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Buch der Woche
Die geheime Lyrik der Emily Dickinson

Emily Dickinson ist die wohl einflussreichste amerikanische Lyrikerin. Sie wird heute weltweit gelesen und gefeiert. In ihrer Epoche, dem 19. Jahrhundert, wusste kaum jemand von ihrer Kunst. Nur zehn Gedichte wurden zu ihren Lebzeiten veröffentlicht. Jetzt erscheint eine Ausgabe mit dem Gesamtwerk: 1.789 Gedichte.

    Emily Dickinson
    Emily Dickinson verbarg ihre Kunst vor der Öffentlichkeit. (Imago/United Archives International)
    Die Aufmerksamkeit war groß, die Resonanz begeistert, als der Carl-Hanser-Verlag vor sieben Jahren, 2008, einen ersten Band mit einer Auswahl von Emily Dickinsons Lyrik veröffentlichte, auch damals betreut und übertragen von Gunhild Kübler, eine Edition von knapp über 600 Gedichten, die alle bisherigen Übersetzungen in den Schatten stellte. Der Paul-Scheerbart-Preis der Rowohlt-Stiftung war damals der Lohn und wohl auch Ansporn für Gunhild Kübler und Verlag, den ganz großen Wurf zu planen und auszuführen - sämtliche 1.789 überlieferten Gedichte von Emily Dickinson in Original und Übersetzung, auf insgesamt 1.400 Seiten, mit Nachwort, Kommentar und Register.
    Von diesem fabelhaften, fundierten Anhang wird noch gesondert zu reden sein. Zunächst und vorab sei das Knie gebeugt vor einer ebenso übersetzungstechnisch wie literaturkritisch fulminanten Leistung, diese Ausgabe bildet Maßstab und Fundament für alle zukünftige Beschäftigung mit Emily Dickinson in Deutschland. Was sind das für Gedichte, und wer war diese Dichterin? Wie hängt ihre gewaltige poetische Kraft zusammen mit dem Schicksal eines Lebens, das auf die Nachwelt eigentümlich und nur bedrückend wirkt? Auch diese Geschichte bekommen wir erzählt und mit ihr die Entfaltung einer selbstbewussten Dichtung, die so modern und gegenwärtig klingt, als sei sie in jüngster Zeit für uns geschrieben:
    Gedicht 1263
    Sag Wahrheit ganz, doch sag sie schräg -
    Erfolg liegt im Umkreisen
    Zu strahlend tagt der Wahrheit Schock
    Unserem Begreifen
    Wie Blitz durch freundliche Erklärung
    Gelindert wird dem Kind
    Muss Wahrheit sachte blenden
    Sonst würde jeder blind
    Poetische Selbstbekenntnisse
    Als Emily Dickinson 1872 dieses poetische Selbstbekenntnis schrieb, hatte sie sich schon von aller Welt zurückgezogen, war die "White Lady", wie die Bürger von Amherst die gespenstische Erscheinung nannten, die in stets schneeweißem Gewand nachts durch ihren Garten wandelte. Emily Dickinson war damals 42 Jahre alt, lebte in ihrem Elternhaus, verließ kaum ihr Zimmer. Und dort stieß man nach ihrem Tod 1886 in einer schweren Truhe auf nahezu vierzig kleine Notizbücher, mit über 1700 Gedichten - ein weltliterarischer Fund, über den sich die jüngere Schwester Lavinia, die den Schatz entdeckte, natürlich nicht im Klaren war.

    Denn dass Emily schrieb, wusste jeder in der Familie, nur schwieg man betreten, denn was sollte es schon sein? Emily Dickinsons Biographen haben einen traurigen Strauß an Begründungen geflochten, warum diese Frau sich und ihr Werk so sehr versteckte, immer verbunden mit dem Gedanken, dass eigentlich alles anders, viel schöner hätte kommen können. Emily Dickinson wurde 1830 in Amherst, Massachusetts, geboren. Neun Jahre zuvor war das heute weltberühmte Amherst-College gegründet worden. Emilys Großvater gehörte zu den Initiatoren, ihr Vater und Bruder, beide angesehene Anwälte, organisierten über Jahrzehnte die Finanzen der Universität. Die Dickinsons waren also wer in Amherst, und selbstverständlich wurden die Töchter auf gute, ebenfalls neugeschaffene Mädchenschulen geschickt. Das College war nur männlichen Schülern und Studenten vorbehalten, aber an der Amherst Academy lernten Emily und Lavinia alte und moderne Sprachen, belegten sie Kurse in Philosophie, Geschichte und - ganz wichtig - Naturwissenschaften, deren Terminologie und Duktus schon die ganz junge Emily faszinierte und den Grundstock für den herrlich forschen und forschenden Ton in vielen ihrer Natur-Gedichten legten:
    Gedicht 177
    Wie wenn ein Blümchen aus der Arktis
    Auf dem polaren Saum
    Die Breitenkreise runterzöge
    Bis es benommen käm
    Zu Sommerkontinenten
    Zu Sommerfirmamenten
    Zu seltnen, lichtenen Blumenmengen
    Und Vögeln fremder Zungen!
