Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist alt und etabliert. Doch den Anforderungen einer Welt, die mit der Klimakrise ringt, wird diese Statistik eigentlich nicht mehr gerecht. Es gibt viele Vorschläge, wie das BIP ersetzt - oder zumindest ergänzt werden sollte. Bei fast allen diskutierten Modellen sollen der ökologische Fußabdruck und andere Folgen für die Umwelt eine größere Rolle spielen
Woher kommt das BIP?
Das Bruttoinlandsprodukt ist laut Statistischem Bundesamt ein Maß für die wirtschaftliche Leistung einer Volkswirtschaft in einem bestimmten Zeitraum: „Es misst den Wert der im Inland hergestellten Waren und Dienstleistungen (Wertschöpfung), soweit diese nicht als Vorleistungen für die Produktion anderer Waren und Dienstleistungen verwendet werden.“ Bei den großen Industrienationen summiert sich das Jahr für Jahr auf Billionen-Beträge.
Beim Bruttosozialprodukt hingegen werden vom BIP Erwerbs- und Vermögenseinkommen abgezogen, die an das Ausland geflossen sind - und diejenigen Einkommen hinzugefügt, die von Inländern aus dem Ausland bezogen worden sind.
Das Bruttoinlandsprodukt ist somit der „Mainstream“-Wohlstandsindikator. Seit den 1950er-Jahren werde diese statistische Messgröße in dieser Form verwendet, sagt der Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe. Auch wenn schon in der Zeit des Merkantilismus im 17. und 18. Jahrhundert im Zuge der Konkurrenz zwischen Handelsnationen erste Statistiken etwa über die Güterbewegungen erhoben worden seien. Die ersten umfassenden Statistiken zu ganzen Volkswirtschaften sind laut Plumpe im 20. Jahrhundert entstanden – als Folge der Planwirtschaft in der Zeit der Weltkriege.
Welche Kritik gibt es am BIP?
Kritik am BIP gibt es schon lange. Bereits in den 1960er-Jahren sagte der US-amerikanische Politiker Robert Kennedy: „Das Bruttoinlandsprodukt misst alles, außer dem, was das Leben lebenswert macht.“Seit den 1970er-Jahren läuft laut Wirtschaftshistoriker Plumpe eine Debatte, ob das BIP die Leistung einer Volkswirtschaft richtig abbilde. Das Bruttoinlandsprodukt enthalte nämlich nur die Güter und Transaktionen, die über Marktpreise zu identifizieren sind. Plumpe plädiert dafür, am "unverzichtbaren" BIP festzuhalten – es aber durch andere Indikatoren zu ergänzen.
Heute erscheint Kritik am BIP berechtigter denn je, denn der Zuwachs an materiellem Wohlstand bringt massive Verluste an anderer Stelle mit sich. Schäden an der Umwelt gelten im BIP als externe Effekte, also werden sie nicht mitgerechnet. Viele ökologische Probleme wie Klimawandel, Artensterben und Verschmutzung wachsen oft mit dem BIP, werden aber nicht darin eingepreist. Es gibt auch Kritik aus sozialen Gründen: So geht die Schere zwischen Arm und Reich in vielen Ländern auseinander und Menschen fühlen sich von der zunehmenden Beschleunigung überfordert.
Wie verbreitet ist die Idee, Wohlstand neu zu vermessen?
Der Direktor der UN-Statistikabteilung, Stefan Schweinfest, hat nachzählen lassen, wie viele alternative Indizes es gibt: „Wir kamen auf über 500 Initiativen, die es weltweit gibt, um da neue Indikatoren zu entwickeln. Und das ist natürlich erst mal etwas erschreckend. Auf der anderen Seite deutet es darauf hin, dass es da auch einen Bedarf gibt. Und die gute Nachricht ist eben auch, dass wir da auch sehr viel haben, auf das wir schon aufbauen können.“
Seit der Weltfinanzkrise 2008/09 gebe es auch immer mehr Länder, die sich darum bemühen, einen breiteren Wohlfahrts-Ansatz zu wählen, sagt Nicola Brandt, Volkswirtin und Leiterin des OECD Berlin Center. Die OECD arbeite seit 2009 mit ihren Mitgliedsländern daran, dass Bruttoinlandsprodukt zu ergänzen. Denn Faktoren wie Klimaschutz, Gesundheit und Bildung seien eben auch Aspekte, die erfasst werden müssten, um Politik zu steuern und eine gute Politik zu gestalten.
