Freitag, 19. April 2024

Archiv

Buch der Woche: Der Ort
Verlangen nach Identität in der Pubertät

Im vierten Zyklusroman von Andreas Maier "Der Ort" konfrontiert der Erzähler sich mit einer ihm bisher unbekannten Phase seiner Entwicklung. 1983 wird er 16 Jahre alt und es beginnt die quälende Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich. Dazu gehört die Zeit der Pubertät, der hilflosen Orientierungssuche und der ersten Liebe.

Von Martin Grzimek | 17.05.2015
    Zwei Jugendliche laufen Hand in Hand durch eine Unterführung
    "Der Ort" behandelt die Zeit der Pubertät des Icherzählers Andreas Maier (imago/Westend61)
    2010 hat der heute 47-jährige, in Frankfurt am Main lebende Schriftsteller Andreas Maier einen auf elf Bände angelegten Romanzyklus begonnen, von dem nun der vierte Band mit dem Titel "Der Ort" vorliegt. Auch in dem neuen Roman setzt sich der Erzähler, im weitesten Sinne das alter ego des Autors, in einem Wechsel aus Reflexionen und Beschreibungen mit seiner Vergangenheit auseinander. Der ganze Zyklus soll einmal "Ortsumgehung" heißen, im Mittelpunkt stehen die hessische Region der Wetterau, insbesondere die Städte Bad Nauheim und Friedberg mit ihrem Umland, den Wohnvierteln und Einkaufsstraßen.
    "(...) die Kaiserstraße (war) jeden Tag ein Sammelbild sämtlicher Sehnsüchte und sämtlicher Institutionalisierungsgrade dieser Sehnsüchte, mit denen ich von Anfang an aufgewachsen war, und ich lief (...) mit meinen Freunden (,) ebenfalls über die Kaiserstraße, und wir betrachteten dieses Bild, und eigentlich begriffen wir es bereits, konnten es aber selbst noch nicht in Worte fassen." (Straße 117)
    Ob Andreas Maier wie im ersten Roman "Das Zimmer" die verschrobene Welt seines Onkels J. in den späten 1960er-Jahren darstellte, oder danach in "Das Haus" und "Die Straße" die Zeit der Kindheit und frühen Jugend in den 1970ern: bislang hat sich der Blick des Erzählers noch mit der Wahrnehmung eines Heranwachsenden identifizieren können, der sich selbst von dem, was er registriert und erlebt, getrennt sieht. So wird schon früh eine ausgeprägte Eigenwilligkeit des "Problemandreas", wie der Erzähler genannt wird, deutlich. Bestimmend bleiben eine Reihe eindrücklicher Szenarien, in denen man typische Erscheinungsformen der damaligen gesellschaftlichen Entwicklung wiedererkennt: der zunehmende Wohlstand mittelständischer, Mercedes fahrender Familien, die Zeit der "Bravo"-Heftchen mit sexuellen Aufklärungsangeboten und das bisweilen derbe Lokalkolorit hessischer Kleinstädte. Die Klammer der Kleinbürgerlichkeit erleidet der Erzähler in jenen Jahren ebenso, wie er sie mit Interesse beobachtet. Einem Chronisten ähnlich beschreibt er die Geschehnisse in ihm äußerlich bleibenden Bilderfolgen und kann dadurch entscheiden, was er für sich annimmt und was nicht. Nun aber, in dem Roman "Der Ort", konfrontiert sich der Erzähler mit einer ihm bisher unbekannten Phase seiner Entwicklung. 1983 wird er 16 Jahre alt und es beginnt die quälende Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich, quälend deshalb, weil sie sich in die Welt der Gefühle eingenistet hat, die den Blick auf die Realität verschleiern, verzerren und überschatten. Es ist die Zeit der Pubertät, der hilflosen Orientierungssuche und – der ersten Liebe.
    "Ich war zu dieser Zeit in Katja Melchior verliebt. Sie war gertenschlank, hatte lange dunkelblonde Haare und erinnerte in ihren Bewegungen und mit ihrer Hautfarbe an etwas, das aus einer Wüste stammen mochte. Ständig umwehte sie etwas Mysteriöses, nicht zuletzt, weil sie sich damals mit ihren Freundinnen, die für mich ebenfalls geheimnisumwittert und wie eine fremde, höhere Welt waren, zu einem engen Kreis zusammengeschlossen hatte."
