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Klimaneutralität
Leeres Label oder echter Wandel?

Viele Firmen, Kommunen oder Staaten haben das Ziel „Klimaneutralität“ ausgerufen. Bestenfalls unternehmen sie aktiv etwas, um die klimaschädlichen Emissionen zu reduzieren. Oft genug setzen sie aber lediglich auf CO2-Kompensation. Das wird auf Dauer nicht reichen.

Von Benjamin Dierks |
Ein großer Teil der Containertransporter im Containerterminal Altenwerder im Hamburger Hafen fährt nicht mehr mit Dieselmotoren, sondern batteriebetrieben
Ein großer Teil der Containertransporter im Containerterminal Altenwerder im Hamburger Hafen fährt nicht mehr mit Dieselmotoren, sondern batteriebetrieben (picture alliance / blickwinkel / C. Kaiser)
Ein Container nach dem anderen wandert am Terminal Altenwerder im Hamburger Hafen vom Deck eines Schiffs über die blau-rot lackierte Containerbrücke. Von dort aus werden die gewaltigen Stahlkisten an schweren Drahtseilen auf automatisierte Fahrzeuge hinabgelassen. Diese folgen einem computergesteuerten Netz aus Transportsonden im Boden und bringen die Container ohne Fahrer ins Lager. Das Besondere: ein großer Teil dieser Containertransporter fährt nicht mehr mit Dieselmotoren, sondern batteriebetrieben. In den kommenden zwei Jahren solle der Dieselverbrauch noch weiter sinken, sagt Jan Hendrik Pietsch, der Nachhaltigkeitsbeauftragte beim Terminalbetreiber HHLA.

Containerterminal Altenwerder: Umstellung von Diesel auf Batterie

„Von vormals ungefähr vier Millionen Litern Diesel werden wir auf einen Dieselverbrauch von ca. 500.000 bis 600.000 Litern zurückgehen.“
Das hat dazu beigetragen, dass der Containerterminal in Altenwerder vom TÜV als „klimaneutral“ zertifiziert wurde — als erster weltweit. Dafür hätten neben den batteriebetriebenen Containerfahrzeugen viele Abläufe für die Be- und Entladung der Schiffe umgestellt werden müssen, berichtet Pietsch.
„Grundsätzlich ist jede Energie, die man verbraucht, natürlich zu hinterfragen. Das heißt, unser erster Ansatz ist grundsätzlich: Können wir unsere Energieeffizienz noch weiter steigern? Der zweite große Schritt ist die Elektrifizierung unserer Prozesse, unserer Geräte, unserer Maschinen und dadurch die Substitution von bisher dieselbetriebenen Vorgängen auf elektrische betriebene Prozesse, Geräte, Maschinen und durch den Einsatz von Strom aus erneuerbaren Energien sind wir damit CO2-bilanziell neutral. Ein zweiter, ungleich größerer Hebel ist die Verlagerung des Straßenverkehrs auf die Schiene.“

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Rund die Hälfte der Container, die im Terminal angeliefert werden oder ihn verlassen, werden mit der Bahn transportiert — weit mehr als andernorts. Was in Altenwerder gelungen ist, plane die HHLA auch an ihren anderen drei Terminals im Hamburger Hafen, sagt Jan Hendrik Pietsch.
„Wir möchten bis 2040 klimaneutral wirtschaften innerhalb des uns zur Verfügung stehenden Wirkungsbereichs und bis 2030 unsere absoluten CO2-Emissionen um mindestens  die Hälfte reduzieren.

