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Buch der Woche
Auf der Suche nach dem perfekten Klang

Dem amerikanischen Schriftsteller Richard Powers ist mit seinem neuen Werk "Orfeo" wieder ein funkelndes, fesselndes Buch gelungen. Seinen Helden Peter Els lässt er auf der Suche nach Tönen, die der Welt einen neuen Dreh geben, ein finsteres Portät der USA zeichnen: eines Landes, das durch die Medien geistig vor die Hunde geht.

Von Martin Ebel | 21.09.2014
    Der amerikanische Schriftsteller Richard Powers am 15. September 2008 in Helsinki.
    Der amerikanische Schriftsteller Richard Powers am 15. September 2008 in Helsinki. (picture alliance / dpa / Vesa Moilanen)
    Die Romane von Richard Powers liest man nicht, wenn man einfach eine Geschichte erzählt bekommen will. Denn mit einer Geschichte, gar nur mit einer, gibt sich der 1957 geborene Autor nie zufrieden. Zwei müssen es mindestens sein, ineinander verschraubt wie eine Doppel-Helix, und sie müssen für zentrale gesellschaftliche Entwicklungen oder Grundfragen einer ganzen Wissenschafts- oder Kunstdisziplin stehen. Im Roman "Das Echo der Erinnerung" etwa waren es Neurologie und Umweltzerstörung, in "Der Klang der Zeit" Rassendiskriminierung und Operngesang. Dass Powers, der neben Literatur auch Physik studiert und als Programmierer gearbeitet hat, sein eigenes Genom analysieren ließ - als neunter Mensch überhaupt - und über die ethischen und psychologischen Konsequenzen gleich ein Buch schrieb, passt dazu.
    Man weiß immer einiges mehr nach der Lektüre dieser ungeheuer intelligenten und umfassend recherchierten Werke, vermisst aber manchmal jenes Glücksgefühl, das einen in der Regel erfüllt, wenn man in der erschriebenen Welt ganz aufgegangen ist. More head than heart, mehr Kopf als Herz, sagt die Kritik seines Landes über Powers, gab ihm aber zu Recht einen National Book Award, und mit "Orfeo" steht er auch auf der aktuellen Auswahlliste für den Man Booker Preis, zu dem erstmals auch Amerikaner Zutritt haben.
    "Orfeo" handelt erneut von Musik, von der E-Musik unserer Zeit. Powers, der heute in Stanford Creative writing lehrt, hätte durchaus auch Musiker werden können. Begabt genug war er, hat schon als Kind im Chor gesungen, Klarinette und Cello gelernt. Die Szene, in der sein Held Peter als achtjähriger Junge, der längst im Bett liegen sollte, einem Chor seiner schon etwas beschwipsten Familie lauscht und, als der nicht weiter kommt, den fehlenden Ton hineinsingt, hat er selbst erlebt: Er war dieser Junge.
    "Der Chor der trunkenen Engel versucht es mit einem schwierigeren Lied. Diese neuen Akkorde sind wie die Wälder auf dem Hügel bei Peters Großmutter, wo sein Vater einmal mit ihnen Schlitten gefahren ist. Schritt für Schritt stolpern die Sänger voran im Dickicht aus verschlungenen Harmonien.
    Noten und Moleküle sind letztlich nichts anderes als Information
    Etwas greift nach ihnen und bringt sie aus dem Takt. Die Finger seiner Mutter verirren sich auf den Tasten. Sie schlägt mehrere an, alle falsch. Unter lautem Gelächter plumpsen die Sänger in einen Graben, das Ginglas in der Hand. Dann singt der Schlafzimmeranzugjunge von seinem Versteck aus genau den verlorenen Ton. Der ganze Chor starrt diesen Eindringling an. Jetzt werden sie ihn bestrafen, weil er mehr Regeln gebrochen hat, als überhaupt jemand zählen kann. Seine Mutter versucht es mit diesem Ton. Einem, den sie nie genommen hätte, aber er liegt auf der Hand – besser als der, nach dem sie gesucht hatte. Die beschwipsten Sänger applaudieren dem Kind. Peters Vater kommt vom andern Zimmerende und gibt ihm einen Klaps auf den Hintern, schickt ihn zurück ins Bett, Strafe suspendiert. "
    Hier also die Musik. Die komplementäre Disziplin ist die Genetik. Zusammen kommt beides auf der Handlungsebene und in der Person des Helden. Eben jenes Peter Els, der erst ein bisschen Chemie studiert hat, sich dann aber ganz dem Komponieren widmet und, als der Roman beginnt, sich ein Heimlabor eingerichtet hat – die Ausrüstung bekommt man problemlos im Internet. Els pfuscht der Schöpfung ins Handwerk: Er will ein Stück Musik in die DNA des Bakteriums Serratia marescens einpflanzen. Wie das gehen soll? Die zwölf Halbtöne werden in das "Vierbuchstabenalphabet", wie Powers es nennt, übersetzt - dass die Bausteine der Nukleinsäuren aus vier Basen bestehen, die sich jeweils paarweise zusammenfügen, gehört fast zur Allgemeinbildung. Noten und Moleküle, meint Peter Els, sind letztlich nichts anderes als Information, beide sind als Datensatz darstellbar, und so kann man mit dem richtigen "Schlüssel" das eine in das andere übersetzen. Man kann biologische Daten in Töne umwandeln (solche Bio-Kompositionen gibt es tatsächlich), aber umgekehrt müsste die "Transkription" auch funktionieren.