    Der Wunsch, in den geschlossenen Kreis aufgenommen zu werden, in das Geheimnis einer "höheren Welt" bedeutet nichts anderes als das Verlangen nach einer Identität. Pubertät ist der Zustand zwischen dem nicht mehr Kindseinkönnen und noch nicht Erwachsenwerdenwollen, ein Schweben im Ungewissen, voll von Ängsten, mitten auf dieser unsicheren Schwelle verlorenzugehen. Die Familie gibt keinen Halt mehr, Eltern und Autoritäten werden fremd, in der Schule lassen sich die Lehrer vom Übermut der Jugend gängeln. Daher findet man fern der Stadt in langen einsamen Spaziergängen eine Art von Freundschaft mit der Natur. Sie wird zu einem sakralen Ort, mysteriös und geheimnisvoll wie das zum Gleichgesinnten werdende andere Geschlecht.
    "Es ist sogar so, dass die Buchhändlertochter mich überhaupt zum ersten Mal nach Ockstadt über das Feld zur Hollarkapelle geführt hatte in meinem Leben. Schon als ich, bevor wir einen halben Frühling und noch einen halben Sommer gemeinsam verbrachten, in ihre beste Freundin verliebt war, erzählten sie von der Hollarkapelle und wie es sei, dort hinzulaufen, am besten nachts und vor allem bei Vollmond. Das hätten sie schon den ganzen letzten Sommer über gemacht. Eine Welteroberung."
    Weinparasit im Elternhaus
    Doch diese Idylle ist bedroht. Von Außen durch die Pläne, mitten durch die Felder der Kirschblütenzeit die Trasse einer Umgehungsstraße zu legen, von Innen durch die rastlose Suche nach einem Halt, den Elternhaus und Schule, das bloße Herumsitzen in Kneipen und Jugendzentren nicht mehr geben können. An dieser Stelle findet der Erzähler einen weiteren Zufluchtsort – die Literatur. Die beiden Buchhandlungen in der Kaiserstraße in Friedberg versorgen ihn reichlich mit Material, das er nach Hause in sein Zimmer schleppt und zu lesen beginnt. Doch versinkt er nicht in den Romanen etwa von Thomas Mann, er verliert sich nicht in den Charakteren, sondern beginnt, sie sich einzuverleiben.
    "Weil ich damals in einer Art von unkontrollierbarer Nachäfferei Literatur in meinem Leben nachstellte, so wie andere aus James-Bond-Filmen herauskommen und sich einige Minuten wie James Bond bewegen, kopierte ich die Peeperkorngelage ganz unmittelbar an meinem Schreibtisch (...). Ich tat das alles in großer Einsamkeit und als Weinparasit im eigenen Elternhaus, aber war doch froh, weil diese Gesellschaft im Buch für mich immerhin eine Gesellschaft war, meine einzige in diesen Wochen, und weil wir auf diese Weise sozusagen gemeinsam feierten. Dass das alles eine Krankheit war, war mir damals schon ziemlich klar."
    Immer tiefer gerät Andreas zu jener Zeit der Desorientierung ins Abseits, geht nachts aus dem Haus, entfremdet sich den Eltern, sucht Ablenkung in der Pop-Musik, im betäubenden Rausch des Alkohols oder im Zusammensein mit Gleichaltrigen. Gleichwohl vermischt er sich nicht mit ihnen, geht zwar zu ihren Partys und akzeptiert ihr halbstarkes Gehabe, ihre Andersartigkeit, aber bleibt doch ein Einzelgänger. Zugleich gerät zwischen die Darstellung des zurückliegenden Geschehens ein Perspektivwechsel auf die Zeit der Entstehung des Manuskripts im Jahr 2009, als der Autor, bekannt geworden durch den einige Jahre zuvor veröffentlichten Roman "Wäldchestag", eines Abends einer plötzlichen Idee folgend den gesamten Romanzyklus entwirft. Die Entwicklung des Erzähler-Ichs wird gleichsam von oben betrachtet, wenn auch im stetigen Nachvollzug seiner Befindlichkeit während der Phasen seiner Entwicklung. Die Darstellung und das Dargestellte überschneiden und vermischen sich, und der Erzähler entdeckt in jener zurückliegenden Zeit seiner Pubertät einen dritten Ort, zu dem er Zuflucht nehmen kann: zu sich selbst im Dasein seines eigenen Ichs als Spiegelung.
