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Buch der Woche
"Die Schatzinsel" - Ein Abenteuerroman für alle Leserschichten

Robert Louis Stevensons Roman wurde über zwanzig Mal verfilmt und ein gutes Dutzend Mal ins Deutsche übertragen. Nun veröffentlicht der Hanser Verlag die Neuübersetzung von Andreas Nohl mit einigen bisher unveröffentlichten Texten - und einigen sprachlichen Freiheiten.

Von Peggy Neidel | 17.11.2013
    Worin liegt die ungebrochene Attraktion des vor über 130 Jahren verfassten Romans "Die Schatzinsel"? Weshalb wird dieses Buch auch heute noch gelesen, rezipiert oder wie jetzt von Andreas Nohl für den Hanser Verlag neu übersetzt?

    Betrachtet man den Schriftsteller als Seelenarzt, dann sind Geschichten Medizin. Das Abenteuer des Romans "Die Schatzinsel" begann ebenfalls als Heilmittel, nämlich gegen Langeweile bei schottischem Dauerregen. Der Schriftsteller Robert Louis Stevenson hatte sich und seine Familie im Jahre 1881 in einem Cottage in den Highlands einquartiert und sich wahrscheinlich andere Urlaubsbeschäftigungen vorgestellt, als seinem Stiefsohn Lloyd Osbourne den ganzen Tag beim Malen über die Schulter zu blicken. Glaubt man Stevensons eigenen Aussagen über die Entstehung der Schatzinsel, griff er, von des Sohnes Beschäftigung inspiriert, bald selbst zur Feder und zeichnete die Karte einer Insel:

    Sie war aufwendig und sehr schön koloriert. Ihre Gestalt nahm meine Phantasie sofort gefangen, sie besaß Ankerplätze, die mir anmutig wie Sonette erschienen. Es soll wohl Menschen geben, denen Landkarten nichts bedeuten, und ich kann das kaum glauben. Hier ist eine unerschöpfliche Fundgrube für jeden Interessierten, der Augen hat zu sehen oder für zwei Penny Vorstellungskraft, um zu verstehen. Man muss sich nur erinnern, wie man als Kind im Gras gelegen und in einen unendlichen Wald aus Halmen geschaut hat, wo Heerscharen von Feen aufmarschierten.

    Ganz ähnlich begannen, wenn ich mich über die Karte der Schatzinsel beugte, die zukünftigen Figuren des Buchs sich dort in den Phantasiewäldern zu tummeln. Bevor ich mich’s versah, hatte ich ein paar Blatt Papier vor mir liegen und schrieb eine Liste von Kapiteln darauf. Wie oft habe ich das getan, ohne dass die Sache weiter gediehen wäre!


    Genau da lag das Problem. Zwar hatte der 1850 in Edinburgh geborene Stevenson über Jahre hinweg fleißig Kurzgeschichten verfasst, doch einen gewinnbringenden Roman hatte Stevenson noch nicht zustande gebracht. Daher war der Endzwanzigjährige zu Beginn seiner Arbeit an der Schatzinsel immer noch auf die finanzielle Unterstützung des Vaters angewiesen. Mit dem 1881 und 1882 in Fortsetzungen in der Zeitschrift Young Folks veröffentlichten Roman "Treasure Island" änderte sich das schlagartig. "Die Schatzinsel", als Buch bei Cassel & Company in London erschienen, war ein Bestseller von Beginn an. Schnell waren 75.000 Exemplare verkauft.

    Der Roman, vom Autor zuerst angedacht als "Geschichte für Jungs, ohne viel Psychologie oder feinen Stil" hatte freilich nicht nur Bewunderer. So unterhalten sich die einen fühlten, so abschätzig betrachteten andere das Buch. Im Chicago Dial von 1884 bezeichnete ein Rezensent die Schatzsuche gar als "wenig charakterbildend" und einige hielten es für bedenklich, dass "Staatsmänner und Richter und alle möglichen gesetzten, nüchternen Männer wieder zu Jungen werden und bis in die Nachtstunden wach bleiben, um das neue Buch zu lesen."

