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Brünn
Digitale Hauptstadt Tschechiens

Brünn hat sich zum Magneten für Informatiker entwickelt. Viele Start-Ups haben hier ihren Sitz, etliche Firmen haben Entwicklungsabteilungen in der zweitgrößten Stadt Tschechiens. Die neuen Bewohner, die gute Geschäfte machen, haben Brünn verändert.

Von Kilian Kirchgeßner | 18.10.2019
Unternehmer Tomas Izak in seiner Stadt Brünn
In Brünn boomt die IT-Wirtschaft. "Die Atmosphäre hat sich geändert", sagt Digitalunternehmer Tomas Izak. (Deutschlandradio / Kilian Kirchgeßner)
Es liegt ein Hauch der alten k. u. k. Atmosphäre in der Luft: Die großen Bürgerhäuser haben prächtige Fassaden, eine Mariensäule steht auf dem Platz, die Einheimischen flanieren in gemächlichem Tempo, die Kaffeehäuser sind gut besucht – von Brünn aus, ist es ein Katzensprung nach Wien, ins Herz der einstigen österreichisch-ungarischen Monarchie.
"Wir sind jetzt auf dem Jakobsplatz, einem der Symbole für die Veränderungen in der Stadt."
Tomas Izak steht mitten auf dem Platz, vor der Jesuitenkirche, in den Häusern ringsum sind Cafés und Bars. Izak ist 39 Jahre alt, weißes Hemd und eleganter Anzug. Er ist einer von denen, die Brünn verändert haben. Für sein Studium ist er vor vielen Jahren hierher gezogen.
"Damals war der Platz hier tot, das war zumindest mein Eindruck. Er war nicht so herausgeputzt, die ganzen Bars gab es noch nicht. Das war generell so: In Brünn gab es einfach kein Nachtleben."
"Die Atmosphäre hat sich geändert"
Heute pulsiert hier das Leben: Sobald im Frühling die ersten Sonnenstrahlen herauskommen, sitzen Hunderte an den Tischen der Restaurants – so wie im gesamten Stadtzentrum von Brünn. Tomas Izak ist in einer Bürgerinitiative mit Namen "Zit Brno" aktiv – frei übersetzt etwa "Brünn leben" -, und saß für sie einige Jahre im Stadtrat. Wenn er durchs Zentrum läuft, kann er zu jedem Haus, jedem Platz eine Geschichte erzählen. Angekommen auf dem Freiheitsplatz, einem zentralen Platz in Brünn, zeigt er auf die umliegenden Häuser:
"Vor fünf Jahren war dieser Platz voller visuellem Smog: Überall waren Werbeschilder angebracht, hässliche Verkaufsbuden standen hier, es gab keinerlei Respekt vor der Geschichte des Platzes und der Architektur. Heute ist das anders – und man kann gleich spüren: Auch die Atmosphäre hat sich geändert."
In Brünn ist der Boom der tschechischen IT-Branche am sichtbarsten. 380.000 Einwohner leben hier, viele von ihnen arbeiten in einem der Digitalunternehmen. Ganze Büroquartiere sind in den vergangenen Jahren entstanden, ausländische Software-Unternehmen haben sich dort ebenso eingemietet wie einheimische Start-Ups.
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe "An die Spitze - Das digitale Paradies in Tschechien" in der Sendung "Gesichter Europas".
Auch Tomas Izak ist Unternehmer, mit seinen 40 Mitarbeitern hat er sich auf Online-Werbung und Webseiten spezialisiert. Er steuert ein Café am Dominikanerplatz an, sein Lieblingstisch steht oben auf der Galerie. Er nimmt an einer riesigen hölzernen Kabeltrommel Platz, die zum Tisch umfunktioniert wurde, und bestellt einen Cappucino.
Eine Art positiver Teufelskreis
Was in den zurückliegenden paar Jahren in Brünn passiert ist, sei eine Art positiver Teufelskreis gewesen: Innovative IT-Firmen lockten junge Leute an, mit denen das Leben in der Stadt attraktiver, studentischer wurde – und diese besondere Atmosphäre wiederum sorgte dafür, dass die nächsten Unternehmen auch hier investieren wollten.
"Das ging irgendwie Hand in Hand. Am Anfang gab es eine starke Vision, etwa von den Gründern des hiesigen Innovationszentrums und von privaten Firmen, die Technologie-Parks aufgebaut haben. Sie zogen alles andere hinter sich her. Die Dynamik war viel stärker als etwa in Prag – es ist geradezu unglaublich, was das mit der Region gemacht hat."
Unternehmer Tomas Izak in seinem Lieblingscafé in Brünn
Izak in seinem Lieblingscafé in Brünn (Deutschlandradio / Kilian Kirchgeßner)
Das Tempo der Veränderung allerdings ist nicht allen ganz geheuer: Die Initiative "Zit Brno", für die Tomas Izak aktiv ist, scheiterte bei den Kommunalwahlen im vergangenen Jahr an der Fünf-Prozent-Hürde. War das ein Votum gegen die Richtung, in die sich die Stadt entwickelt? Und: Werden jetzt viele der Neuerungen wieder zurückgedreht? Für Antworten auf diese Fragen ist das Wahlergebnis noch zu frisch, die neue Koalition muss erst Schritt fassen. Tomas Izak jedenfalls ist nicht mehr als Ratsherr dabei, wenn jetzt über die Zukunft der Stadt entschieden wird. Wenn er deswegen frustriert ist, lässt er sich es nicht anmerken.
"Ich kann das nur empfehlen: Jeder soll mal die Kommunalpolitik ausprobieren. Man kann wirklich etwas anstoßen, das geht."
"Fachleute-Markt komplett leergesaugt"
Dass die Änderungen in der Stadt, die ganze umgekrempelte Wirtschaftsstruktur, auch neue Probleme schaffen können, bekommt Tomas Izak dennoch zu spüren. Der Boom stelle ihn vor ganz handfeste Herausforderungen, sagt er:
"Hier haben sich viele interessente Firmen aus der ganzen Welt angesiedelt, die den Fachleute-Markt komplett leergesaugt haben. Manager, Entwickler, Designer. Alle sind zu den internationalen Firmen gegangen, es war niemand mehr auf dem Markt."
Vor einiger Zeit entschloss er sich deshalb zu einem Schritt, den er eigentlich nicht gehen wollte: Er eröffnete eine Niederlassung in Prag – ausgerechnet dort, in der Hauptstadt, mit der Brünn eine herzliche Rivalität verbindet. Anders sei es aber einfach nicht mehr gegangen, sagt Tomas Izak: In Prag finde er leichter IT-Mitarbeiter als hier im boomenden Brünn.
Eine Produktion des Deutschlandfunk von März 2019