    Ich sag', Wie wenn dies Blümchen
    In Eden, zöge ein -Was jetzt?
    Nun gar nichts, daraus
    Nur, deine Folgerung!
    Lyrik als Affront
    Ein zarte lyrische Reise endet jäh mit einer wissenschaftlichen Hypothese: Paradies? Nichts da, von wegen! "What then. Why nothing, only your inference" heißt es nüchtern-analytisch im Original und ist zu jener Zeit ein echter Affront. 1860 entstanden diese Verse, ein Jahr zuvor hatte Charles Darwin seine epochale Studie über die "Entstehung der Arten" veröffentlicht, was schon damals prompt als Beleidigung des göttlichen Schöpfergedankens aufgefasst wurde, gerade im puritanisch geprägten Osten der USA. Genau in jenem Ambiente, in dem Emily Dickinson aufwuchs und erzogen wurde.
    Schon früh begann sie, an der zuhause propagierten Religion zu zweifeln. Mit 17 wurde sie Studentin am "Mount Holyoke Female Seminary" und schnell auffällig als Spötterin und Renegatin angesichts der strengen religiösen Rituale dieser Höheren-Töchter-Schule. Im Anstalts-Jargon galt sie als"no hoper", als hoffnungslos im Glauben, nach nur einem Jahr verließ sie das Seminar. Ihr Vater befand, es sei genug der Bildung, sie selbst hatte vor allem die ewige Beterei reichlich satt. Auch war sie nicht mehr ganz gesund, die Lunge machte Sorgen, die Ärzte verschrieben lange Spaziergänge, zur Begleitung schenkte Vater Edward einen Hund, Carlo, den Emily innig lieben sollte. Für Emily Dickinson begann ihre wohl glücklichste Zeit. Eng verknüpft mit dem akademisch-intellektuellen Leben in Amherst, waren die Dickinsons viel und gern besuchte Leute. Renommierte Persönlichkeiten, Gelehrte, Schriftsteller, Journalisten gaben sich die Klinke in die Hand, zumal Edward Dickinsons Prominenz politisch zunahm, als Abgeordneter im Bostoner Landesparlament, später sogar im Kongress in Washington.
    Und es wurde nicht nur mit tollen Gästen diskutiert im Hause Dickinson, auch war man à jour über alles in der Welt durch 15 abonnierte Zeitungen und Zeitschriften, und niemand in der Familie stürzte sich fröhlicher darauf als die junge, kluge Emily, die sich für einfach alles zu interessieren schien: für Wissenschaft, Technik, Politik - und ganz besonders für Literatur! Denn das Schreiben war die noch stille Leidenschaft, das geheime Ziel, die gutbestückte Bibliothek des Vaters, die literarischen Feuilletons der Magazine eine Quelle erster poetischer Inspiration. Um einen Beruf musste Emily sich erst nicht bekümmern.Im Stil amerikanischer Oberschicht verschwendete der Vater keinen Gedanken daran, wiewohl schnell absehbar war, dass sein geistig so quirliges Töchterchen mit der vorgeplanten Zukunft als frommer Hausfrau und Mutter wenig im Sinn hatte. Das wird schon noch, mögen sich die Eltern gedacht haben. Bis sie es schwarzweiß serviert bekamen, wohin es ihre Emily zog:
    Gedicht 1

    Ihr Musen, auf! Stimmt an den göttlichen Gesang,
    dass hehres Garn sich flicht ins Valentinsgedicht!
