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Bruno Latour
Ethnologischer Blick auf den Conseil d'État

Bruno Latour blickt in seinem Werk "Die Rechtsfabrik – Eine Ethnographie des Conseil d'État" auf diese französische Institution, die dem Bundesverwaltungsgericht ähnelt, aber auch beratende Funktion hat. Er macht dies auf Grundlage der Akteur-Netzwerk-Theorie.

Von Hans-Martin Schönherr-Mann | 07.02.2017
    Der Wissenschaftssoziologe und Philosoph Bruno Latour im Zentrum für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe
    Der Wissenschaftssoziologe und Philosoph Bruno Latour. (picture alliance / dpa)
    Nach der Wahl Trumps und der britischen Brexit-Volksabstimmung könnten Bruno Latours Plädoyer für ein ökologisches Verständnis der Demokratie und für eine Erneuerung Europas nicht aktueller sein. Mit seinem Buch "Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen", das 2012 auf Französisch erschien, entwickelt er dabei vor allem aber auch seine an der Ethnologie orientierte Methode weiter.
    So wirft Latour auch in seinem Buch "Die Rechtsfabrik – Eine Ethnographie des Conseil d'État" weder einen juristischen noch einen soziologischen Blick auf den Conseil d'État. Als wenn er sich einer unbekannten Kultur nähern möchte, beschreibt Latour ethnologisch, was man oberflächlich sehen und hören kann. Trotzdem gesteht er:
    "Hier gerät der Ethnologe in Verzweiflung: Wird er jemals oberflächlich genug sein, um die Kraft des Rechts zu erfassen?"
    Was aber kann man vom Conseil d'État sehen und hören? Von einer Institution, die dem deutschen Bundesverwaltungsgericht ähnelt, aber auch Aufgaben eines Justizministeriums hat, nämlich die Regierung zu beraten – eine Institution, die es in dieser Form nur in Frankreich gibt.
    Dieser Staatsrat hat seinen Sitz in Paris unweit des Louvre im Palais Royal. Für seine circa 300 Mitglieder braucht man natürlich entsprechende Räumlichkeiten und Archive für die Berge von Akten. Seit seiner Gründung durch Napoleon 1799 hat sich daran nicht allzu viel geändert. Ansonsten geht es vergleichsweise ruhig zu, produziert der Conseil d'État mit seinen Entscheidungen selten öffentliche Aufregungen. Das unterscheidet die Arbeitsweise im Verwaltungsrecht vom Prozessrecht, bemerkt Latour:
    "Der Ingrimm und das Blut des Strafrechts beeinträchtigen die Aufmerksamkeit hier nicht; keine Effekthascherei der Rechtsanwälte stört das Ausbessern der Texte. Wenn es eine Gelegenheit gibt, das 'reine' Recht zu studieren, dann gerade diese, die der Rat bietet."
    Der Rat schafft kein Recht, er legt es nur aus, indem er sich an früheren Entscheidungen orientiert. Latour beschreibt dieses Vorgehen daher folgendermaßen:
    "Es gibt also eine gewisse Historizität in diesem millimeterweisen Fortschreiten, in dem sich eigentlich nichts ereignen soll als der besonders verbindliche Ausdruck dessen, was immer schon da gewesen ist. Alles hat sich geändert, und doch hat sich nichts geändert."
    Latours Rechtsfabrik diskutiert der von Marcus Twellmann herausgegebene Sammelband "Wissen, wie Recht ist", der Beiträge einer Tagung in Konstanz enthält. In seinem eigenen Beitrag erläutert Twellmann den Zweck von Latours Studie mit den Worten:
    "Einen hastigen Zugriff der Theorie zu vermeiden, begriffliche Feststellungen aufzuschieben, um die Sicht nicht von vornherein durch Abstraktionen zu verstellen, darauf kommt es dabei an."
