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Buch der Woche
Bunte Blumen auf den grauen Schulbeton

Der Soziologe Oskar Negt hat sich in seinen Schriften und auch im Privaten immer wieder mit dem Thema Schule beschäftigt. In seinem neuen Buch "Philosophie des aufrechten Ganges. Streitschrift für eine neue Schule" zeigt Negt, dass er weder ein Traditionalist noch ein Schwärmer ist. Er hat einfach sehr gute Argumente.

Von Walter van Rossum | 14.09.2014
    Oskar Negt steht am Dienstag (21.07.2009) in einem weißen Polohemd in Hannover in der Bibliothek seiner Wohnung. Als junger Soziologe und Philosoph avancierte Negt zu einem Wortführer der 68er-Studentenbewegung, 30 Jahre später wurde der Professor und Gründer einer Reformschule in Hannover kulturpolitischer Berater vom damaligen Kanzler Gerhard Schröder (SPD).
    Sozialphilosoph Oskar Negt in Hannover in der Bibliothek seiner Wohnung. (picture alliance / dpa / Holger Hollemann)
    Im Jahre 1971 erhielt Oskar Negt den Ruf auf den Lehrstuhl für Soziologie an der Universität Hannover. Negt, damals 37 Jahre alt, hatte eine Familie mit zwei Töchtern. Das wurde zum Problem, denn die Kinder waren zuvor in einem antiautoritären Kinderladen in Frankfurt aufgewachsen. Jetzt kamen sie ins Schulalter und sie in einer normalen Schule anzumelden, kam für die Eltern nicht in Frage. Was macht man in einer solchen Situation? Oder besser: was machte man damals in den bewegten und bewegenden Zeiten Anfang der 70er Jahre? Man gründete kurzerhand eine Schule. Umgehend hatte Oskar Negt einen Haufen reforminteressierter Eltern, die vor ähnlichen Problemen standen, versammelt und auch eine Reihe von Pädagogen, die bereit waren in einer erst noch zu erfindenden Schule zu arbeiten. Man schmiedete Pläne, ersann Konzepte. Negt lag am Herzen, dass hier keine Privatschule linker Eliten entstand, sondern eine komplett staatlich finanzierte und anerkannte Schule.
    "So mussten unsere ausgefeilten Pläne, wie eine der antiautoritären Tradition verbundene Schule auszusehen hätte, auf verschiedenen Ebenen politisch überzeugend begründet werden. Das war für mich der schwierigste Teil dieser Entwicklung eines alternativen Schulprojekts - schwierig vor allem auch deshalb, weil es weitgehend von mir persönlich abhing, die Legitimation dieses Unternehmens überzeugend darzulegen und Wohlwollen ihm gegenüber zu wecken."
    Negt gelang es tatsächlich binnen kurzer Zeit, den jungen Oberbürgermeister von Hannover für seine Pläne zu gewinnen, ebenso zog er den Kultusminister von Niedersachsen Peter von Oertzen ins Boot wie noch einige andere einflussreiche Politiker. 1972 nahm die Schule ihren Betrieb auf - im ehemaligen Fuhramt der Stadt Hannover an der Glockseestraße. Und so heißt die Schule auch heute noch, selbst wenn sie einige Jahre später andere Räumlichkeiten bezog.
    Die Glocksee-Schule als Modell
    "Die Glocksee-Schule gehört zweifelsohne zu den Kuriositäten der deutschen Bildungslandschaft: Sie ist die einzige staatlich vollfinanzierte Alternativschule Deutschlands. Es gibt sie jetzt vierzig Jahre. Und ihr ist es gelungen, Schritt für Schritt einen pädagogischen Experimentierraum zu sichern, dem schließlich ein gesetzlich fixierter Rang zugesprochen wurde."
    Die Glocksee-Schule ist eine Gesamtschule mit zehn Klassen. Sie verzichtet auf den Takt der Schulglocke, und es gibt keine Sitzenbleiber. Noten werden erst in der letzten – der zehnten Klasse - verliehen. Etwa 210 Schüler werden hier unterrichtet. Jahr für Jahr gibt es etwa doppelt so viele Anmeldungen als freie Plätze verfügbar sind. Kein Wunder, die Glocksee-Schule ist auch nach konventionellen Maßstäben sehr erfolgreich: zwei Drittel der Absolventen machen später ihr Abitur.