Firmen, Staaten, Kommunen - alle wollen klimaneutral werden

Klimaneutral werden, das ist ein Ziel, das viele Unternehmen, Kommunen oder Staaten ausgerufen haben. Der Autobauer VW etwa will bis 2050 eine klimaneutrale Bilanz vorweisen. Die Europäische Union hat ebenfalls 2050 als Zielmarke gesetzt, um den Staatenverbund klimaneutral zu machen. Die Große Koalition zog ihr Ziel in diesem Jahr auf 2045 vor, nachdem das Bundesverfassungsgericht eine ambitioniertere Klimapolitik eingefordert hatte. Die Ampel-Koalition will das fortführen. Und Konstanz, die erste Stadt, die in Deutschland den Klimanotstand ausrief, will es schon bis 2035 schaffen. Viele große Ziele, die grundsätzlich in die richtige Richtung wiesen, sagt Thomas Fischer von der Organisation Deutsche Umwelthilfe.
„Ich glaube, die Klimaneutralität, die sich viele auf die Fahne schreiben, zeigt ja zunächst mal, welche Bedeutung Klimaschutz hat und dass alle verstanden haben, dass es einen Klimawandel gibt. Jetzt müssen wir nur die richtigen Schlussfolgerungen daraus ziehen. Also wenn die Politik sich das Ziel setzt, klimaneutral sein zu wollen, und das für die gesamtdeutsche Wirtschaft, für die Gesellschaft in Anspruch nimmt, dann ist das enorm wichtig.“

Deutsche Umwelthilfe: Als Verbraucher das eigene Handeln hinterfragen

Für viele gar scheint Klimaneutralität nicht nur Ziel zu sein, sondern – wie in Altenwerder - schon Wirklichkeit: Der Paket- und Brief-Express-Dienst DHL verspricht, seine Pakete bereits jetzt klimaneutral zu versenden. Tonnenschwere SUVs gibt es ebenso klimaneutral wie Getränkedosen. Benzin oder Diesel können heutzutage klimaneutral getankt werden. Auch herkömmliches Heizöl gibt es in der klimaneutralen Variante. Und im Discounter steht klimaneutrale Milch im Regal.
Die Beispiele zeigen: Klimaneutralität in der Wirtschaft ist ein weites Feld. Es gibt Unternehmen, die ernsthaft etwas verändern wollen, aber es gibt auch regelrechte Klimakiller, die als klimaneutral angepriesen werden. Und eine Menge dazwischen. Was viele dieser Werbebotschaften angeht, bedeute es für Konsumentinnen und Konsumenten also erst einmal nicht viel, sagt Thomas Fischer von der Deutschen Umwelthilfe.
„Erst mal muss man sich bewusstmachen, dass eigentlich nichts klimaneutral ist. Das ist der erste und wichtigste Fakt, weil letztendlich muss man sein Handeln hinterfragen und die Klimaauswirkungen, die damit zusammenhängen. Das betrifft den Konsum, das betrifft Mobilität, das betrifft Produkte und beispielsweise auch den Energieverbrauch zu Hause. All das hat Klimaauswirkungen.“

Expertin: Das Label „klimaneutral“ heißt erst mal nicht viel

Wenn also ein Unternehmen seinem Produkt das Etikett „klimaneutral“ angeheftet hat, bedeutet es nicht, dass für die Produktion kein Kohlendioxid ausgestoßen wurde oder das Produkt gar umweltfreundlich ist — wie bei einer angeblich klimaneutralen Getränkedose oder einem Liter Diesel vielleicht leicht ersichtlich. Klimaneutral bedeutet bestenfalls, dass das Unternehmen alles unternimmt, um die anfallenden klimaschädlichen Emissionen zu reduzieren. Oft bedeutet es aber auch, dass ein Unternehmen an seinen direkten Emissionen zwar nichts oder wenig geändert hat, dafür aber an anderer Stelle für den CO2-Abbau bezahlt, um den eigenen Ausstoß dadurch auszugleichen. Die Botschaft klimaneutral sei also oft alles andere als klar, sagt auch Eva Rechsteiner, Wissenschaftlerin am Institut für Energie- und Umweltforschung Heidelberg.
Maschinen der Fluggesellschaft British Airways auf dem Flughafen Heathrow.
Flugpassagiere zahlen jeweils ein paar Euro für den Klimaausgleich, damit wird idealerweise ein Wald aufgeforstet (imago / Frank Sorge)
„Ich weiß ja tatsächlich nicht: Wenn ich irgendwo auf einem Produkt ‚klimaneutral‘ lese, ist es so, dass die Energieproduktion vor Ort auf erneuerbar umgestellt wurde oder decken die sich komplett mit CO2-Zertifikaten und CO2-Gutschriften ein? Das ist sehr undurchsichtig.“

CO2-Emissionen - reduzieren oder kompensieren?