    O ja die Welt ist da für Liebe, für Jungfer, und bangen Galan,
    für Seufzer, süßes Flüstern, und Eines-Sein von zwein,
    ein jedes ist auf Brautschau auf Erden, Luft und Meer,
    Gott schuf nichts, das allein ist hienieden außer dir!
    Heimliche Verlobung
    Das ist Gedicht Eins dieser sämtlichen Gedichte, und so heiter-unbeschwert es klingt, hat es fatal gewirkt: Anfang der 1850er-Jahre erschienen die Reime anonym zusammen mit einem weiteren fröhlichen Gedicht und einem ebensolchen Brief in örtlichen Zeitungen. Die Adressaten waren junge, unverheiratete Männer, heute kennt man ihre Identität. Einer hieß George Henry Gould, war mit Emilys Bruder Austin in eine Klasse gegangen.

    In jenem Brief nun wird er direkt als „Verlobter" angesprochen, und dann tollte noch ein Hund namens Carlo durch die Zeilen. Es gab nur einen Carlo im Städtchen, und mit dem geliebten Tier kam alles raus! "Schau an, die kleine Dickinson", werden die guten Bürger von Amherst gefeixt haben, Vater Edward fand's überhaupt nicht lustig. Aus der Zeitung zu erfahren, dass sich seine Tochter anscheinend heimlich verlobt hatte, mit einem unbedeutenden Jüngling mit nichts auf der Kralle, allein das war schon schlimm genug, welch ein Skandal! Aber dann noch Dichten - als Frau, unmöglich! Es flogen die Fetzen, der Papa muss regelrecht ausgeflippt sein. "Schluss mit dem Unsinn" lautete das patriarchalisch-puritanische Verbot, vom Verloben und weiblichen Dichten war hinfort keine Rede mehr im Hause Dickinson. Und Emily? Sie fügte sich, ging still auf ihr Zimmer, ließ zwar keineswegs den "Unsinn", dichtete aber nur noch im Verborgenen, niemals mehr sollte ihre Familie einen Vers der Tochter zu Gesicht bekommen.
    Inneres Exil
    So begann das innere Exil der Emily Dickinson, das bis heute Fragen aufwirft. Warum hat sie nicht aufbegehrt? Mit ihrem schon ausgeprägten rebellischen Geist und Witz? Ihre Gedichte sind nicht nur betörend schön, sondern haben oft richtig Biss, zeugen von blitzendem Intellekt und Verstand, was einfach nicht zusammengehen will mit einem völlig reduzierten, später kauzig-wunderlichen Dasein, das unser Bild dieser Dichterin bestimmt. Am Ende wird sie keinerlei Besuch mehr empfangen, lauscht familiären Hauskonzerten hinter der angelehnten Tür, befiehlt von der Treppe herab, dass jeder verschwinden soll, bevor sie hinunterschreitet. Sicherlich gibt es Erklärungen: die Zeit, das Milieu, lebenslang unerfüllte erotische Sehnsucht zu teils unerreichbaren Männern, darunter ein verheirateter Prediger, ausgerechnet.
    Eine späte Liebe zu einem Amherster Richter hat man aus ihren Briefen rekonstruiert, sie soll sogar glücklich gewesen sein, man hofft, dass es so war. Wie stark und unselig aber auch immer dieser oder jener Einfluss gewirkt haben mag - vom väterlichen Donnergrollen an hat Emily Dickinson entschieden rigide ihr Dichtertum verkapselt. Dabei hat es an Zuspruch und Ermutigung nicht gefehlt, von Herausgebern, Publizisten, Literaturkennern, mit denen sie über Jahrzehnte Briefe wechselte und sich intensiv über dichterische Fragen austauschte. Ihre poetische Sprache hat Emily Dickinson vor allem auch im Disput mit Literaten entwickelt.Sie experimentierte mit neuen Reimformen, dachte viel über Metrik nach und fuhr stolz ihren Briefpartnern bisweilen über den Mund, wenn sie kritisch reagierten auf diesen ungewohnten Stil, die kühne Metaphorik. Heute sieht man, wie weit sie ihrer Epoche literarisch voraus war. Emily Dickinson hätte wohl eine lyrische Revolution entfacht, wenn, ja wenn. Dass Zeit ihres Lebens nur zehn Gedichte erschienen, allesamt anonym, lag jedenfalls nicht an einer uninteressierten Öffentlichkeit. Sie selbst hielt fest die Hand drauf. In ihrer Korrespondenz streute sie verschwenderisch Gedichte aus, über 160 sind belegt. Aber nur der Hartnäckigkeit einiger der Empfänger ist es zu verdanken, dass wenigstens ein paar Gedichte publiziert wurden, ohne dass die Dichterin jemals ihre Zustimmung gegeben hätte. Der Leiter des "Springfield Daily Republica" etwa, Samuel Bowles, rang ihr zumindest dieses ab:
    Gedicht 124
    Verwahrt in ihren Alabasterkammern
    Kein Morgen - und kein Mittag
    rührt sie an
    Schläft die bescheidene Ostergesellschaft
    Balken aus Atlas
    Und Dach aus Stein
    Hell lacht die Brise
    Hoch oben im Schloss
    Plappert die Biene ins stumpfe Ohr
    Pfeifen die Vögel kunstlose Weisen
    Ach, wie viel Findigkeit sich hier verlor!