    Oskar Negt hat eine Reihe bedeutender und einflussreicher Bücher geschrieben. Doch mit Sicherheit würde er seinen Beitrag zur Gründung der alternativen Schule in Hannover als eines seiner Meisterwerke betrachten. Die Schule ist nach wie vor seinem Geist verpflichtet - und er ihrem. Und um diesen Geist geht es auch in seinem jüngsten Buch "Philosophie des aufrechten Ganges. Streitschrift für eine neue Schule".
    Gegen die Optimierung des kindlichen Humankapitals
    "Es besteht ein merkwürdiges Missverhältnis zwischen der Energie und Erfindungslust, die sich auf naturwissenschaftliche Experimente konzentrieren, und der sonderbaren Scheu, auf dem Feld sozialer Beziehungen und der menschlichen Kooperation Experimente zu wagen. In der Anfangsgeschichte der Glocksee-Schule sind uns immer wieder von Eltern und Außenstehenden Fragen gestellt worden, die sich mit einer Art Tabubruch beschäftigten: Was experimentiert ihr mit unseren Kindern? Was heißt im Zusammenhang mit der Schule Versuch? Es sind zwar extreme und nicht häufige Äußerungen, aber es hat sie eben doch gegeben: die Vergleiche mit Menschenexperimenten im "Dritten Reich". Dass man auch sagen könnte, dass ja das offizielle Schulsystem zu den gewagtesten "Menschenexperimenten" gehört, durch die verbreiteten autoritären Erziehungsstile und die Zurichtung der Menschen, wurde nur selten in der Öffentlichkeit erwähnt. Aber die Schieflage in der Beziehung zwischen naturwissenschaftlich-technischen Experimenten und Gesellschaftsentwürfen, die ein menschlicheres Leben ausprobieren wollen, ist so alt wie das philosophische Nachdenken über Individuum und Gesellschaft. "
    Ein Islamlehrer mit Schülern der ersten Klasse beim islamischen Religionsunterricht.
    Ein Lehrer in einer Schule in Frankfurt am Main (dpa / picture alliance / Roland Holschneider)
    Wir leben in Zeiten enormer Umbrüche: vertraute Realitäten lösen sich gleichsam im Vorübergehen auf, verlässliche Perspektiven schmelzen wie Eis an der Sonne, unablässig verändert sich unsere Arbeitswelt, unsere Arbeitsformen. Wir hantieren heute massenhaft und selbstverständlich mit Techniken, die sich vor fünf oder zehn Jahren noch keiner vorstellen konnte. Wir halten uns mit der Improvisation komplexer Realitäten über Wasser - doch wer könnte sagen, er hätte noch einen Überblick, ja, begriffe sein eigenes Tun? Wir leben als eine Art Versuchsanordnung ohne Gebrauchsanweisung. Eine Situation - so könnte man meinen - die nach neuen Wegen in Bildung und Ausbildung geradezu schreit, um angemessenere Antworten auf die gerade ablaufenden Umbrüche zu finden. Doch das Gegenteil trifft zu. Die Schulen werden von Ausbildungstechnokraten verwaltet, die gerne von "Kindern als dem Humankapital unserer Zukunft" schwadronieren und schulische Leistungen nach betriebswirtschaftlichen Kriterien messen. Denn darum geht es in ihren Augen: das kindliche Humankapital für kommende Arbeitsprozesse zu optimieren. Solche Bildungspolitik, die aggressiv fit für die Arbeitswelt machen soll, strebt nach Codierung und Normierung von abprüfbarem Wissen - wie sich bei den laufenden sogenannten Bologna-Prozessen trefflich beobachten lässt. Doch Schule müsste nach eigenen Gesetzen ablaufen, nach eigenen Uhren ticken:
    "Das gilt zentral für jene gesellschaftlichen Bereiche, in denen es nicht in erster Linie darum geht, Waren zu produzieren, Geld und Güter umzuschlagen, freundlich Serviceleistungen anzubieten, sondern um Grundausstattungen der Persönlichkeitsbildung, um Erziehung, Lernen, Entwicklung von Unterscheidungsvermögen und kritischer Urteilskraft. Die betriebswirtschaftlichen Rationalisierer sind auch hier am Werk, und die Just-in-time-Ideologen sind entschlossen, Lagerbestände, die noch für jede Persönlichkeitsbildung zentrale Bedeutung haben, zu "entrümpeln" und die Menschen an die schnellen Wege der Kommunikationstechnologien anzuschließen, um Lern- und Anwendungszeiten des Wissens komplett zu ökonomisieren."