    Wer den Roman zum ersten Mal oder erneut zur Hand nimmt, wird ähnliche Erfahrungen machen. Stevensons Schatzinsel begeistert einfach durch spannende, flott hinwegerzählte Handlung, einnehmenden Rhythmus, Sprachfertigkeit und ein Thema, das jedes Herz höherschlagen lässt: großes Abenteuer auf weiter See. Der 14-jährige Ich-Erzähler Jim Hawkins ist der junge Held dieses Romans. Unter britischer Flagge macht er sich gemeinsam mit Doktor Livesey, dem Gutsherrn Trelawney, Käptn Smollett, dem Schiffskoch Long John Silver sowie einigen Matrosen auf, den Schatz des Käptn Flint zu suchen:

    "Die ganze Nacht schufteten wir, um alles an Ort und Stelle unterzubringen. Im Admiral Benbow hatte ich in keiner Nacht auch nur halb so viel gearbeitet, und als kurz vor Morgendämmerung der Bootsmann seine Pfeife ertönen ließ und die Mannschaft sich an den Spillspaken einfand, war ich hundemüde. Aber wäre ich auch doppelt so müde gewesen, um nichts in der Welt hätte ich das Deck verlassen. Alles war so neu und aufregend für mich - die kurzen Kommandos, der schrille Ton der Pfeife und die Männer, die im Schimmer der Schiffslaternen an ihre Plätze eilten.

    "Hey Barbecue, jetzt sing uns ein Lied", rief eine Stimme.

    "Das alte", rief ein anderer.

    "Aye-aye, Kameraden", sagte Long John, der mit seiner Krücke unterm Arm dabeistand und sofort die Worte anstimmte, die ich so gut kannte:

    "Fünfzehn Mann auf des toten Mannes Kiste... Jo-ho-ho, und ne Buddel voll Rum!"

    Bald wurde der Anker gelichtet, er hing tropfnass am Bug, der Wind füllte die Segel, und Land und Schiffe glitten auf beiden Seiten vorbei. Bevor ich mich hinlegen konnte, um ein Stündchen Schlaf zu ergattern, war die Hispaniola auf großer Fahrt zur Schatzinsel."


    Doch schon auf dem Weg dorthin erlebt Jim eine böse Überraschung. In einem Apfelfass sitzend, belauscht er eines Abends den Schiffskoch Long John Silver im Gespräch mit einem der Matrosen. Jim traut seinen Ohren kaum, als er mit anhört, was Silver vorhat: Er will den Schatz an sich reißen, eine Meuterei anzetteln und die bisherige Besatzung lynchen. Offensichtlich tummeln sich an Bord der Hispaniola nicht nur ehrbare Matrosen, sondern zahlreiche ehemalige Mitglieder von Käptn Flints Piratencrew.

    Die Situation spitzt sich zu. Auf der Insel angelangt, suchen die Schiffsführer Unterschlupf in einem Blockhaus, während die Piraten im Wald Stellung beziehen. Es kommt zum Kampf mit Verlusten auf beiden Seiten. Jim beschließt, etwas zu unternehmen. Mit Revolver und Zwieback in den Jackentaschen flieht er allein und unerlaubt aus der Hütte und macht sich auf den Weg zur Küste, um nach dem geenterten Schiff Ausschau zu halten. Am Ufer angelangt, findet er ein Korakel - ein kleines, rundes Boot - und beschließt, die Hispaniola zurückzuerobern.
    "Ich riss die Augen auf. Rings um mich her tanzten kleine Wellen, deren phosphoreszierende Kämme sich mit einem sprühenden Zischen brachen. Die Hispaniola, in deren Kielwasser ich ein paar Yard entfernt herumgewirbelt wurde, schien in ihrem Kurs zu taumeln. Ihre Masten schwankten im schwarzen Nachthimmel.