    Genau das versucht Peter Els. Seine Motive sind vielfältig. Da ist einmal der Reiz, Musik in einen größeren, abstrakteren Rahmen zu stellen. Dann die Vorstellung, durch Mutationen könnte sich die eingepflanzte DNA-Musik zu etwas Neuem entwickeln: Das Experiment würde also die Kreativität der Natur anstacheln. Schließlich meint Peter Els aber auch, dass das Bakterium ein ideales Speichermedium darstellt: Die menschengemachten Datenspeicher sind nach mehreren Jahren überholt, nach Jahrzehnten gar unlesbar; Bakterien aber steht ein nahezu unendliches Leben bevor. Sie sind älter als die Menschen und werden, davon ist er nach ausgiebiger Lektüre einschlägiger Fachliteratur überzeugt, diese auch überleben. Beherrschen sie nicht eigentlich jetzt schon die Welt?
    Die hysterische Gegenwart in Gestalt zweier Polizisten
    "Handel, Technik, Nationen, Migrationen, Industrie: in Wirklichkeit hatten bei dem ganzen Drama die fünf Nonillionen mutierender Mikroben dieses Planeten das Sagen. Bakterien entschieden Kriege, lenkten Entwicklungen, brachten Weltreiche zu Fall. Sie entschieden, wer zu essen hatte und wer hungerte, wer reich war und wer in Elend und Krankheit lebte. Der Mund eines zehnjährigen Kindes beherbergte doppelt so viele Bakterien, wie es Menschen auf Erden gab. Jeder einzelne Mensch war auf zehnmal so viele Bakterienzellen angewiesen, wie er selbst Zellen hatte, auf hundertmal mehr Bakteriengene als Menschengene. Mikroben bestimmten die Expression des menschlichen Genoms und regulierten den Metabolismus ihres Trägers. Sie waren das Ökosystem, in dem wir lebten. Wir mochten tanzen gehen, aber sie bestimmten, was gespielt wurde.
    Nach einem kurzen Kursus zum Thema Leben im wahren Maßstab wusste Els: Die Menschheit würde ihren Kampf Hygiene kontra Infektion verlieren. Im Augenblick verschanzte die menschliche Rasse sich noch hinter den Barrikaden, umgeben von Illegalen, Schläferzellen aus jedem erdenklichen Stamm. Zwei Jahrhunderte lang hatten die Menschen von einer keimfreien Welt geträumt, und ein paar Jahre lang lebten sie sogar im Glauben, die Wissenschaft habe die Eindringlinge besiegt. Jetzt lauerte die Ansteckung vor den Toren, die Wiederkehr der Unterdrückten. Mehrfachresistente toxische Stämme erhoben sich wie wütende Kolonialvölker und überrannten die Außenposten ihrer Herrn. Und auf Wegen, die Els immer noch nicht so ganz verstand, hatten die zwei Albträume, in denen die hysterische Gegenwart lebte - Bazillen und der Dschihad -, in ihm einen gemeinsamen Protagonisten gefunden."
    Die hysterische Gegenwart sucht ihn heim in Gestalt zweier Polizisten, die sein Labor misstrauisch mustern, Erklärungen verlangen und im Verlauf eines wunderbar absurden Dialogs immer mehr Verdacht schöpfen. Sie beschlagnahmen Geräte und Versuchsobjekte und nehmen sicherheitshalber auch ein Manuskript aus dem 17. Jahrhundert mit – es ist schließlich arabisch.
