Prinzipien, die die SPD mal gehabt hat.
Capellan: CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer war das in den Informationen am Morgen im Deutschlandfunk. Herr Meyer, haben Sie vielen Dank; auf Wiederhören.
Meyer: Auf Wiederhören.
Link: Interview als RealAudio