In einigen Fällen fand die Wettbewerbszentrale das Label „klimaneutral“ so irreführend, dass sie Klage wegen unlauteren Wettbewerbs erhoben hat. Der Verein, dem viele führende Unternehmen und Verbände angehören, verlangt, dass klarer gekennzeichnet wird, wann ein Unternehmen selbst Emissionen reduziert und wann es lediglich auf Kompensation setzt. Das Prinzip des CO2-Ausgleichs kennt jeder, der schon einmal mit dem Flugzeug geflogen ist und beim Ticketkauf ein paar Euro für den Klimaausgleich bezahlt hat. Die Kerosin-Emissionen für den eigenen Flug sinken dadurch nicht. Aber dafür wird von dem Geld beispielsweise ein Wald aufgeforstet. Dafür gibt es eigens Unternehmen, die diesen Ausgleichshandel organisieren und zertifizieren. Denn grundsätzlich gilt:
„Klimaneutral ist, wenn nicht mehr Treibhausgase ausgestoßen werden, als durch die Umwelt aufgenommen werden kann“, erläutert Eva Rechsteiner. Damit bezieht sich die Energieexpertin auf die Definition, wie sie beispielsweise der UN-Weltklimarat vertritt. Die Menge an Treibhausgasen, die etwa durch Industrieprozesse, durchs Heizen oder den Verkehr in die Atmosphäre gelangt, muss an anderer Stelle durch die sogenannten Kohlenstoffsenken aufgenommen werden. Schätzungen zufolge binden natürliche Senken zwischen 9,5 und elf Gigatonnen CO2 pro Jahr. Die jährlichen globalen CO2-Emissionen betrugen 2019 aber 38 Gigatonnen. Die Differenz zeigt: Vom Ausgleich ist die Welt noch weit entfernt. Deswegen wird es nicht ausreichen, allein auf Senken zu setzen, wenn es schon in einigen Jahren spürbare Erfolge geben soll.

Kompensation für CO2-Emissionen - auf Standards achten

„Bei der Klimaneutralität ist nicht das oberste Ziel, fossile Energien zu reduzieren, sondern man versucht, durch verschiedene Methoden irgendwo anders Emissionen einzusparen. Und das führt häufig dazu, dass eben sogenannte Ausgleichsverrechnungen vorgenommen werden. Und das beinhaltet zum Beispiel auch die CO2-Kompensation.“
Die Kompensation für CO2-Emissionen ist nicht grundsätzlich falsch, im Gegenteil. Dem Klima ist es egal, wo und wie auf der Welt Kohlenstoffdioxid reduziert wird. Und die Investitionen in den CO2-Ausgleich führen dazu, dass Projekte finanziert werden, für die sonst womöglich kein Geld aufzutreiben gewesen wäre. Auf der anderen Seite wird Unternehmen vorgeworfen, dass sie lieber vergleichsweise billige Klimaprojekte in Entwicklungsländern unterstützten, als sich an den teuren Umbau der eigenen Strukturen zu machen. Es bestehe auch die Gefahr, dass sie Greenwashing betrieben, also nur zum Schein Klimaziele verfolgten, um ihren Unternehmen oder ihren Produkten einen umweltfreundlichen Anstrich zu verpassen, sagt Jens Tambke vom Umweltbundesamt.
„Das Greenwashing hängt sehr daran, ob die Kompensationen verlässlich sind, das heißt, welche Zertifikate zusammen mit dieser Kompensation angeboten werden.“
Es muss zum Beispiel gewährleistet sein, dass die klimafreundlichen Projekte nur durch die zusätzliche Finanzierung zustande kamen und nicht ohnehin anstanden. Für die Zertifikate gibt es zwei besonders gängige Standards, den Verified Carbon Standard, der am weitesten verbreitet ist, und den noch strengeren Gold Standard. Die Unternehmen erhielten die genannten Zertifikate von unabhängigen Institutionen wie Climate Partner, Atmosfair oder Klima-Kollekte als Beleg dafür, dass mit ihren Zahlungen eine bestimmte Menge an CO2 kompensiert wurde, sagt Tambke.
„Es gibt auf jeden Fall eine Reihe von seriösen Anbietern, die auch sehr gute Projekte in aller Welt fördern, um dort Emissionen zu reduzieren, wo es sonst nicht passieren würde, oder die in natürliche Senken investieren wie die Aufforstung bestimmter Wälder. Aber dabei kommt es darauf an, wie langfristig die Sicherheit dieser Kompensation auch gewährleistet werden kann.“