    Ich blickte über meine Schulter, und das Herz wollte mir stehen bleiben. Direkt hinter mit loderte das Lagerfeuer. Die Strömung hatte sich um neunzig Grad gedreht und den großen Schoner und das tanzende Korakel mit sich gerissen. Immer schneller, immer höher, immer lauter wirbelte das Wasser durch die Meerenge der offenen See zu.

    Ich legte mich flach auf den Boden der elenden Nussschale und empfahl meine Seele demütig ihrem Schöpfer. Am Ende der Meerenge erwartete ich gegen eine Wand wütender Brecher anzulaufen, wo all meine Sorgen ein jähes Ende finden würden. Und obwohl ich es vielleicht ertragen konnte, zu sterben, so konnte ich es nicht ertragen, meinem nahenden Schicksal entgegenzusehen. So muss ich stundenlang dagelegen haben, fortwährend auf den Wogen hin- und hergeschleudert, immer wieder von der sprühenden Gischt durchnässt und mit jedem Eintauschen ins nächste Wellental den Tod vor Augen.

    Allmählich wurde ich müde, eine Benommenheit und gelegentliche Starre erfasste mich inmitten meiner Angst - bis mich schließlich der Schlaf übermannte. Da lag ich in meinem umhergeworfenen Korakel und träumte von zu Hause, vom alten Admiral Benbow."


    Wie so oft in diesem Roman beweist Jim jugendlichen Übermut als auch Mut. Und er hat großes Glück. Er gelangt nicht nur auf das Schiff, es gelingt ihm sogar, die Hispaniola vor den Piraten geschützt in eine umwaldete Bucht zu manövrieren. Mit stolz geschwellter Brust will Jim seiner Crew von der Heldentat berichten, doch in der Blockhütte hat sich längst Long John Silver mit seiner Meute einquartiert. Jim ist nun im Lager der Feinde und bald macht man sich gemeinsam auf, nach dem Schatz zu suchen...

    Stevensons Roman wurde über zwanzig Mal verfilmt und ein gutes Dutzend Mal ins Deutsche übertragen. Beinahe jedes Jahrzehnt hat seine eigene Schatzinsel-Übersetzung hervorgebracht. 1997 erschien die Übersetzung von Friedhelm Rathjen im Haffmanns Verlag, zuletzt 2010 die Version von Ulrich Bossier bei Reclam. Nun legt der Hanser Verlag nach und veröffentlicht die Neuübersetzung von Andreas Nohl mit einigen bisher unveröffentlichten Texten aus dem Umfeld des Romans im Anhang. Der 1954 in Mülheim an der Ruhr geborene Nohl, auch als Schriftsteller und Literaturkritiker tätig, hat bereits Mark Twains "Tom Sawyers Abenteuer" und Bram Stokers "Dracula" übersetzt. Erst kürzlich übertrug Nohl Stevensons Romanfragment "St. Ives" ins Deutsche.

    Wie unterschiedlich die Übersetzungen der Schatzinsel ausfallen, wird sofort deutlich. Während Friedhelm Rathjen sprachliche Anachronismen nicht scheut und für heutige Ohren auch altertümlich klingende Formulierungen beibehält, wählt Ulrich Bossier eine freiere, mitunter jedoch etwas zu ausgeschmückte Version. Andreas Nohl holt die Schatzinsel sprachlich ins 21. Jahrhundert. Nehmen wir die Darstellung des alten Seemanns, der zum ersten Mal das englische Gasthaus zum "Admiral Benbow" aufsucht. Rathjen nennt ihn einen "großen, starken, schweren Mann, das Gesicht nussbraun", Andreas Nohl macht daraus den "gewaltigen Hünen, braun gebrannt wie eine Haselnuss".

    Nohls Kunst liegt in der sprachlichen Verdichtung. Er scheut sich nicht davor, Stevensons Sätze plausibel abzuschleifen, weshalb wir ihm eine Version verdanken, die sich flüssig liest und mit überzeugenden Bildern aufwartet. Nohl befreit die Geschichte von umständlichem und holprigem Sprachballast.