    Als Dichterin in der Welt geblieben
    So extrem, wie sich Emily Dickinson persönlich aus aller Welt zurückzog, so sehr blieb sie dennoch als Dichterin in der Welt, in der Realität ihrer Zeit, des historischen wie intellektuellen Geschehens. Weiterhin strömten die Zeitungen und Journale ins Haus, nach wie vor bekam Emily alles mit, wollte sie alles wissen, was in Politik, Wissenschaft und Kunst vor sich ging. Aufgrund der bislang begrenzten Auswahl Ihrer Gedichte und auch des düster-legendenumwobenen "White-Lady-Tums" hat sich in Deutschland die Vorstellung von Emily Dickinson als reine Naturlyrikerin herausgebildet, die Bienen, Blumen, Sonne und Regen besingt, metaphysische Todesschauer wehen lässt und schwarzromantische Elegien über Sein und Zeit inszeniert.
    Alles richtig, aber die Gesamtschau zeigt jetzt viel mehr: Zahlreiche Gedichte arbeiten mit Reflexen, Verweisen auf konkrete Ereignisse, Personen, geschichtliche und philosophische Entwicklungen. Viele Verse entstehen überhaupt erst durch solche Anlässe, und vieles, was bislang als unverständlich-metaphorisch-allegorisch galt, wird im Zusammenhang deutlich und klar konturiert. Ein gutes Beispiel dafür sind Gedichte, die Emily Dickinson ab 1863 schrieb, seit dem Beginn des amerikanischen Bürgerkriegs, der sich zu einer nationalen Tragödie entwickelte, mit gigantischen Schlachten und Hunderttausenden von Toten. Auch nach Amherst drangen die Nachrichten, die Zeitungen druckten erschütternde Reportagen und gräuliche Bilder von den Schlachtfeldern und aus den Lazaretten. Auch Emily war entsetzt:
    Gedicht 704
    Mein Part ist heut - das Unterliegen
    Ein bleicheres Geschick als Siegen
    Kaum Lobeshymnen – Glockenklang
    Mir folgt kein Trommler - mit Gesang
    Nicht rasch wie Schüsse geht's voran
    Debakel - zieht sich hin -
    Voll Flecken ist's, voll von Gebeinen
    Und Männern die zu steif zum Beugen
    Und Stapeln von Gestöhn
    Von Splittern weiß - in Knabenaugen
    Gebetsschutt
    Klar in Stein gehauen
    Des Tods frappantes Tun
    Schwester im Geiste
    "Scraps of prayer" heißt es im Original, "Gebetsschutt" macht Gunhild Kübler daraus, und schon an diesem einen Wort lässt sich die Leistung ihrer Übersetzung illustrieren. Sie ist schlicht sensationell. Schon nach wenigen Zeilen spürt man, dass hier eine Schwester im Geiste am Werk ist, vertraut mit dem Empfindungs- und Gedankenraum von Worten und Begriffen, ihrer Aura, die sie instinktiv, scheinbar mühelos, zu erfassen und in die eigene Sprache zu verwandeln vermag. Dichterin und Übersetzerin wirken wie zwei enge Freundinnen, die einander verstehen, ohne viel sagen und erklären müssen. Fällt ein Wort, wissen beide, was gemeint ist, blicken sie gemeinsam auf einen Gegenstand, sehen sie dasselbe.