Expertin: Ausstoß von Treibhausgasen muss auch absolut sinken

Grundsätzliche Probleme aber bleiben: Erstens reicht die Kompensation nicht aus. Der Ausstoß von Treibhausgasen muss auch absolut sinken. Dafür werde aber zu wenig getan, sagt die Heidelberger Energieexpertin Eva Rechsteiner. Und dazu trage die Kompensation von CO2 womöglich bei. Rechsteiners Befürchtung: Wenn Unternehmen und Kommunen sich zu stark um Kompensation bemühen, vernachlässigen sie womöglich die CO2-Reduzierung.
„Und das ist etwas, was wir jetzt häufig in Kommunen sehen. Ich komme gerade wieder aus einer Diskussion mit einer Stadt. Dort wird die Fernwärme klimaneutral gestellt. Die wird mit Erdgas erzeugt, aber es werden CO2-Zertifikate eingekauft und damit eben neutralisiert. Und das ist natürlich die große Frage dahinter: Ist das wirklich die sinnvollste Klimaschutzanlage, die die Stadt machen kann? Denn es sind ja auch städtische Gelder, die da hineinlaufen. Oder sollten nicht wirklich Veränderungen vor Ort stattfinden und bremst diese Kompensation nicht die Veränderung vor Ort?“

Klimainitiativen – Bürgerinnen legen selber los

Welche Veränderungen es vor Ort geben könnte, das versucht auch eine Klimainitiative aus der Gemeinde Halstenbek in Schleswig-Holstein gemeinsam mit engagierten Bürgerinnen und Bürgern herauszufinden.
„Nichtsdestotrotz heißt es für uns jetzt weiter Unterschriften sammeln.“
„Dass wir alle von Tür zu Tür noch gehen.“
„Die Menschen müssen abgeholt werden, die brauchen die persönliche Ansprache.“
Solarmodule werden auf ein Hausdach transportiert. Ein Arbeiter traegt ein Solarpanel,Solarmodul auf ein Dach eines Wohnhauses. Solarstrom,Solarenergie *** Solar modules are transported on the roof of a house A worker carries a solar panel,solar module on the roof of a house Solar power,solar energy
Bürgerinnen und Bürger wollen ihre Kommunen dabei unterstützen, klimaneutral zu werden (imago / Sven Simon)
Die Klimainitiative Halstenbek wollte sich an diesem Abend Anfang Dezember eigentlich in einer Gaststätte im Ortskern treffen, aber dann kamen die steigenden Corona-Zahlen dazwischen. Deswegen haben sie sich zur Videokonferenz verabredet. Die Initiative hat ein ambitioniertes Ziel: Bis 2030 will sie die Gemeinde Halstenbek, die ans westliche Ende von Hamburg grenzt, klimaneutral machen, berichtet Katja Löwe, eine Mitbegründerin der Klimainitiative.
„Wir befinden uns jetzt gerade in der Phase, die Unterschriften zu sammeln. Wenn wir die Unterschriften zusammenhaben, dann müssen wir quasi einen Klimaentscheid erwirken. Das heißt, jeder Halstenbeker ist dann aufgefordert, an die Urne zu gehen und sich dafür auszusprechen, ob sie es möchten, dass die Gemeinde Halstenbek klimaneutral wird bis zum Jahr 2030.“