    Struktur als Voraussetzung für die Arbeitsweise
    Latour beschreibt den Rat von außen, von seiner materiellen Seite, aber natürlich auch die Arbeitsweise, die sich in den Sitzungen und in den produzierten Texten dokumentiert. Diese Struktur des Rates stellt für Latour die Voraussetzung für dessen Arbeitsweise dar:
    "Die Richter räsonieren nicht: Sie setzen sich mit einer Akte auseinander, die auf sie einwirkt, die sie bedrängt, die sie herausfordert, die ihr Tun veranlasst. Es gibt nichts, dass stärker den Eindruck eines Widerstands, einer Sache, eines Rechtsfalls hervorruft. Nichts, das materieller, das realer wäre."
    Latour gehört mit seinem Buch "Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft" aus dem Jahr 2005 zu den Entwicklern der sogenannten Akteur-Netzwerk-Theorie, die einen lockeren Rahmen für die Beschreibung von Beobachtetem liefert und die daher eigentlich für Latour gar keine richtige Theorie sein will. Anders als der in den Sozialwissenschaften verbreitete Konstruktivismus, der davon ausgeht, dass Tatsachen und Realitäten letztlich Konstrukte wissenschaftlicher Verfahren sind, insistiert Latour darauf, dass es materielle Widerstände und Tatsachen gibt, die die Akteure beeinflussen. Daraus ergeben sich keine verschiedenen Realitäten, konstituiert sich die Realität vielmehr durch die diversen Tatsachen, auf die die Akteure reagieren. Allerdings sollte gemäß der Akteurs-Netzwerk-Theorie gerade nicht das herauskommen, was in der "FAZ" der Berliner Staatsrechtler Christoph Möllers in seiner Rezension von Latours "Rechtsfabrik" behauptet:
    "Nichts Geringeres als eine allgemeine Theorie des Rechts ist freilich der ausdrückliche Anspruch Latours."
    Denn anders als Möllers behauptet, verweigert sich Latour auch in seinem Kommentar der Beiträge eines 2015 erschienenen Bandes einer Pariser Tagung über seine Rechtsfabrik, den auch der Konstanzer Band enthält, explizit der Begriffsbildung:
    "Wenn die Metapher des Netzes jemals eine Bedeutung hatte, dann beim Recht, weil sein Umfang genauso bemerkenswert ist wie seine Leere."
    Stützen kann sich Möllers indes im Konstanzer Band auf den Beitrag der Professorin für öffentliches Recht an der Sorbonne Pascale Gonod, die wenig Gutes an Latours Rechtsfabrik lässt:
    "Bruno Latour scheint ziemlich wenig Achtung vor den Universitäten zu haben, sofern man danach urteilt, dass er ihre zahlreichen Arbeiten über den Staatsrat kaum heranzieht. Ihre Lektüre hätte ihm jedoch Irrtümer erspart, deren Häufung einige Verwirrung hervorruft."
    Für Pascale Gonod erfasst Latours verengter ethnographischer Ansatz ähnlich wie für Möllers weder die Eigenart der Institution, noch die Vorgehensweise der Richter, geschweige denn das Recht als solches.
    Anders als Möllers bezweifelt sie auch die wissenschaftliche Validität eines wichtigen Vergleiches zwischen dem Recht und den Wissenschaften. Wie diese sich im Umgang mit der Realität unterscheiden, arbeitet Latour auf seine beschreibende Weise heraus:
    "Es wird Zeit, von den Wissenschaften nicht zu verlangen, zu entscheiden, und vom Recht nicht zu fordern, die Wahrheit zu sagen."
    Recht abhängig von der Politik
    So sind gemäß der Akteur-Netzwerk-Theorie die handelnden Personen auf unterschiedliche Art in ihre Angelegenheiten und Zusammenhänge – das Netzwerk – eingebunden. Wissenschaftler erklären die Wirklichkeit zumeist kausal. Der Conseil d'État verspinnt dagegen die Tatsachen so in ein Netzwerk, dass über Rechtsfälle gemäß dem Recht bzw. der bisherigen Rechtsprechung entschieden werden kann.