    "Kaum verließ ich das Haus, begann die Selbstbespiegelung. Ich gab ein Bild ab vor mir selbst, sah es genau und merkte, Dass es ganz und gar notwendig war, spürte aber, Dass es zugleich auch gewollt und inszeniert und eine eigene Entscheidung war. (...) Ich weiß nicht, ob ich das romantische Doppelgängermotiv damals bereits kannte, aber es funktionierte genau wie in dem berühmten Schubertlied nach Heine: Ich stand auf der Straße und sah mich selbst, nur Dass ich nicht nur jedes Mal darüber erschrak, sondern es in gewisser Weise sogar genoss ..."
    In diesem gefesselten Zustand einer widersprüchlichen Übereinkunft von Fremdheit und Vertrautheit, in der Einübung von Nachahmungen und einer Art des ständigen Posierens des eigenen Ich, besucht der Erzähler in den "Monaten der Feste", wie er sagt, eine Party im Keller eines Freundes. Dort trifft er auf Katja Melchior und verliebt sich in sie. Es sind nur etwas mehr als ein Dutzend Seiten, die der Autor auf diese Begegnung verwendet. Doch in der Choreografie erster Blicke und erster Berührungen inmitten einer Gruppe junger Leute, umgeben von alltäglichen Gesprächen und Musik, dehnt sie die kurze Abfolge von Augenblicken zu einer endlos wirkenden Kette von Momenten, in denen man die Annäherung des Erzählers an das Mädchen bis ins kleinste Detail nachvollziehen kann. Der Sprachlosigkeit erzeugende Rausch des ersten Sich-verliebens ist in der Literatur selten in so komprimierter Weise dargestellt worden, wie in diesem Roman.
    "Und während ich so schaue, dreht sich Katja Melchior langsam in mein Gesichtsfeld hinein, bis ihr Gesicht so nahe vor mir ist, Dass es den Partyraum um mich herum versperrt. Sie kommt mir immer näher, hat die Augen geschlossen, und in dem Moment, als ihre Stirn meine berührt, habe ich meine Augen ebenfalls bereits geschlossen. Nun ist alles schwarz, und ich spüre ihren Atem, die Kühle ihrer Stirn und das Leben in dieser Person."
    Wichtig an dieser fast ein wenig zu sentimental klingenden Sätzen ist der Umstand, dass der Erzähler im Moment der Nähe die Augen schließt und sich allein dem überlässt, was er spürt. Für einige Minuten hält dieser Zustand an, sie beginnen in leichten Bewegungen miteinander zu tanzen, immer noch bei geschlossenen Augen, und der Erzähler gesteht sich im Nachhinein, dass ihm zur Darstellung dieses Gefühls die Worte fehlen, was zwangsläufig dazu führt, dass er sich von Außen hergeholter Beschreibungsmodelle bedient. Er vergleicht sich mit einem Taubblinden, denkt an "etwas Autark-Autistisches", sieht sich reduziert auf ein nur noch von inneren Wahrnehmungen bestimmtes Dasein, weiß nicht, ob er sich und Katja Melchior als "ein Wesen", wie er sagt, empfinden soll und vermeidet jegliche Festlegung oder Eindeutigkeit seiner Worte.
    "Ich war so überwältigt wie nie zuvor in meinem Leben, aber zugleich war ich auch herabgedimmt und in einem quasi rudimentären Zustand, der mit eigentlichem Glück kaum etwas zu tun hat, eher mit den Auswirkungen einer Palliativmedizin."
    Merkwürdig sperrig wirkt der klinische Ausdruck "Palliativmedizin", bezogen nicht nur auf diese Szene, sondern auch auf den ganzen Roman. Die insgesamt knapp 130 Textseiten machen ihn zwar zu dem, was man gemeinhin ein schmales, also wie schnell hingeschrieben wirkendes Buch nennen könnte, seine im Duktus der gesprochenen Sprache assoziativen, sprunghaften und scheinbar leichtfertig gebildeten Sätze evozieren den Eindruck des Flüchtigen, Situationsbedingten. Doch bei genauem Hinsehen merkt man die Genauigkeit und bewusste Kontrolle, mit der der Autor seine Themen und Motive umkreist.