    Geschichte der modernen Kunstmusik
    Weil irgendwo anders in den USA eine Reihe Menschen erkrankt ist und die Infektion mit eben diesem Bakterium verbunden wird, gilt Peter Els plötzlich als Bioterrorist. Knapp der Verhaftung entgangen, irrt er durch das Land. Durch ein Land, das von Angsthysterie und Überwachungsparanoia beherrscht wird, zwei kollektiven Neurosen, die sich gegenseitig hochputschen. Ein Land, das gerade geistig vor die Hunde geht durch Medien, die in immer schnellerem Takt auf immer gröbere Effekte zielen. Und durch eine Ablenkungsindustrie, die die Konzentrationsfähigkeit seiner Bevölkerung ruiniert. Ein finsteres Porträt Amerikas zeichnet Richard Powers da.
    Die Flucht des Peter Els: Das ist der eine Erzählstrang; eine Art Road Movie, das im Jahr 2011 spielt. Powers hat in Interviews auf den Fall des "Bioartisten" Steve Kurtz verwiesen, der 2004 wegen ähnlicher Experimente verhaftet und angeklagt wurde und der ihn inspiriert hat. Der andere Strang erzählt die intellektuelle und kreative Biografie des Komponisten von den 50er-Jahren bis zur Gegenwart. Powers liefert gleich dazu die Geschichte der modernen Kunstmusik von Gustav Mahler bis Steve Reich, also eines Jahrhunderts der Avantgarden, der permanenten Zertrümmerung und Neuerfindung. Er liefert diese Geschichte in Form von exemplarischen Werkporträts. Es sind Werke, die Els‘ kompositorische Entwicklung entscheidend beeinflusst haben: Mahlers "Kindertotenlieder", das "Quatuor pour la fin du temps" von Olivier Messiaen, die fünfte Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch, das Autobahnkreuzungs-Stück "Barstow" des amerikanischen Avantgardisten Harry Partch und schließlich das "Proverb" auf einen Satz des Philosophen Wittgenstein von Steve Reich.
    Powers steht dabei vor den Schwierigkeiten, die jede Beschreibung musikalischer Verläufe überwinden muss, wenn sie weder technisch noch blumig geraten will; er schlägt sich dabei wacker, und bei der Beschreibung der Werke von Peter Els selbst, seiner "Borges-Lieder", der zwölfstündigen Installation "Unsterblichkeit für Anfänger" oder der Oper "Der Strick des Voglers", also von Musik, die es gar nicht gibt, darf man durchaus an Thomas Manns "Doktor Faustus" und die fiktiven Kompositionen seines Adrian Leverkühn denken.
    Amerikanische Musik als wahrer Horror
    Powers geht es dabei immer um Grundsätzliches, um Fragen der Produktions- wie der Wirkungsästhetik, also darum, wie und warum ein Komponist sich für welche "Sprache" entscheidet und was das Geschriebene, was Musik überhaupt beim Hörer auslöst. Er stellt die geschilderten Werke in einen historischen Kontext, aber auch in die spezifische ästhetische Logik eines bestimmten Moments – das, was Adorno den "Stand des Materials" genannt hat. Dabei huldigt Powers eben gerade nicht dem fast deterministischen Denken Adornos, nach dem die Musikgeschichte einer eindeutigen Entwicklung folgen muss. Dieses Denken hat sich in der Vielfalt der Stile des 20. Jahrhunderts selbst erledigt. Aber der Roman zeigt anhand der Figur des Peter Els sehr schön, wie schwer es ein Neutöner hat, der keine Regeln mehr brechen kann, keine Wände einreißen und auch nichts mehr erfinden kann, weil alles schon einmal gebrochen, eingerissen, erfunden worden ist.
    Powers ist ein amerikanischer Autor, sein Roman der Musik des 20. Jahrhunderts bietet dann auch eine andere Perspektive als die uns vertraute eurozentrische. Ganz ähnlich hat es Alex Ross in seinem fabelhaften Sachbuch "The rest is noise" von 2007 gehalten, von dem Powers eingestandenermaßen erheblich profitiert hat.
    Stichwort amerikanische Musik: Was ist denn mit Rock und Pop? Die kommen bei Powers auch vor, aber nicht als Alternative, sondern als wahrer Horror, den sein Held in der Jugend erleiden muss, als ihn sein älterer Bruder Paul und seine Freunde an einen Barhocker fesseln und ihm eine Zwangsdosis verabreichen:
    "Maybellene."Earth Angel." "Rock Around the Clock." Sie flößen ihm Hits ein, überzeugt, dass sie aus diesem Spinner doch noch einen normalen Menschen machen können. Sogar von Schocktherapie ist die Rede. Die nächste Nummer: "The Great Pretender". Ein mitreißender Song, zum Mitsingen, chinesische Wasserfolter nach dem ersten Refrain.