Klimaentscheid: Eine CO2-Bilanzierung für die Gemeinde erwirken

Ideen gibt es viele in der Initiative: Ein Solardach fürs örtliche Gymnasium soll her. Grünstreifen wollen sie bepflanzen, um Bienen anzulocken. Und eine Kleidertauschbörse soll helfen, unnötigen Konsum zu verhindern.
„Man fühlt sich teilweise so hilflos und denkt sich, was kann ich überhaupt tun? Sagt Katja Löwe. Deswegen hätten sie und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter erst einmal vor der eigenen Haustür begonnen. Wie aber genau die Gemeinde klimaneutral werden soll, müssen sie erst noch herausfinden.
„Der erste Schritt, den wir jetzt machen mit dem Klimaentscheid, ist die Beauftragung eines Planungsbüros – und da geht es auch um Gelder erstmal - was überhaupt einen Klimaaktionsplan zur Klimaneutralität feststellt. Für die Gemeinde selber ist noch nie eine CO2-Bilanzierung oder Ähnliches erwirkt worden.“
Mehr als 60 solcher Klimaentscheide seien in Deutschland seit 2020 gestartet worden, zählt der Verein German Zero, der von der Politik ein neues Klimagesetz verlangt und Initiativen wie die in Halstenbek rechtlich und logistisch unterstützt. Auch Eva Rechsteiner vom Heidelberger Institut für Energie- und Umweltforschung berät Kommunen, die sich auf den Weg der Klimaneutralität machen. Die Anforderungen seien von Kommune zu Kommune unterschiedlich, sagt sie.
„Wir fangen traditionell damit an, zu sagen, man muss eine Energie- und CO2-Bilanz erstellen, um zu erfassen: Woher kommen eigentlich die Emissionen im Stadtgebiet? Und dann merkt man relativ schnell, dass viele Emissionen eben aus dem Bereich Wohnen kommen, dass eben ein hoher Wärmeverbrauch aus den einzelnen Gebäuden stammt, zum Beispiel Öl- oder Gasheizungen, die relativ viel CO2 ausstoßen. In anderen Kommunen hat man eine große Industrie oder eben besonders viel Gewerbe.“