Auf Ebene der Vereinten Nationen wird über den Aufbau eines „Beyond GDP“ (Gross domestic product, englisch für Bruttoinlandsprodukt) debattiert. UN-Generalsekretär António Guterres will mit den Staaten der Welt erörtern, wie ein weltweit akzeptierter alternativer Wohlfahrtsindikator jenseits des BIPs aussehen könnte. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass Statistiken zu einer nachhaltigen Entwicklung einbezogen werden sollen. 2024 soll dies Thema bei einem großen Zukunftsgipfel der Vereinten Nationen sein. Es wird dabei wohl eher nicht auf eine Zahl wie beim BIP hinauslaufen. Stattdessen soll es wohl eine Art Dashboard geben – mit Daten zu unterschiedlichen Lebensbereichen.
Welche alternativen Wohlstands-Indikatoren gibt es bereits?
Eine der bekannteren Indikatoren ist der HDI, der Human Development Index: Er kombiniert Lebenserwartung, Bildung und Einkommen zu einer Zahl. Zudem gibt es den Better Life Index der OECD und viele verschiedene nationale Initiativen wie das Recoupling Dashboard.
Schon etwas länger gibt es in Deutschland den Nationalen Wohlfahrtsindex, der 21 ökonomische, ökologische und soziale Komponenten vereint. Der ist übrigens im Gegensatz zum BIP in den letzten Jahren nicht gestiegen. Seinen höchsten Wert hatte er 1999.
Und es gibt das das Brutto-Ökosystemprodukt (Gross Ecosystem Product, kurz GEP). Das hat maßgeblich Gretchen Daily, Ökologin der Universität Stanford zusammen mit Statistikern der Vereinten Nationen vorangetrieben. 2021 wurde es von den UN genehmigt, Länder wie Kolumbien oder Schweden experimentieren bereits damit und China hat das GEP sogar 2022 für den landesweiten Einsatz eingeführt. Da geht es genau um den Punkt: Weil es für die Leistungen von Ökosystemen keinen Marktpreis gibt, kalkuliert man einen. Man gibt der Natur also einen Wert, der in die Berechnungen einfließen kann.
Wie können sich neue Wohlstands-Indizes durchsetzen?
Bis eine global einheitliche Methodik sich durchsetzt, könne es noch dauern, schätzt Volkswirtin Brandt vom OECD Berlin Center. Wichtig seien viele Indikatoren und eine gute Qualität der Daten.
Fortschritte zeigen sich etwa beim Brutto-Ökosystemprodukt GEP: Ausprobiert und durchgerechnet haben Stanford-Ökologin Gretchen Daily und ihre Kollegen das am Beispiel der chinesischen Provinz Qinghai, einer sehr dünn besiedelten Region, die ungefähr zweimal so groß ist wie Deutschland und sechs Millionen Einwohner hat. Qinghai ist ein Hotspot für Biodiversität und gilt als "Wasserturm" Chinas, weil hier der Jangste, der Gelbe Fluss und der Mekong entspringen. Das chinesisch-amerikanische Forscherteam trug viele Daten zusammen: Marktpreise für Vieh, für Fische, für Agrarprodukte, Preise für Energie aus Wasserkraft, aber auch kalkulierte Preise für Ökosystemleistungen, die beispielsweise von Wäldern oder intaktem Grünland erbracht werden.
Auch wenn am Ende einiges an Daten fehlte, ergab sich doch ein erstes Bild: Im Jahr 2015 schufen die verschiedene Ökosysteme gut vier Milliarden Euro an Wert, indem sie Sandstürme verhinderten und 900 Millionen Euro, indem sie die Bodenqualität erhielten. Insgesamt betrug das Ökosystemprodukt in Qinghai im Jahr 2015 umgerechnet rund 24 Milliarden Euro. Dabei stellte die Wasserversorgung und die gewonnene Wasserkraft den Löwenanteil. Allerdings kam nur rund ein Drittel der Provinz Qinghai selbst zugute. Von den übrigen Leistungen der dortigen Natur profitierten andere Regionen.
Es gibt bereits Länder, in denen alternative Wohlfahrts-Indikatoren in politischen Entscheidungen berücksichtigt werden. Neuseeland steht da an erster Stelle, das zu der sogenannten Wellbeing Alliance gehört. Dort werden Haushaltsmittel bereitgestellt, um bestimmte Wohlfahrtsziele zu erreichen, etwa die psychische Gesundheit oder das Wohlergehen von Kindern zu verbessern. Und der Erfolg wird auch gemessen und evaluiert.
Quellen: Kathrin Kühn, Tomma Schröder, tei