    Besonders deutlich wird das an Stellen mit direkter Rede. "Die, wo sterben, werden noch die Glücklicheren sein", übersetzt Rathjen den Fluch des Schiffskochs. "Die Toten werden noch die Glücklichsten sein", schreibt Ulrich Bossier. Andreas Nohl entscheidet sich für ein zeitgemäßes, sehr eingängiges: "Und wer draufgeht, hat noch Glück gehabt."

    Auch heute noch wird die Schatzinsel gern und oft als, so Andreas Nohl, "genrespezifische Jugendlektüre" gelesen. Auf diese Weise wollte Stevenson aber das Werk gar nicht ausschließlich verstanden wissen, lässt er die Schatzinsel von seinem Verlag doch verkaufen als "Abenteuerroman für alle Leserschichten, insbesondere auch für erwachsene Leser".

    Genau diese Leseart gebührt dem Roman. Die Schatzinsel ist Weltliteratur, ein populäres Buch für Menschen aller Schichten und aller Bildungsstufen. Dabei liest sich der Roman zuerst wie ein "eskapistischer Tagtraum", der das künstlerisch im Realismus und Naturalismus angesiedelte Ideal der damaligen Zeit - beispielsweise die zumeist in Städten spielenden Sozialporträts eines Charles Dickens - unterwandert. Schon früh haderte Stevenson mit jenem künstlerischen Paradigma der so genannten "novels", forderte ein höheres Maß an Fantasie und mehr ästhetische Wirkung. Stevenson war der Meinung, beschränke man sich lediglich auf die Darstellung der Wirklichkeit, "beschränke man die Wahrnehmung gegenüber der sinnlichen und moralischen Vieldeutigkeit des Wahrnehmungsobjekts":

    Geschichten sind es, die wir wollen, nicht die hohe poetische Kunst, die die Welt darstellt. Wir wollen unerhörte Begebenheiten, Spannung, Handlung: zum Teufel mit eurer Philosophie. Wenn unser Herz unbeschwert ist, setzen wir uns gern an eure bedeutenden Werke,

    schrieb Stevenson in einem Brief an John Meiklejohn, in dem auch noch ein anderer Schreibanreiz des Autors deutlich wird: Der Versuch, sich über den von Arthur Schopenhauer befeuerten Pessimismus und Skeptizismus des ausgehenden Jahrhunderts hinwegzusetzen. Mit der Schatzinsel will Stevenson darüber hinausschreiben, jedoch ohne ins Märchenhafte abzudriften. Ganz im Gegenteil: Die Schatzinsel ist zwar eine so genannte "romance", ein literarisches Werk, in dem irreale und abenteuerliche Motive überwiegen. Doch ist sie mehr als stereotype Abenteuergeschichte. Die Hispaniola segelt nicht nur in sonnendurchflutete, exotische Gefilde, sondern in die Abgründe der menschlichen Seele. Die Schatzinsel ist auch eine "Parabel der Geldgier":

    Der Gedanke an das Geld verdrängte, je näher sie kamen, ihre vorherigen Ängste. Ihre Augen brannten vor Ungeduld, ihre Schritte wurden schneller und leichtfüßiger, ihre ganze Seele verlor sich in diesem sagenhaften Reichtum, in diesem wunderbaren Leben des Luxus und der Lüste, das jeden von ihnen erwartete. Silver humpelte ächzend auf seiner Krücke, seine geblähten Nasenflügel bebten. Er fluchte wie ein Verrückter, wenn sich die Fliegen auf sein heißes, schweißglänzendes Gesicht setzten. Mit dem Gold in greifbarer Nähe war alles andere vergessen.