Dekarbonisierung der Fernwärme - ein wichtiger Schritt

Klimaneutral zu werden, bedeutet für Kommunen nicht nur, öffentliche Einrichtungen und Unternehmen umzustellen, sondern auch auf private Haushalte und Unternehmen einzuwirken. Viele Gemeinden setzten sich hohe Ziele, könnten sie aber oft nicht einhalten, berichtet Rechsteiner aus ihrer Beratungspraxis.
„Da stehen die Kommunen gerade vor dieser großen Frage, wie sie das machen sollen, und geraten natürlich da unter einen enormen Druck, dann wieder auf Ausgleichsverrechnungen zurückzugreifen, weil sie eben sehen, sie können ein großes Erdgasnetz nicht innerhalb von zehn Jahren umstellen, oder abschalten oder rückbauen, vor allem nicht, wenn die bundesweiten Regelungen dazu nicht gegeben sind. Also, wir haben ja noch keinen Erdgasausstieg, der von der Bundesregierung vorgegeben ist, oder Ideen, wie die Wärmeversorgung anders gestaltet werden könnte.“
Die Dekarbonisierung der Fernwärme ist ein wichtiger Schritt, damit die Bundesregierung ihr Ziel erreichen kann, Deutschland bis 2045 klimaneutral zu machen. Klimaexperten fordern deshalb, dass die Bundesregierung auch diesen Sektor mit klaren Vorgaben umbaut. Führende Forschungseinrichtungen wie das Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie und das Öko-Institut haben in einer Studie aufgelistet, welche Voraussetzungen Deutschland ihren Berechnungen nach erfüllen muss, um im gegebenen Zeitrahmen klimaneutral zu werden: Bis 2030 sollen 14 Millionen E-Autos statt Verbrenner auf die Straße kommen, danach soll der Verkehr vollständig CO2-frei werden. Die Stromerzeugung soll bis 2030 bereits zu 70 Prozent und danach vollständig auf erneuerbare Energien umgestellt werden. Gebäude sollen bis 2050 zu 90 Prozent saniert oder neu gebaut werden. Industriewärme soll auf Wasserstoff und Biomasse umgestellt werden. Nur einige Prozessemissionen wie etwa in der Zementherstellung sollen dann noch durch CO2-Zertifikate ausgeglichen werden können. Und die Chancen stünden dafür nicht schlecht, sagt Robert Werner, Mitbegründer und Geschäftsführer des Hamburg Instituts, das Unternehmen und Kommunen seit Jahren bei der Umstellung auf Klimaneutralität begleitet. Das Interesse sei schlagartig gestiegen, sagt Werner.

Tipp für Kommunen: Treibhausgasreduktionen rasch in Angriff zu nehmen

„Sodass wir momentan eine bisher noch nie dagewesene Situation haben, dass sowohl in den Kommunen als auch in der Industrie eine sehr hohe Bereitschaft besteht, möglichst rasch auch langfristige Maßnahmen anzugehen, damit wir eine Dekarbonisierung eben noch deutlich vor 2050 erreichen. Also diese Stimmung und diese Bereitschaft, etwas zu tun, auch zu investieren, das ist wirklich qualitativ neu.“
Werner plädiert dafür, keine langen Debatten über Zielmarken und Jahresfristen zu führen, sondern so schnell wie möglich die ersten Treibhausgasreduktionen in Angriff zu nehmen.
„Ob es 2040 ist oder 2039 oder 2042, dass das sekundär ist, solange wir jetzt mit den Maßnahmen anfangen, das ist das Entscheidende. Wenn Kommunen und ihre Bürgerinnen und Bürger erstmal erfahren und erleben, dass man etwas tun kann, und dass die Wärmepumpen installiert werden und dass Wärmenetze gebaut werden und dass eine solarthermische Anlage gebaut wird usw., also Energiewende sichtbar wird, dann ist das wie ein Sog. Dann läuft das. Dann will man mehr, dann merkt man, dass das kein Problem ist und, dass man mit Klimaschutz auch die Lebensqualität in Kommunen steigern kann.“

Unternehmen sollten zunächst genaue Klimabilanz erstellen

Unternehmen empfiehlt Werner, noch keine genauen Ziele zu verkünden, bis sie eine genaue Klimabilanz erstellt hätten. Erst dann wüssten sie, wo tatsächlich Emissionen im Betrieb eingespart werden können, anstatt lediglich Emissionen über CO2-Zertifikate auszugleichen.
„Die Reduktion von CO2-Emissionen, die reale absolute Reduktion muss jetzt absoluten Vorrang haben. Die Kompensation, also sozusagen der Kauf einer Gutschrift aus einer CO2-Reduktion, die irgendwo anders auf der Welt erzeugt wurde, dieser Kauf kommt eigentlich nur noch in Frage für die Emissionen, die man absolut heute nicht reduzieren kann.“
Robert Werner fordert von der Politik ein klares Nachweissystem, vor allem für den Einsatz erneuerbarer Energien. Nur so werde künftig klar, wie „klimaneutral“ ein Unternehmen wirklich ist.