    Bildung ist mehr als bloßes Faktenwissen
    Und darin sind nicht einmal mehr Spurenelemente dessen erkennbar, was man früher Bildung nannte. Was immer Bildung im Einzelnen heißen mag, Bildung hat immer damit zu tun, dass Menschen sich in der Welt orientieren müssen, und dass solche Orientierungsarbeit gewiss nicht allein auf Faktenwissen beruht.
    "Sich heute über das Internet Informationen durch einfachen Knopfdruck zu beschaffen und so Faktenwissen zu lernen, wäre für Humboldt nicht so überraschend gewesen; schon er spricht von der Verfügbarkeit der Mittel. Wichtig ist für Humboldt jedoch, dass diese Mittel menschlichen Zwecken dienen, eine zusammenhängende Deutung des Weltverhältnisses der Menschen - und in diesem Sinne Bildung über das bloße Faktenwissen hinaus - ermöglichen. "
    Schüler malen an einer Hauptschule in Arnsberg (Sauerland).
    Schüler malen an einer Schule (dpa / picture alliance / Fabian Stratenschulte)
    Negt schließt an Humboldts Bildungsbegriff an. Das ist nicht neu und theoretisch nichts Überraschendes. Doch es klingt heute fast schon revolutionär. Denn jedes Gedenken an Bildung in diesem Sinne scheint fast vollständig aus den laufenden schulpolitischen Diskussionen, geschweige denn schulischen Realitäten, verschwunden. Allenfalls in humanistisch toupierten Sonntagsreden werden unverbindlich alte vage - und wohl eher halbgebildete - Bildungsideale beschworen. Die Realisten unserer Tage, die jeden Blick für Zusammenhang verloren haben und beim PISA-Test wohl kaum die Klippe des Textverstehens überstünden, diese Realisten würden Oskar Negt vermutlich einen Vorgestrigen nennen. Den nachdenklicheren Zeitgenossen mag er hingegen als Utopist erscheinen, der bunte Blumen auf den grauen Schulbeton sprüht. In Wahrheit ist Negt weder ein Traditionalist noch ein Schwärmer. Er hat einfach sehr gute Argumente. Wer Schule verwaltet, der muss mal darüber nachdenken, was ein Mensch denn so sei und was er braucht, und gleichzeitig muss er eine Idee davon haben, welche Menschen eine Gesellschaft, eine demokratische Gesellschaft braucht. Und wem das zu tiefsinnig erscheint, dem empfiehlt Negt sich mal die Analysen der sogenannten PISA-Studien genauer anzuschauen. Nicht nur springt einem da entgegen, dass Deutschland in puncto Chancengleichheit einem rückständigen Ständestaat gleicht, sondern die Länder, die am besten abschneiden - etwa die skandinavischen, pflegen Schulkonzepte, wie sie die Glocksee-Schule seit vierzig Jahren praktiziert.
    Doch es stimmt natürlich: Bildung in seinem Sinne ist ein sperriger Prozess, gewissermaßen eine stets unordentliche Angelegenheit, die nicht auf definierten Verfahren beruht und nicht auf definiertes Wissen hinausläuft.
    Bildung ist etwas anderes als Wissen
    "Im exemplarischen Lernen geht es um verdichtetes Zusammenhangwissen. Es sprengt die bloße Akkumulation von Informationen auf, indem es Kriterien der Gewichtung und der Anwendungszwecke formuliert. Nur durch exemplarisches Lernen, das sich auf die Entfaltung der Sachverhalte und die konkrete Subjekt-Objekt-Dialektik einlässt, also nicht bloß als allseitig anwendbare Methode benutzt wird, ist heute noch Bildung möglich. Diese Form der Bildung verliert freilich sofort ihre Substanz, wenn sie in irgendeiner Weise in einen elitären Elfenbeinturm gesperrt wird, der in wertfreier Distanz zu den Konflikten und Strukturverhältnissen der Gesellschaft steht."
    Bildung ist etwas anderes als Wissen. Bildung fragt, was dieses oder jene Wissen eigentlich weiß und fragt, was ich eigentlich wissen soll und muss.
