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Buch der Woche
Aufarbeitung einer Familiengeschichte

Der brasilianische Kunsthistoriker Rafael Cardoso lebt seit 2012 in Berlin, wo er nach den Spuren seines jüdischen Urgroßvater Hugo Simon suchte. Dieser war 1941 mit seiner Familie nach Brasilien geflohen. Ihre Geschichte der Ausgrenzung, Flucht und Vertreibung erzählt Cardoso in dem Roman "Das Vermächtnis der Seidenraupen".

Von Margrit Klingler-Clavijo | 25.12.2016
    Autor Rafael Cardoso bei der Lit.Cologne in Köln.
    Manche Bücher haben eine lange Entstehungsgeschichte. Rafael Cardoso brauchte fast drei Jahrzehnte, bis er über das große Tabu seiner Kindheit schreiben konnte. (dpa / Henning Kaiser)
    Manche Bücher haben eine lange Entstehungsgeschichte. Rafael Cardoso brauchte fast drei Jahrzehnte, bis er über das große Tabu seiner Kindheit schreiben konnte, die deutsche Herkunft seiner Familie, über die zuhause nie geredet wurde. Sein Urgroßvater Hugo Simon und seine Ehefrau Getrud waren 1941 mit falschen tschechischen Pässen als Hubert und Garina Studenic nach Brasilien geflohen. Sein Schwiegersohn, der Bildhauer Wolf Demeter, seine Ehefrau Ursula und ihre Schwester Annette waren mit französischen Reisedokumenten nachgekommen.
    Sie alle lebten jahrelang mit falschen Namen und Ausweispapieren in Brasilien und kehrten nach dem Ende des II. Weltkriegs nicht nach Deutschland zurück. Rafael Cardoso stellte die französische Herkunft seiner Familie erst infrage, nachdem er in Sao Paulo im Nachlass seiner Großeltern eine Mahagoni – Kommode entdeckt hatte.
    "Ich öffnete sie langsam und sah tatsächlich, dass sie fast bis oben hin mit Fotos gefüllt war. Ich ging in die Hocke und fing an, die Schubladen eine nach der anderen durchzusehen. Zu meiner Überraschung trat dabei ein reicher Hort von historischen Dokumenten zutage. Briefe von Albert Einstein und Thomas Mann, die sich für Hugo Simon als Freund der Demokratie verbürgten. Eine große, bis oben gefüllte Schachtel mit dem Manuskript des unvollendeten autobiografischen Romans meines Urgroßvaters Seidenraupen, für mich allerdings nicht lesbar, da auf Deutsch verfasst. Jemandem davon zu erzählen, wäre mir nicht in den Sinn gekommen. Vielleicht war mir die paranoide Geheimhaltung, mit der meine Vorfahren das Thema umgeben hatten, in Fleisch und Blut übergegangen."
    schreibt Rafael Cardoso zur Entstehungsgeschichte, auf die er in der Familiensaga näher eingeht. Wahrscheinlich wären die Dokumente in der Mahagoni-Kommode, die er nach dem Tod der Großeltern bei sich zuhause in Rio verstaute, vergilbt und verstaubt, wäre nicht Anfang der 90erJahre die Literaturwissenschaftlerin Izabela Maria Furtado Kestler bei ihm aufgetaucht, um sie zu sichten. Sie schrieb an einer Dissertation über deutschsprachige Exilanten in Brasilien und klärte ihn nach der Auswertung der Dokumente über ihren historischen Wert auf.
    Dokufiktion oder Roman?
    2012 war es dann endlich soweit. Rafael Cardoso ging nach Berlin und schrieb nach Recherchen in deutschen und französischen Archiven "Das Vermächtnis der Seidenraupen". Manche Kritiker halten das Werk für eine Dokufiktion, eine Art fiktionalisierte Biografie über den deutschen Zweig seiner Familie.
    Im Vorwort erklärt Rafael Cardoso: "Was ich erzähle, ist real und gründet auf Tatsachen. Nur dass sich einiges nicht unbedingt so abgespielt hat, wie es hier beschrieben wird. Dies ist ein Werk der Fiktion."
    Rafael Cardoso beschreibt ausführlich, wie er sich dem Sog der Familiengeschichte, mit der er über die Jahre hinweg immer wieder konfrontiert wurde, zu entziehen versucht, erwähnt jedoch nirgends, wie sich die Auseinandersetzung mit dem verborgenen Teil seiner Familiengeschichte auf ihn auswirkte. Die Darstellung einer wie auch immer gearteten Selbstsuche interessiert ihn anscheinend nicht. Die raffinierte Montage des reichlich vorhandenen Erzählmaterials zeigt einen Erzähler, der komplexe historische, kulturelle und politische Zusammenhänge aufzuzeigen vermag.