    Wenn also das augenblickshafte Überwältigtsein des Erzählers etwas mit "Auswirkungen einer Palliativmedizin" zu tun haben soll, dann ist damit ein Zustand gemeint, in dem sich das Individuum fremden Kräften überlassen sieht und sich das Ich im Hingang auf den Prozess der Auflösung befindet. Aber noch kurz zuvor, in der Zeit vor dem überraschenden Einssein mit Katja, hatte der Erzähler sich verdoppelt, sein Ich allein nur in sich und allem gespiegelt gesehen, was er sich im Rausch des Weines und durch die Lektüre romanhafter Literatur geschaffen hat, ein gottähnlicher Zustand also, weit entfernt von dem, sich in einem anderen Subjekt zu verlieren. Und weil ein solcher Selbstverlust dem Erzähler in seiner Grundbefindlichkeit widerstreben muss, folgt im Roman nun auch, kaum ist das Paar in der Partyszene wieder räumlich voneinander getrennt, sofort die Differenzierung. Mit wieder geöffneten Augen tastet der Erzähler im Dämmerlicht des Kellerraums gleichsam das Gesicht ab und zerlegt es in Einzelheiten.
    Verliebtsein: Vorstufe eines Schocks
    "Da war zum Beispiel plötzlich dieses winzige Muttermal, ein kleiner Leberfleck etwa zweieinhalb Zentimeter vom linken Mundwinkel entfernt, eigentlich kaum merkbar. Ich war zwar schon vor ein paar Tagen auf dieses Mal aufmerksam geworden, aber es hatte mich nicht weiter interessiert. Nun, nach unserer Umarmung und nachdem ich Katjas Stirn und ihren Atem gespürt hatte, betrachtete ich diesen winzigen Fleck völlig anders. (...) Seltsamerweise empfand ich dabei eine Art von Schmerz. Dieser Schmerz war für mich auch völlig neu. Er hatte etwas Dumpfes, Pochendes, wie beim Beginn einer Panik oder wie die Vorstufe eines Schocks."
    Diese "Vorstufe eines Schocks" breitet sich in den Tagen nach der Wahrnehmung des Verliebtseins wellenartig im Innern des Erzählers aus. Mit einem Mal fühlt er sich aus der Bahn geworfen auf seiner Suche nach sich selbst. Zuerst wird ihm die alltägliche Umgebung fremd, Gegenstände verlieren ihren Zweckcharakter und verselbstständigen sich, die Dinge etwa auf seinem Schreibtisch reflektieren ihre Eigenständigkeit. Zugleich beginnt der Erzähler sein Verhalten als das eines ihm Fremden zu betrachten, und in seinen Handlungen, wenn er sich zum Beispiel scheinbar grundlos einem anfahrenden Auto in den Weg stellt, entdeckt er "eine gewisse Abgründigkeit". Wie jemand, dem vom Alkohol schlecht geworden ist, hockt er auf den Treppenstufen eines Platzes, apathisch und benommen. Das Selbstverständlichste verliert seinen Sinn, sogar das tägliche Essen scheint unnötig zu sein, Zustände der Askese und Ekstase lösen sich einander ab.
    "Ich war dabei, ein Bild von mir zu entwerfen, das erste Bild meiner Wahl. Das heißt, auch das Frösteln, der Hunger, die Magenkrämpfe und die Sehnsucht, alles vornehmlich Katjas Person abgewonnene Motive, hatten darin ihren Grund. All das waren die neuen, noch wortlosen Mittel der Autarkie gegenüber meinem früheren, ersten Sein."
    Andreas Maier benutzt in seinem Roman gern und oft die Worte Sein, Dasein und Welt, um in ihrem philosophischen Echo die Weitläufigkeit seiner partiellen Erfahrungen mitklingen zu lassen. Das Wort Liebe aber in diesem dichten und einnehmenden Text, der ja dem Erlebnis des ersten Verliebtseins nachgeht, taucht nur ein einziges Mal auf in einer Passage, in der der Erzähler nicht etwa seine eigenen Gedanken, sondern den Philosophen Lukrez zitiert.
    "(...) so wie bei Lukrez beschrieben wird, wie der Liebende sich am Objekt seines Liebens verzweifelt reibt, ohne sich dadurch auch nur eine Krume des Wesens dieses Objekts einverleiben zu können. Höchstens seine eigenen Atome kann er, infolge dieses Reibens, dem Objekt seiner Liebe entgegenschleudern, so wie vor wenigen Wochen, auf dem Fest Alex Binders, sich meinen Augen die Gesichtselemente und –details Katjas plötzlich explosiv entgegengeschleudert hatten."