    Der Soziologe Georg Simmel hat einmal geschrieben, die Zivilisation der Moderne sei durch einen Überhang der Mittel über die Zwecke bestimmt. Das heißt, wir verfügen über enorme Möglichkeiten Dinge herzustellen, den Mond zu besuchen oder in Bruchteilen von Sekunden Milliarden Dollar um den Globus zu schicken. Nur, warum wir das eigentlich wollen, darauf haben wir allenfalls triviale Antworten. Zwecke setzen, Sinn geben ist eigentlich das menschliche Kerngeschäft. Doch genau damit wollen Schulen nichts mehr zu tun haben. Bildung hat immer etwas mit Individuen zu tun, die sich in der Welt orientieren müssen, doch der Soziologe Negt erinnert daran, dass auch eine Gesellschaft sich orientieren muss - und geht damit weit über Humboldts Bildungs-Begriff hinaus. Auch eine Gesellschaft muss Bildungsarbeit leisten, Sinngebung: Wie wollen wir eigentlich leben? Eine Gesellschaft, die sich das nicht mehr fragt, die sich nur als Betrieb im Kampf um höhere Profitraten betrachtet, ist nicht nur schauerlich ungebildet, sie ist auch nicht mehr demokratisch.
    Kinder von Migranten in berufsbildender Schule, Frankfurt am Main 2009
    Kinder von Migranten in berufsbildender Schule (picture alliance / dpa / Frank Rumpenhorst)
    "Wer jedoch eine Schule oder eine Universität nach Regeln der Betriebswirtschaft gestalten will, (…) hat einen bestimmten Menschentypus im Auge, den David Riesman treffend als außengeleitet kennzeichnete: den flexiblen, allseitig verfügbaren Menschen, anpassungsfähig, als Trabant um die Sonne des Kapitals kreisend. Erinnerungs- und Utopiefähigkeit wären für ihn ebenso überflüssiger Ballast wie innere Reserven und Menschen, die eigensinnige Wege beschreiten. Ein Staat, der sich zum Handlanger betriebswirtschaftlicher Interessen macht und Institutionen fördert, die den Menschen auf Außensteuerung programmieren, riskiert seine demokratische Legitimation. Gerade uns Deutschen obliegt es, Misstrauen zu entwickeln gegenüber Lern- und Erziehungszielen, die den allseitig verfügbaren Menschen zum Resultat haben, unter welchen Rationalisierungsvorwänden sie auch auftreten mögen."
    Ein Bastler komplexen Denkens
    Oskar Negt wird am 1. August 80 Jahre alt. Wer immer noch nichts von diesem aufregend eigensinnigen Kopf gelesen hat, dem sei diese Streitschrift für eine neue Schule "Philosophie des aufrechten Ganges" dringend empfohlen. Wer kluge erfahrungsflankierte Gedanken gegen die Misere der Schule und für eine neue Schule sucht, dürfte ganz und gar auf seine Kosten kommen. In diesem Buch finden sich auch alle Zutaten, die Negts Ruf als Denker von Rang begründen. Man entdeckt den praktischen Intellektuellen, der so organisationsfähig ist, eine alternativpädagogische Schule zu begründen, die noch vierzig Jahre später immer noch glänzend funktioniert. Man entdeckt den moralischen Intellektuellen, der die Arena der Öffentlichkeit sucht, um für eine bessere Gesellschaft zu kämpfen, eine Gesellschaft, die sich am "aufrechten Gang" orientiert. Und man findet hier den eigentümlichen Theoretiker Oskar Negt, dem Bastler komplexen Denkens. Denn Theorien werden seiner festen Überzeugung nach nicht im Himmel gebaut, und sie verschaffen deshalb auch keinen göttlichen Überblick, noch dienen sie als kategoriales Ordnungsamt, das den Tumult des Realen verwaltet. Theorien sind keine Erkenntnismaschinen, sondern gemacht und in ständigem Werden, sie sind Teil jener Realität, die sie zu beobachten und zu verarbeiten helfen. Negt helfen Theorien eher dabei, die Vieldeutigkeit und die Vielfalt des Realen zu entdecken als es kategorial zu vereinheitlichen. Deshalb lesen sich seine Bücher auch nicht wie andere gelehrte Abhandlungen. Vielmehr lässt er den Leser teilhaben an der Theoriearbeit, bringt sich gewissermaßen als sinnliche Person ins Spiel, die ihre Wahrnehmung laufend am konkreten Beispiel überprüft. Insofern sind seine Texte zwar durchaus gelehrt, aber er sucht sein Publikum vor allem jenseits enger akademischer Kreise. Ihn interessiert wesentlich ein Denken, das zur Welt kommt.
    Wie sich seiner Kritik der spätkapitalistischen Zu- und Abrichtung der Schule leicht ablesen lässt, denkt Negt durchaus im Rahmen gewisser Marxscher Begriffe. Doch er lässt keinen Zweifel, dass es auch unter diesen Bedingungen kapitalistischer Rationalisierungen eine Schule geben könnte, die diesen Bedingungen widerspricht. Mit anderen Worten: Negt widerspricht jedem marxistischem Reduktionismus, der die Welt und den Menschen allein als Produkt ökonomischer Verhältnisse begreift. Das gilt natürlich auch für jede andere Theorie, die Realität bloß als Fall einer Regel behandelt.