    Die Ewigkeit gehört
    Was ist denn jetzt schon wieder falsch, Armleuchter?
    Es ist überhaupt nichts falsch. Nur dass… Er schließt die Augen und zählt auf, eins um eins: Tonika. Subdominante. Dominante. Die müssten mal ein paar neue Akkorde lernen.
    Klar doch. Stimmt was nicht mit denen, die sie haben?
    Die sind vollkommen in Ordnung für alle, die mit diesen dreien zufrieden sind. Aber was bedeutet schon "in Ordnung", wenn man die Ewigkeit gehört hat?
    Hier geht’s nicht um Akkorde, schnauzt Paul ihn an.
    Diese Musik kommt nicht voran, Paul. Sie dreht sich im Kreis, wie Wasser an einem Abfluss.
    Dreht…? Bist du taub oder was? Ein verklärter Ausdruck kommt in die Augen seines Bruders: das Hämmernde, Bohrende, der Sex der frühen Rockmusik. Hörst du das nicht? Das ist Freiheit, du vertrockneter Haufen Kacke!
    Peter hört nur harmonisches Gefängnis."
    Musik ist in der Welt dieses Romans allein die Musica Viva, die zeitgenössische E-Musik. Man darf nicht verhehlen, dass dieser Erzählstrang von hohem Anspruch ist und dem Leser einiges abverlangt. Denkbar auch, dass jemand, dem die großen Meister der klassischen und ganz modernen Moderne schnuppe sind, auch durch den hohen sprachlichen und intellektuellen Aufwand, den Richard Powers betreibt, nicht zu bekehren ist und dass sie das Buch irgendwann erschöpft beiseitelegen. Wer dranbleibt, der folgt einer künstlerischen Biografie, die wie ein Kontrapunkt zu den beherrschenden Werten unserer Zeit erscheint. Ruhm und Erfolg, Reichtum und Sicherheit: All das ist Peter Els nämlich völlig egal, gemessen an dem, was ihm wirklich wichtig ist – seine Suche nach der Melodie, nach dem Klang, die wahr sind, die die Menschen bewegen, die die Welt verändern, ja, die Tote aufwecken. Das ist ein emphatischer, in seiner Radikalität fast absurd anmutender Ansatz. Für seine Musik verzichtet er auf Anerkennung und Karriere, auf geregeltes Einkommen, ihretwegen verliert er Frau und Familie. Um frei komponieren zu können, jobbt er als Aufseher in einem Museum, als Klempnergehilfe, als Notenkopist und schließlich als Assistent an einem kleinen College. Für zehn Jahre zieht er sich gar in eine Hütte in den Wäldern zurück, wie Henry Thoreaus klassischer Einsiedler Walden. Es ist für ihn eben eine Frage von Leben und Tod, von Sein und Nichtsein.
    Eine in ihrer Radikalität anrührende Figur
    "Solange dir keiner zuhört, bist du frei."
    Und es sind nicht viele, die ihm zuhören - mit Ausnahme eines kurzen Momentes, als seine Oper über den Untergang der Wiedertäufer in Münster zufällig dann uraufgeführt wird, als sich die Davidian-Sekte in Waco verschanzt und selbst den Tod gibt. Weil ihm der Erfolg aufgrund dieser Parallele obszön erscheint, zieht er die Oper zurück.
    Meist sitzen in seinen Konzerten mehr Menschen auf der Bühne als im Saal.
    In Els’ Suche nach Tönen, die der Welt einen neuen Dreh geben, lebt die Kunstreligion der Moderne weiter – in unseren postmodernen, desillusionierten, materialistisch durchsäuerten Zeiten. Sein Anspruch an das Vermögen der Kunst ist ungeheuer, ja uneinlösbar, es fordert den Einsatz seiner ganzen Existenz. Diese Radikalität macht den Helden literarisch interessant und bei aller Exzentrik zu einer anrührenden Figur.
    Der Autor erlaubt dem Leser die pragmatische Distanz zu ihm – im Buch tritt sie in Gestalt von Ehefrau und Tochter auf. Dann führt er ihn wieder ganz nah an seinen Helden heran, gar in ihn hinein, indem er ihm seine Ohren leiht. Denn Peter Els hört die Welt, nicht nur, wenn Instrumente spielen. Sondern auch bei einem einfachen Telefongespräch mit seiner Frau.