    Das Bemerkenswerte an dieser Passage sind nicht die materialistisch deutbaren Aussagen des römischen Dichters und Philosophen über die Liebe als den vergeblichen Versuche der Besitzergreifung einer anderen Person, die Marcel Proust in seinem Lebenswerk "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" in ausschweifenden Episoden und einer Fülle von sozial-historischen Bildern dargestellt hat. Bemerkenswert ist vielmehr, wie der Erzähler in Andreas Maiers Friedberger Erinnerung in der Auslegung seiner Begegnung mit Katja unscheinbar die Rollen vertauscht: Nicht er ist es, wie man anfangs den Eindruck haben muss, der sich das fremde Wesen des Mädchens mit Blicken ertastet, sondern er erleidet es quasi wie eine in ihn eindringende Explosion. In solcher Rätselhaftigkeit des Ungefähren lässt sich viel deuten, und das Ungewisse dieser ersten Begegnung mit einem anderen Menschen im eigenen Selbst bleibt bis zum Ende des Romans bestehen. Dieser Zustand des Schwebens bestimmt nicht nur die Form der Prosa in ihrer Melange aus fragmentarischen Erzählansätzen, protokollarisch geführten Aufzeichnungen und nachträglich in die Erinnerung hineingedachten Bewertungen, er korrespondiert auch dem in der Pubertät zutage tretenden, permanenten Schwanken der Gefühle zwischen einem am Abgrund des eigenen Ich sich zeigenden Gefühls des Glücklichseins und einer bisher unbekannten Freiheit. In seinen 2006 abgehaltenen Frankfurter Poetikvorlesungen spricht Maier über seine Zeit als Referendar in der elften Klasse eines Gymnasiums. Als er den Schülern bekannt gibt, dass er das Referendariat aufgeben und die Schule verlassen werde, antwortet er auf die Frage nach dem Warum, die Schüler seien in ihrer augenblicklichen Entwicklungsphase für ihn zu einem Vorbild geworden ...
    " (...) und ich möchte so bleiben, wie ihr seid, ich möchte nicht wie diese Menschen im Lehrerzimmer sein. Ich weiß, dass jeder von euch in ganz wenigen Jahren genauso sein wird wie die da, aber ich, Entschuldigung, rette jetzt meinen Arsch, und wisst ihr, wer mich auf diesen Gedanken gebracht hat? Ihr."
    Auf "die da", auf die Art von "Menschen im Lehrerzimmer" trifft der Erzähler gegen Ende des Romans in einer längeren Passage, die auch formal aus dem Gesamt des Romans herausfällt. Auf einem Friedberger Volksfest soll in einem riesigen Bierzelt ein CDUler eine Rede halten. Der Erzähler schließt sich zusammen mit Katja einer Gruppe von Freunden an, die gegen diese Veranstaltung protestieren will. Ausführlich wird nun die aufgeheizte Stimmung im Festzelt und eine amüsante Aktion beschrieben, bei der Salatköpfe gegen die Redner geworfen werden sollen. Zum ersten Mal geht es in dem Roman um die reale Zeit Mitte der 1980er Jahre, um die Selbstgefälligkeit einer konservativ-reaktionären Partei- und Machtpolitik. Der Erzähler erlebt die Aktionen wie im Rausch, sein Ich ist reflektionslos in der Gruppe gebunden, er ist ein Teil von Vielen. Doch kaum ist der Spuk vorüber, tritt auch wieder die Vereinzelung ein, das Zurückfallen auf sich selbst.
    "Natürlich ist da zugleich auch wieder jenes Doppelgängerphänomen, und ich spiele atemlos und irgendwie auch begeistert die Dichotomie durch, Dass alles wieder einmal zugleich wahr und möglicherweise völlig aufgesetzt und inszeniert ist und Dass beides in seiner Zweigeteiltheit wie immer eine unauflösbare Einheit bildet."
    Hier endet der in seiner Intensität herausragende Roman "Der Ort" von Andreas Maier, die beste Voraussetzung für eine vielversprechende Fortsetzung.
    Andreas Maier: "Der Ort"
    Suhrkamp Verlag Frankfurt. 154 Seiten, 17,95 Euro.