    Mangelnde Bildung, fehlende Gottesfurcht, Disziplinlosigkeit und Ehrlosigkeit: Das sind die Attribute der ständig betrunkenen Piraten, die lediglich von der Vorstellung an die vergrabenen 700.000 Pfund in Gold erhitzt werden. Die Wahrnehmung des Jim Hawkins ist dagegen eine andere. Der jugendliche Seefahrer kann sich auch an der Üppigkeit der insulanen Natur erfreuen, an den Farben des Meeres. Ebenso erkennt er die Schattenseiten dieser Insel, bemerkt die trostlose Einöde. Schnell steht er der Suche nach dem Schatz skeptisch gegenüber, erkennt, dass unreflektierte Beutegier lediglich Unfrieden und Verwüstung mit sich bringt. Was als abenteuerlicher Tagtraum begann, endet für Jim als Albtaum:

    "Die Silberbarren und die Waffen liegen noch immer dort, wo Flint sie begraben hat, und meinetwegen sollen sie dort auch liegen bleiben. Keine zehn Pferde könnten mich noch einmal auf diese verwünschte Insel zurückbringen. In meinen grässlichsten Albträumen höre ich die Brandung gegen ihre Küste donnern oder fahre vor Schreck im Bett auf, und Käptn Flints Krächzen gellt mir in den Ohren: Dukaten! Dukaten!"

    Dennoch liegt der Impetus des Romans nicht in einer einfachen Gegenüberstellung von Gut und Böse. Eines der Hauptmerkmale sowohl der Geschichte als auch der Figuren ist die durchweg vorhandene Widersprüchlichkeit, die der ästhetischen Forderung Stevensons nach der Vieldeutigkeit des Wahrnehmungsobjekts entspricht. Der ehrbare Gutsherr Trelawney leidet unter maßloser Selbstüberschätzung und Geschwätzigkeit, plaudert trotz Schweigegelöbnises die Details der Schatzsuche am Hafen von Bristol aus. Schiffskoch Long John Silver erscheint einerseits als diszipliniert und mitfühlend, gar als väterliche Figur für Jim, andererseits ist er ein manipulativer und berechnender Mörder.

    Auch Jim ist eine Medaille mit zwei Seiten. Einerseits treu und pflichtbewusst, neigt er zu anarchischem und kopflosem Verhalten. Und was ist das eigentlich für ein Eklat: Geschäftsmänner und Ärzte lassen sich unter britischer Flagge auf eine nebulöse Schatzsuche ein. Ebenso ambivalent erscheint die Natur, teilt sich in ein Licht- und Schattenspiel, das bald den herrlichsten Sommertag, bald erhöhte Gefahr verspricht.

    "Ich freute mich so, Long John entwischt zu sein, dass ich mich vergnügt und voller Neugier in der fremden Welt umschaute, in die ich geraten war. Ich hatte ein morastiges Gebiet voller Weiden, Schilf und exotischen Sumpfbäumen durchquert und kam jetzt in ein offenes Gelände.

    Auf der anderen Seite der Lichtung erhob sich einer der Berge mit zwei seltsam geformten, schroffen Felsspitzen, die in der Sonne funkelten. Ich ging im Zickzack durch die Bäume. Das Dickicht erstreckte sich von der Kuppe eines der Sandhügel hinunter, wobei es immer breiter und die Bäume immer höher wurden, bis es an den schilfbestandenen Sumpf stieß. Der Sumpf dampfte in der Bruthitze, und die Umrisse des Ausguckfelsens flirrten im Dunst."


    In seinem Nachwort bringt Andreas Nohl die Wirkung des Romans treffend auf die Formel:

    Das seelische Empfinden - auch das des Lesers - wechselt mit der Geschwindigkeit eines plötzlichen Wetterumschlags.