    Indes betrachtet Latour das Recht als abhängig von der Politik. Ohne Politik ließe sich das Recht nicht durchsetzen, herrscht kein Recht. So schreibt Latour:
    "Die Autonomie der Politik und die notwendige Heteronomie des Rechts zu verwechseln, ist mehr als eine Straftat: Es ist ein schwerer politischer Fehler."
    Dagegen ermöglicht für Latour das Recht überhaupt die individuelle Zuschreibung von Verantwortung für Sprechen und Handeln. Dadurch konstituiert es den Akteur, den es ohne die Verantwortung nicht gäbe. Denn als handelnder trägt der Akteur im sozialen Netzwerk die Verantwortung für sein Tun. Dabei geht es ihm nicht um eine kritische Rechtstheorie, die Möllers anmahnt, lässt sich Latour selbst vom Konformismus-Vorwurf nicht beeindrucken. In der Einleitung distanziert er sich dezidiert von den kritischen Soziologen,
    "die sich nur dann für gerecht halten, wenn sie eine Schneise rauchender Trümmer und aufgeflogene Geheimnisse hinterlassen."
    Kritik der westlichen Denkweise
    Dabei kritisiert Latour durchaus die westliche Welt, die ohne darüber nachzudenken, was ein Rechtsstaat ist, diesen anderen Völkern und Kulturen aufs Auge zu drücken versucht. Hier verlangt er einerseits mehr Zurückhaltung, mehr Beschreibung der eigenen Strukturen und vor allem eine größere Achtung vor anderen Kulturen.
    Während die Sozialwissenschaften die westlichen Gesellschaften zumeist als aufgeklärt und modern darstellen, betrachten sie andere Kulturen als rückständig. Das aber ist selbst eine unaufgeklärte Haltung, erklärt er mit einem seiner bekannten Buchtitel aus dem Jahr 1991 stattdessen: Wir sind nie modern gewesen. Daher wendet er den ethnologischen Blick zurück auf die westlichen Gesellschaften und im vorliegenden Band auf den Conseil d'État. So fragt Latour:
    "Wenn wir niemals modern gewesen sind, was sind wir dann? Sind die Kontraste erst einmal aufgefrischt, können wir mit weiteren Friedensvorschlägen an den Verhandlungstisch zurückkehren: 'Hier, dies macht unserer Auffassung nach unsere Menschlichkeit aus, worin besteht die Ihre?'"
    In den beiden letzten Jahrzehnten kritisiert Latour vor allem die Umweltdebatten, bei denen trotz aller wissenschaftlichen Erkenntnisse beispielsweise die drohende Erderwärmung bezweifelt wird. Nicht erst in seinen jüngsten Publikationen, sondern bereits 1999 fordert er in seinem Buch "Das Parlament der Dinge – Für eine politische Ökologie die Dinge", also die Natur, die auf die Menschen wirken, mit den Menschen gleichzustellen, weil:
    "Niemand weiß, was eine Umwelt vermag; niemand kann im vorhinein definieren, was der Mensch ist. Wir müssen nicht mehr hin- und herschwanken zwischen dem unabweislichen Recht der Menschen – bis in ihre künftigen Generationen hinein verlängert oder auch nicht – und dem unbestreitbaren Recht der 'Dinge selbst', sich der Existenz zu erfreuen."
    Gemäß der Akteur-Netzwerk-Theorie geht Latour von Tatsachen der Umwelt wie der Klimaerwärmung aus, die die Wissenschaften auch dann noch richtig erfasst haben, wenn sie keine absoluten Wahrheiten liefern.
    Bruno Latour: "Die Rechtsfabrik – Eine Ethnographie des Conseil d'État",
    Konstanz 2016, Konstanz University Press, 348 Seiten, kartoniert, Preis: 29,90 Euro
    Marcus Twellmann (Hg.): "Wissen, wie Recht ist – Bruno Latours empirische Philosophie einer Existenzweise",
    Konstanz 2016, Konstanz University Press, 225 Seiten, kartoniert, Preis: 26,90 Euro