    Die Familiengeschichte wird im Kontext des europäischen Faschismus verortet, dessen Tentakeln bis nach Lateinamerika reichen. Der Roman wird mit Fotos von Cardosos Familie und Dokumenten aus der Mahagoni-Kommode illustriert, ein ausführliches Personenregister erleichtert dem Leser die Orientierung.
    Seidenraupe als Metapher
    Die Familiensaga beginnt 1930 in Hugo Simons Berliner Villa mit einem grandiosen Empfang zu Ehren des französischen Bildhauers Aristide Maillol und endet 1945 in Brasilien, wo Hugo Simon seinen Roman "Seidenraupen" beginnt, auf den der deutsche Titel von Rafael Cardosos Roman verweist. Hugo Simon starb am 1. Juli 1950 in Sao Paulo. Seidenraupen, der unvollendete und bislang nur auszugsweise veröffentlichte Roman, ist die Bilanz seines ereignisreichen Lebens.
    Rafael Cardoso zufolge entwickelte Hugo Simon, indem er von Beobachtungen und Überlegungen bei der Seidenraupenzucht ausging eine andere Art von Utopie, in der sich die Kräfte des Fortschritts zur nachhaltigen Kultivierung der Natur und der Menschen vereinten. Freie Individuen, entschlossen, zusammen für das Gemeinwohl einzutreten. Eben deshalb lautete sein Titel Seidenraupen.
    Das heikle Gleichgewicht, das erforderlich war, um die Schmetterlinge zu züchten und ihren kostbaren Faden zu gewinnen, war eine Metapher für die Gemeinschaftlichkeit, die die Menschheit brauchte, um sich von Gier und Zerstörung zu befreien. Außerdem handelte es sich um eine Anspielung auf Goethes Torquato Tasso – was ihm besonders am Herzen lag – vom "Schicksal des beneidenswerten Wurms" war dort die Rede, und gemeint war die Seidenraupe.
    Hugo Simon war vor seiner Flucht Mäzen und Sammler
    Im Berlin der 1920er Jahre gehörte der in Polen geborene Hugo Simon zu den einflussreichen Persönlichkeiten mit ausgeprägten und vielseitigen Interessen. Nach der Novemberrevolution von 1918 war er für ein paar Monate preußischer Finanzminister und zählte später zu den Mitbegründern des Bankhauses Bett, Simon & Co. Er saß im Aufsichtsrat des S. Fischer Verlags und des Ullstein Verlags, genoss hohes Ansehen als großzügiger Mäzen und leidenschaftlicher Kunstsammler.
    Seine Kunstsammlung konnte sich sehen lassen: Edvard Munchs "Der Schrei", Bilder von George Grosz, Oskar Kokoschka, Lyonel Feiniger, Otto Dix, Ernst Ludwig Kirchner und vielen anderen bedeutenden Malern und Bildhauern. Im brandenburgischen Seelow hatte Hugo Simon, der nicht nur eine Ausbildung bei der Bank, sondern auch in der Landwirtschaft absolviert hatte, aus einem bescheidenen Landgasthof ein beeindruckendes Mustergut gemacht.
    Gespräche von Exilschriftstellern
    Rafael Cardosos Urgroßvater Hugo Simon ist die zentrale Figur seiner breit angelegten Familiensaga, die zugleich eine Geschichte des Exils in Frankreich und Brasilien ist. Ein Teil der literarischen Stimmen, die die Nazis und das Vichy-Regime zum Schweigen bringen wollten, kommt hier zu Wort. Im Roman tritt Hugo Simon als Mann der Begegnung und des Gesprächs in Erscheinung. In Paris, auf der Flucht durch Südfrankreich und hernach in Brasilien trifft er sich mit vielen Exilschriftstellern: Harry Graf Kessler, Theodor Wolff, Lion Feuchtwanger, Stefan Zweig, Georges Bernanos und viele andere. Ihre Begegnungen in Cafés und Hotels sind Wegmarken des Exils, das sie vorzeitig altern ließ, mit existentieller Unsicherheit konfrontierte.
    Ihre Gespräche drehen sich um Pazifismus und Sozialismus, den Widerstand gegen das Nazi- oder das Vichy Regime, Fluchtwege und Ausweise, die gewaltsame Vertreibung der Juden aus Deutschland, den unwiederbringlichen Verlust ihrer Lebenswelt. Hugo Simon war Jude und konnte daher nach 1933 nicht mehr in Deutschland bleiben, was er zunächst nicht wahrhaben wollte.