    Die stilistische Prägnanz, die lebendige Charakterzeichnung als auch die ständige Unsicherheit über den "wahren Kern" der Figuren sind es, die nicht nur den Leser kaum zur Ruhe kommen lassen, sondern die den gesamten Roman über den Stand einer reinen Unterhaltungslektüre für kleine oder große Jungs hinausheben. Der Herzschlag der Schatzinsel entsteht durch Ambivalenz. Identität ist das Stichwort. Und ob man 16 oder 60 Jahre alt ist: Jeder Leser kann gemeinsam mit dem Helden dieser Reise nicht nur die Widersprüchlichkeit einer Schatzsuche, sondern auch der Identitätsfindung durchleben.

    Mit der Figur des Jim Hawkins werden Fragen angeregt, die zeitlose Fragen geblieben sind: Wie viel Freiheit, wie viel Sicherheit ist nötig, worin liegt das persönliche Glück, wer möchte und wer kann man überhaupt sein? Und vor allem: Ist man nicht immer mehreres zugleich? Genau diese Thematik ist es, die Stevenson immer wieder beschäftigte, zum Beispiel in seinem nur wenige Jahre später verfassten Roman "Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde". Kurz vor der Entstehung des Romans "Die Schatzinsel" schrieb Stevenson an einen Freund:

    Ich sehne mich danach, mehr zu sein als der Liebling einer Literatenszene, mehr als ein literarischer Cherub - mit Kopf und einem Paar Flügeln, aber nichts, worauf man sitzen kann.

    Auch der Autor befand sich auf der Suche nach seiner "goldenen Mitte". Die Schatzinsel ist nicht nur Stevensons erster Roman geworden, der sein poetologisches Programm enthält, es ist das Buch, mit dem er endlich in finanzielle Sicherheit segelte.

    Seit Generationen regt dieser Roman an, entzündet die Fantasie der Leser als auch der Schriftsteller. Marcel Proust, Henry James oder Bertolt Brecht beschäftigten sich mit Stevensons Werk, und bis heute ist "Die Schatzinsel" eine Quelle der Inspiration geblieben. Lesenswert ist beispielsweise die 2003 bei Fischer publizierte Kriminalgeschichte "Stevenson unter Palmen" des aus Argentinien stammenden Schriftstellers Alberto Manguels, in dessen Erzählung sich der Autor Stevenson von den kalten Nebeln Schottlands in die Südsee zurückgezogen hat und dort bald in mysteriöse Geschehnisse verwickelt wird.

    Der Schweizer Autor Alex Capus begab sich ebenfalls auf Spurensuche und versuchte mit dem 2007 bei btb erschienen Roman "Reisen im Licht der Sterne" darzulegen, dass es jene weltberühmte Schatzinsel zwar gab, nur an einer ganz anderen Stelle, als Heerscharen von Schatzsuchern sie über Generationen hin vermutet hätten. Capus stellt in seinem Roman sogar die Theorie auf, Stevenson selbst habe sich nur deshalb auf eine Südseeinsel zurückgezogen, um nach dem Kirchenschatz von Lima zu suchen. Angeblich habe er den Schatz sogar gefunden und mit diversen Helfern zu Geld gemacht. Allerdings gibt es dafür keine Beweise.

    Naheliegender ist, dass sich der chronisch lungenkranke Stevenson lediglich aufgrund des warmen und gesundheitlich fördernden Klimas außerhalb Schottlands niederließ. Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte er auf der Insel Upolu, einer der samoanischen Inseln im Südpazifik, auf der er 44-jährig verstarb.

    Wer die Schatzinsel aufmerksam liest, wird selbst feststellen, dass Stevenson alles andere als eine launige Schatzgräbernatur war, dass er mit seinem Roman nicht nur einen "eskapistischen Tagtraum", sondern - stilistisch auf höchstem Niveau - die Widersprüchlichkeit der menschlichen Seele beschrieb. Wenn das keine brillante Unterhaltung ist.

    Robert Louis Stevenson: "Die Schatzinsel"
    Übersetzt und herausgegeben von Andreas Nohl, Hanser Verlag, September 2013, Leinen mit Leseband, 384 Seiten, ISBN 978-3-446-24346-0, 27,90 Euro.