    In Frankfurt Soziologie und Philosophie studiert
    Oskar Negt wurde 1934 in der Nähe von Königsberg geboren - was noch heute in seinem munter rollenden "r" nachhallt. Er entstammt einer Familie von Kleinbauern und Arbeitern. 1945 floh er mit zwei seiner Schwestern nach Dänemark, wo der Elfjährige fortan zweieinhalb Jahre in einem Flüchtlingslager lebte - ohne seine Eltern. 1948 konnte er nach Deutschland ziehen. Nach dem Studium studierte er in Frankfurt am Main bei Adorno und Horkheimer Soziologie und Philosophie. 1962 promovierte er bei Adorno mit einer Arbeit über die "Konstituierung der Soziologie als Ordnungswissenschaft".
    Diese Dissertation hat Negt später überarbeitet und in einem Publikumsverlag veröffentlicht - und bald kursierten auch schon die Raubdrucke. Der wissenschaftskritische Text spielte eine gewisse Rolle bei der sich formierenden Studentenbewegung - in der der Autor früh und prominent engagiert war. Weithin bekannt wurde das "Sozialistische Büro" in Offenbach als Kaderschmiede der antiautoritären Linken. Wer jene Promotion wieder lesen will, bekommt jetzt Gelegenheit. Der Steidl-Verlag, der seit vielen Jahren Negts Schriften verlegt, wird zum 80. Geburtstag eine Werkausgabe in 19 Bänden herausgeben. Ungefähr ein halbes Dutzend der jetzt nachgedruckten Titel dürfte sich allerdings bereits in den Bibliotheken vieler halbwegs kritischer Sozialwissenschaftler finden.
    "Öffentlichkeit und Erfahrung" beschäftigte Generation von Studenten
    "Dieses Spielerische der Philosophiearbeit - gerade die kritische nimmt daran teil - ist die Bedingung für die Verflüssigung, das plötzliche Zerbrechen oder Aufweichen der autoritären Anordnung der Dinge, insbesondere der mit hoher Fiktion zusammengebauten Realität. Die Arbeitsweise der Sinne antwortet darauf. Es gibt einen materialistischen Instinkt, dieses übermächtige Realitätsgebilde zu anarchisieren, das Übermächtige in Witz zu zerlegen. Wenn Brecht Dialektik als 'Witz der Sache' definiert, dann ist dieser Witz die Entdeckung der Disproportion in der Sache selbst. Es ist eine elementare Wahrnehmungsweise: Komik, freie Assoziation, Erinnern, Antizipieren. Der Gegensatz heißt Schreckensstarre, Fixierung, Gefühlsballung, Dummsein."
    So heißt es in "Geschichte und Eigensinn" - einem von insgesamt drei Büchern, die Negt zusammen mit dem Schriftsteller und Filmemacher Alexander Kluge geschrieben hat. Als erstes gemeinsames Werk erschien 1972 "Öffentlichkeit und Erfahrung" - und beschäftigte eine ganze Generation von Studenten, nicht zuletzt wegen des kreativen, spielerischen Umgangs mit Theorie. "Geschichte und Eigensinn" erschien 1981 als die 1.300 Seiten schwere Fortsetzung fröhlicher Wissenschaft.
    "Geschichte geht in ihren Ökonomien nicht auf, im Realitätsprinzip ebenfalls nicht."
    Beschreiben die Autoren ihre Ausgangslage und machten sich auf, das Labyrinth des historischen Eigensinns zu erkunden. Eigensinn war und bleibt ein Lebensmotiv von Oskar Negt. Eigensinn war und bleibt stets sein Thema. Es genügt an einige Titel zu erinnern, die demnächst in der Werkausgabe wieder erscheinen: "Nur noch Utopien sind realistisch" oder "Kältestrom oder Politik als Protest "oder "Keine Demokratie ohne Sozialismus" oder "Arbeit und menschliche Würde". Manche dieser Bücher mögen bereits vor 30 oder 40 Jahren erschienen sein. Irgendwie liegen sie aber auch noch vor uns.
    Oskar Negt: "Philosophie des aufrechten Ganges. Streitschrift für eine neue Schule", Steidl Verlag, Göttingen 2014, 128 Seiten, 18 Euro
    Oskar Negt: "Die Werkausgabe", 19 Bände, Steidl Verlag, Göttingen 2014, 380 Euro