    Gunhild Kübler hat kürzlich in einem Interview im Deutschlandfunk erzählt, dass sie nur durch Zufall, in einem privaten Lese-Zirkel, auf Emily Dickinson gestoßen sei. Die Gedichte hätten sie getroffen "wie ein Blitz" und sofort habe sie Wunsch und Drang verspürt, diese Lyrik zu übersetzen. Es muss ein Blitzschlag von Verständnis und Nähe gewesen sein, so wie manchmal lebenslange Kameradschaft am ersten Schultag entsteht, wenn zwei einander bislang fremde Kinder die Bank teilen und nach wenigen Sätzen wissen, dass sie zusammengehören. Seit 15 Jahren nun beschäftigt sich Gunhild Kübler mit ihrer Gefährtin und der wechselseitig hochproblematischen Natur von Leben und Dichtung, das Ergebnis ist ein literarischer Meilenstein. Den immensen Aufwand, unter dem er errichtet wurde, macht der Anhang dieser Gesamtausgabe kenntlich. Die Editionsgeschichte von Emily Dickinsons Werk ist dermaßen kompliziert, dass es bis heute keine amerikanische historisch-kritische Ausgabe gibt.
    Umfassende Anmerkungen
    Das ist nicht als Vorwurf formuliert, denn die zahlreichen handschriftlichen Varianten in den Notizbüchern, eklatante, nachträgliche Eingriffe der Dickinson-Familie und ständig differierende Versionen von Interpunktion und Zeilenumbrüchen haben eine einigermaßen lesbare Buchausgabe verhindert. Und auch eine zusammenhängende Kommentierung fiel dabei unter den Tisch. Von Gunhild Küblers Anmerkungsapparat können sich die amerikanischen Kollegen nun eine Scheibe abschneiden: Jede Zeile dieser 1.789 Gedichte hat die Übersetzerin umgedreht, hin- und hergewendet, alle vorhandenen textgeschichtlichen Quellen, die gesamte Forschungsliteratur und zeitgenössische Lexika zu Rate gezogen. So entschlüsselt sie rätselhafte Formulierungen, historische wie biographische Verweise, sucht, findet sie verwandte Textstellen und kann sie miteinander in Beziehung setzen.
    Das ist wissenschaftlich akribisch und dennoch spannend zu lesen, ebenso wie das elegante Nachwort, das Emily Dickinsons Vita im Kontext ihrer Zeit und Epoche entwirft. "Slow Gold - but everlasting." Ein Vers aus einem ebenfalls kaum bekannten Gedicht ziert als Motto Gunhild Küblers Nachwort, man kann es wohl mal wörtlich nehmen, um diesen Band in Gänze zu beschreiben.
    Gedicht 536
    Langsames Gold - doch Haltbar -
    Die Barren des Moments
    Sind der Kontrast zur Währung
    Die ewge Dauer kennt -
    Ein Bettler nur - Bisweilen -
    Hat Gaben, einzudringen
    Wo Maklerwissen aufhört
    Hier Geld - und Da - die Mine -

    Dieses Gedicht, schreibt Gunhild Kübler, gehört zu jenen, die Emily Dickinson definitiv "niemanden sehen ließ". Es zählt zu einer Reihe von Selbstbekenntnissen, die ein wenig die Entscheidung beleuchten helfen, als Dichterin nur für sich sein zu wollen. Wie Gold tief im Erdinnern verschloss sie ihr Werk, hätte es - zutage gefördert - an Wert verloren? Wäre es zu banalem Geld geworden, verderblich für den Charakter? Vermutlich hat Emily Dickinson so gedacht, die "White Lady" in ihrem Garten. Und man wünscht sich, dass eine Gunhild Kübler dabei gewesen wäre, die Freundin an den Schultern gerüttelt und - anders als der Vater - gesagt hätte: "Schluss mit dem Unsinn - Gold glänzt nur im Hellen, du gehörst ins Licht!" Schade, dass sowas nicht passiert ist. Aber wir haben jetzt diese Gedichte, in diesem Band: "Slow Gold - but Everlasting."
    Emily Dickinson, Sämtliche Gedichte. Zweisprachig. Übersetzt, kommentiert von Gunhild Kübler. Verlag Carl Hanser München. 1.404 Seiten. 49,90 Euro.