    "Das Telefon klingelte, aber Licht und Schatten in dem Haus zeigten keinerlei Veränderung. Schließlich fragte eine tiefe, unterkühlte und argwöhnische Stimme: Hallo?
    Die einstige Soubrette war zum Alt geworden. Wer ist da?
    Zwei akzentuierte Achtel- und eine Viertelnote: eine absteigende Quinte, gefolgt von einer aufsteigenden Sexte. Der beruhigende Dreiklang hatte etwas Erlesenes, und Els brauchte zwei Taktschläge zu lang für die Antwort. Maddy?
    Das Auf und Ab ihres Atems hallte dumpf in der Tiefe des Hauses. In der Ferne hörte Els etwas wie ein Fitness-Tonband, die munteren Kommandos von Gesundheitsnazis.
    Entschuldigung, sagte sie ohne einen Hauch Bedauern in der Stimme. Wer ist da?
    Ich bin’s - Peter, antwortete er und erkannte die eigene Stimme nicht.
    Schweigen am anderen Ende, ein Timbre, das Els‘ Orchestrierungskunst überfordert hätte. So war das mit Geräuschen. Selbst wenn sie nicht da waren, hatten sie mehr Schattierungen, als jedes Ohr wahrnehmen konnte."
    Vom Geräusch zu sprachlichen Höhenflügen
    Für Els singt und klingt schließlich die ganze Welt, ist jedes Geräusch eine Offenbarung. Das führt auch seinen Autor zu sprachlichen Höhenflügen.
    "Els verfolgte, wie ein feuchtes Eichenblatt durch die Luft segelte und an seiner Windjacke hängen blieb. Er löste es ab, musterte die Blattoberfläche und entdeckte rhythmische Strukturen in den verzweigten Adern. Ein wenig benommen setzt er sich auf einen Felsblock an der Seite des Wegs. Seine Hand fuhr über die Oberfläche des Steins, und die Vertiefungen spielten Töne auf seiner Haut, wie eine Notenrolle. Er blickte auf: Musik glitt in Wolkenformationen über den Himmel, und Lieder huschten über die gestaffelten Schindeln eines nahe gelegenen Dachs. Rings um ihn her wartete ein gewaltiger verborgener Chor in einer großen alternativen Notenschrift nur darauf, dass jemand ihn aufzeichnete. Seine eigene Musik war nicht die einzige, die ungehört blieb. Fast jede Melodie, die die Welt zu bieten hatte, würde für alle Zeiten so gut wie keinen Hörer finden. Und dieser Gedanke stimmte ihn froher als alles, was er je geschrieben hatte."
    Powers gelingt es, diese auditive Wahrnehmung dem Leser plausibel und nachvollziehbar zu machen und - eine Herkulesaufgabe in visuellen Zeiten! - den privilegierten Gesichtssinn einmal auf den zweiten Platz zu verweisen.
    Die ganze Welt ist Musik, die man bloß hören oder "lesen" können muss: Darin liegt aber auch ein kategorialer Fehlschluss. Er liegt auch Els’ letztem Experiment zugrunde, der Umwandlung von Melodien in die "Sprache" der Nukleinsäuren. Gewiss, alles, auch Musik, ist als Information darstellbar, dann wäre die Universalsprache das Eins-Null-Alphabet des Computers. Aber umgekehrt wird kein Schuh daraus: Nicht jede Information wird durch ihre "Transkription" zur Musik. Außer, man weitet den Musikbegriff so weit aus, dass er nichts mehr bedeutet als: irgendwas, das man hören kann.
    Damit Töne den Menschen berühren und bewegen können, damit sie schön sind, dramatisch, sehnsuchtsvoll oder aufwühlend, müssen sie mehr enthalten, mehr sein als bloße Struktur. Es muss etwas Menschliches in ihnen sein, und das kann nur von einem Menschen kommen. Nennen wir es altmodisch Inspiration. Dass Powers’ Held dies negiert, passt zu ihm und zu seinem Autor. Denn genau das ist die Gefahr, der seine eigenen Bücher ausgesetzt sind - so sehr sie, wie dieses, funkeln und fesseln.
    Richard Powers: "Orfeo", Roman, Aus dem Englischen von Manfred Allié.
    S. Fischer, Frankfurt 2014. 492 Seiten, 22.99 Euro