    Flucht über Frankreich nach Brasilien
    Hugo Simon und seine Frau Gertrud flohen im März 1933 nach Paris. Da er wegen seiner guten Kontakte zur französischen Regierung volles Asylrecht genoss, konnte er sich wieder als Privatbankier betätigen, einen Teil seiner Kunstsammlung retten. Unterdessen hatte man in Deutschland seinen Besitz konfisziert, ihm 1937 die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt. In Paris engagierte er sich im Komitee für deutsche Flüchtlinge, versuchte im Bund Neues Deutschland deutsche Exilschriftsteller zusammenzubringen. Er unterstützte die Pariser Zeitung, das Sprachrohr der deutschen Exil – Gemeinde finanziell und steuerte Bilder aus seiner Kunstsammlung zu zwei Ausstellungen bei, die 1938 in Paris und London stattfanden und gegen "die entartete Kunst" der Nazis Stellung bezogen.
    Nach dem Einmarsch der Nazis in Paris, konnten die Simons nicht mehr in Paris bleiben. Sie wollten wie seinerzeit viele Exilanten von Südfrankreich aus in die USA emigrieren. Das war jedoch zu riskant und kompliziert, weshalb sie dem Vorschlag des Fry-Komitees zur Unterstützung von Flüchtlingen zu stimmten, nachts mit tschechischen Pässen nach Spanien zu fliehen.
    "Hugo wog seine Worte ab. Das Risiko schien gewaltig. Zu Fuß über die Grenze zu gehen, stellte keine Kleinigkeit dar. Trude und er waren nicht mehr die Jüngsten, und der Gesundheitszustand seiner Frau war äußerst labil. Zudem missfiel ihm der Gedanke, mit falschen Papieren zu reisen, unter angenommenem Namen. Trotz des schwindelerregenden Abstiegs der vergangenen Wochen und Monate empfand er es als unter seiner Würde. Er sah zu Gertrud hinüber, um ihre Reaktion abzuschätzen. Sie wirkte so zögerlich wie er.
    "Das ist eine schwierige Entscheidung, Monsieur Fry. Was Sie uns vorschlagen, widerspricht allem, für das wir uns Zeit unseres Lebens eingesetzt haben. Wir sind es nicht gewöhnt, uns nachts davon zu stehlen wie Verbrecher."
    Neues Leben in Brasilien
    Im spanischen Vigo versucht sich Gertrud Simon vor der Abreise mit der Cabo de Buena Esperanza Brasilien vorzustellen: "Der bloße Name des Ortes faszinierte sie und versetzte sie gleichzeitig in Angst und Schrecken. Brasilien. Merkwürdig, in ihren fünfundfünfzig Lebensjahren hatte sie nie einen Gedanken an das Land verschwendet. Thomas Mann hatte einmal erwähnt, dass seine Mutter dort geboren sei. Jetzt sollte sie selbst dorthin reisen. Na, immerhin würden sie echten Kaffee bekommen."
    In Rio war die Angst, mit ihren tschechischen Pässen auf zu fliegen, ihr ständiger Begleiter, zumal es dort Nazi-Spitzel zu Hauf gab, da die Regierung von Getúlio Vargas mit den Nazis kollaborierte.
    "Ihr angebliches Herkunftsland, die Tschechoslowakei, gab es nicht mehr. Das war jetzt das Protektorat Böhmen und Mähren, und die Nazibehörden dort würden sie zweifellos mit offenen Armen empfangen, der Fahrschein ins Konzentrationslager läge schon bereit."
    Trotz der fast schon paranoiden Angst vor Nazi-Spitzeln gingen Hugo Simon und Wolf Demeter mit ihren Familien nach Penedo, einer Kleinstadt im Hinterland von Rio. Im Auftrag des schweizer Pharmakonzerns Geigy sollten sie am Aufbau eines landwirtschaftlichen Großbetriebs mitwirken. Die dafür erforderlichen Anbauflächen hatte der schweizer Pharmakonzern einer Lebensgemeinschaft von Finnen abgekauft, die in Einklang mit der Natur zu leben versuchten, jedoch wenig Geschäftssinn hatten.
    Symbolische Rehabilitierung eines Künstlers
    Hugo Simon und sein Schwiegersohn Wolf Demeter, alias André Denis, waren im Exil zumeist getrennte Wege gegangen. In Südfrankreich war der Bildhauer mit Künstlern wie Max Ernst, Hans Bellmer, Lion Feuchtwanger und etlichen anderen in "Les Milles" , einem Lager für "feindliche Ausländer" interniert worden, aus dem er entkommen konnte. Nach aufreibenden Fußmärschen durch Südfrankreich war es ihm gelungen, sich via Spanien nach Brasilien einzuschiffen. Die Bildhauerei war in den Jahren der Flucht und existentiellen Bedrohung viel zu kurz gekommen. Doch dann begegnete Wolf Demeter 1944 in Campos de Jordao dem Maler und Bildhauer Laser Segall. Der aus Litauen emigrierte Jude hatte in Dresden studiert. 1937 zählte er in der Münchner Ausstellung "Entartete Kunst" zu den verfemten Künstlern.
    Laser Segall bat Wolf Demeter, ein paar Werke auszusuchen für eine Gruppenausstellung über verfemte Kunst, die 1944 in Rio stattfinden sollte. Das war die symbolische Rehabilitierung eines Künstlers, der den Glauben an sich und seine Kunst zu verlieren drohte. In dieser und ähnlichen Passagen bringt Rafael Cardoso seine Erzählkunst zur Entfaltung. Der ausgewiesene Kunsthistoriker ist ein Augenmensch, der die Bildsprache beherrscht und wie ein genialer Zeichner das Wesentliche von Menschen und Landschaften mit ein paar Federstrichen erfasst.
    Hugo Simon - in Brasilien ein zufriedener Außenseiter
    Noch einmal zurück zu Hugo Simon, der sich nach Minas Gerais zurückgezogen hat, um in Barbacena Seidenraupen zu züchten:
    "Im Verlauf dieser neun Monate in Barbacena war der Kontakt zu fast allen Menschen abgebrochen, die er kannte. Seine Kinder lebten weiß Gott wo in Südbrasilien. Europa war ein einziger Albtraum, über den er beim Aufwachen in den Zeitungen las. Unter dem Gewicht der Verzweiflung wurden ihm die Beine schwach. Seine Hand griff nach Doutor Josés Sakkoärmel. Plötzlich überkam ihn der Wunsch sich anzuvertrauen."
    Der französische Schriftsteller Georges Bernanos, der wie Hugo Simon die Kriegsjahre in Barbacena verbrachte, war einer der wenigen Vertrauten, mit dem ihn trotz heftiger Meinungsverschiedenheiten eine spröde Freundschaft verband. Georges Bernanos kehrte nach dem Ende des II. Weltkriegs nach Frankreich zurück. Hugo Simon blieb in Brasilien.
    "Er hatte die Idee von einem Brasilien, wie Zweig es sich vorgestellt hatte, nicht auf gegeben. Er empfand eine verdrehte Zugehörigkeit zu den Exilitalienern und –finnen und juden und sonstigen Landsleuten, die wie er hier gelandet waren und nach etwas suchten, das in ihren Herkunftsländern für immer verloren war. Er war zufrieden, ein Außenseiter zu sein – ein Gringo – missverstanden, manchmal sogar verlacht, aber das störte ihn wenig, solang man ihn ungestört in den lokalen Eintopf aufgehen ließ. Wie die zahlreichen importierten Pflanzen – Mangos, Bananen, Palmen, Jackfrüchte und Kokosnüsse -, die die Brasilianer gern als ihren ureigenen Reichtum betrachteten, sagte er sich, so würde auch seine seltsame Frucht eines Tages hier heimisch werden können."
    Packende Familiensaga mit viel Einfühlungsvermögen
    Rafael Cardoso hat mit "Das Vermächtnis der Seidenraupe" eine packende Familiensaga geschrieben, der man viele Leser wünscht, weil er sehr bildhaft und mit hohem Einfühlungsvermögen erzählt und dabei stets die großen Zusammenhänge vor Augen hat. Sein Onkel Charles, der Cousin seiner Großmutter, den er 1983 mit gerade Mal Neunzehn in Paris besuchte, hatte ihm vorgelebt, dass man seine Mitmenschen nicht in Freund-Feind-Kategorien wahrnehmen muss.
    Der deutsche Historiker Charles Bloch, der 1933 nach Palästina emigriert war und arabisch gelernt hatte, weil er in seinen Mitmenschen keine Feinde, sondern Gesprächspartner sah, pendelte mit seiner Frau Jacqueline seit Jahren zwischen Paris und Tel Aviv, wo er die erste Professur für moderne europäische Geschichte innegehabt hatte. Die beiden hatten Rafael Cardoso das Vermächtnis seines Urgroßvaters nahegebracht, das hochaktuell ist.
    "Durch sie bekam ich Zugang zu der großartigen Tradition – an der mein Urgroßvater Anteil hatte, Europa als ein gemeinsames kulturelles Projekt zu denken, statt nur als einen geographischen Ort, und ich lernte dabei auch, die Welt aus einer kosmopolitischen Perspektive zu betrachten. Heute, da sowohl die europäische Einheit wie auch ihr aufklärerischer Raum unter Beschuss stehen, erscheint mir diese Integration auf niedrigster Stufe, Mensch für Mensch, als keine geringe Errungenschaft."
    Rafael Cardoso: Das Vermächtnis der Seidenraupen
    S. Fischer Verlag, Berlin 2016, 25 Euro