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Henry James: "Die Gesandten"

Der vor 100 Jahren gestorbene Schriftsteller Henry James ist einer der größten Stilisten der amerikanischen Literatur. Generationen amerikanischer und englischer Schriftsteller kopierten seinen raffinierten Erzählstil, der dank einer Neuübersetzung seines Meisterwerks "Die Gesandten" auch im Deutschen zur Geltung kommt.

Von Maike Albath | 28.02.2016
    Der Schriftsteller Henry James (1843 - 1916) in einer undatierten Aufnahme
    Der Schriftsteller Henry James (1843 - 1916) in einer undatierten Aufnahme (dpa / picture alliance / Pixfeatures)
    Lewis Lambert Strether ist ein Mann mit Prinzipien, rechtschaffen und anständig. Schließlich stammt er aus dem Städtchen Woollett in Massachusetts, und dort weiß man, was sich gehört. Der grundsolide Herausgeber einer Literaturzeitschrift, seit Langem verwitwet, ein wenig dürr, bebrillt und zweifellos nicht mehr der Jüngste, ist im Begriff, eine wohlhabende Geschäftsfrau zu ehelichen. Aber die praktische Mrs. Newsome, ebenfalls Witwe, verlangt dem Bewerber eine Bewährungsprobe ab: Er soll ihren Sohn Chad, einen jungen Mann, der schon viel zu lange in Paris festhängt, nach Hause zurückholen, wo ihn die Leitung der familieneigenen Reklamefirma erwartet. Strether gehorcht und begibt sich in Gesellschaft seines Freundes Waymarsh nach Europa. Mit seiner neu gewonnenen Freundin Maria Gostrey, die in Paris beheimatet ist, streift Strether durch die französische Hauptstadt und erläutert, was ihn von seinem jovialen Reisebegleiter und vielen seiner Landsleute unterscheidet.
    "'Waymarsh ist in einer Weise erfolgreich, wie es mir nicht im Entferntesten gelungen ist.' 'Sie meinen, er hat das große Geld verdient?' 'Er tut es noch - nach meinem Dafürhalten. Und ich', sagte Strether, 'obwohl mein Buckel genauso krumm ist, habe es nie zu etwas gebracht. Ich bin ein mustergültiger Versager.' Einen Augenblick lang befürchtete er, Miss Gostrey werde ihn fragen, ob er damit sagen wolle, er sei arm; und er war froh, dass sie es unterließ, denn er wusste wirklich nicht, welche Konsequenzen sie aus der Wahrheit über diesen unerfreulichen Punkt ziehen könnte. Sie bestätigte jedoch lediglich seine Erklärung. 'Gott sei Dank sind Sie ein Versager - darum zeichne ich Sie ja so aus! Alles andere ist heute einfach abscheulich. Schauen Sie sich doch um - sehen Sie sich die Erfolgreichen mal an. Hand aufs Herz - möchten Sie einer von denen sein? Und dann', sagte sie, 'sehen Sie mich an.' 'Verstehe', erwiderte Strether. 'Sie gehören auch nicht dazu.'"
    Maria Gostrey hat Besseres zu bieten: Witz, Klugheit, Intuition und eine geschärfte Wahrnehmung. Außerdem ist sie erfrischend unkonventionell, was dem biederen Strether zu ungeahnten Einsichten verhilft. Sechshundert Seiten lang wird sie dem strauchelnden Besucher zur Seite stehen, diskret und unpathetisch, und am Ende still zurückstecken. "Die Gesandten" nennt Henry James seinen späten Roman, entsprechend der Mission, die Strether im Zusammenspiel mit Waymarsh so tapfer in Angriff nimmt. 1903 in Fortsetzungen in der Zeitschrift "North American Review" erschienen und im selben Jahr als Buch veröffentlicht, handelt es sich um ein äußerst fein gesponnenes Gewebe aus einer Fülle von Dialogen. Die Schauplätze dieser eleganten Mischung aus Gesellschaftstableau, Komödie, Bewusstseinsroman, Entwicklungsgeschichte und elaborierter Kommunikationstheorie sind London und Paris, einen Abstecher aufs Land gibt es außerdem. Die zahllosen Gespräche, in denen das Eigentliche oft ausgespart wird und man stattdessen virtuos drum herum redet, finden in eleganten Salons statt, auf der Straße, in Cafés, Restaurants und Gaststätten, in Hotels, den Künstlerateliers des Quartier Latin und weitläufigen Wohnungen an den Tuilerien oder am Boulevard Malherbes. Paris ist gleichermaßen glitzernde Kulisse und Inbegriff der europäischen Lebensart:
    "Strether folgte der sonnigen Rue de la Paix, ging durch die Tuilerien, überquerte den Fluss und gönnte sich mehr als einmal - wie unter Zwang - einen plötzlichen Halt vor den Bücherständen am gegenüberliegenden Ufer. In den Tuilerien hatte er sich an zwei oder drei Stellen verweilt und umgeschaut: Es war, als habe der wundervolle Pariser Frühling seinem Schlendern Einhalt geboten. Der putzmuntere Pariser Morgen schlug heitere Akkorde an - mit milder Brise und feuchtem Duft, im Gehusch barhäuptiger Mädchen, die mit ovalen, von Schnallenriemen umschnürten Schachteln über die Parkfläche flatterten, in Gestalt betagter Personen, die sich beizeiten sorglich sonnten, wo warme Terrassenmauern warteten, im blauberockten, messingbeschilderten Beamtentum demütig harkender und scharrender Bediensteter, in der dunklen Anmutung eines schnurgrad schreitenden Priesters oder der schneidigen eines Soldaten mit weißen Gamaschen und roten Hosen."
    Untergehakt genießen diese Pariserinnen einen Spaziergang.
    Untergehakt genießen diese Pariserinnen einen Spaziergang. (picture alliance / dpa)
    Wie auf einem impressionistischen Gemälde bietet sich Paris dem Betrachter in all seiner sinnlichen Fülle dar, und Strether fühlt sich durchströmt von der vibrierenden und zugleich beschaulichen Atmosphäre. Die helle, lichte Umgebung weitet sein verkarstetes Innenleben, die tugendhafte Enge des Kleinstädtchens in der amerikanischen Provinz rückt weit weg. Henry James kannte die belebende Wirkung der französischen Metropole. 1843 in New York geboren, verbrachte er einen Teil seiner Kindheit und Jugend in Europa und sprach hervorragend Französisch. Der Vater, ein wohlhabender Erbe, Swedenborg-Anhänger, Verfasser bombastischer theologischer Werke mit einem Hang zu Depressionen und halsbrecherischen Sozialprojekten, ließ sich mit seiner Familie abwechselnd in Paris, London, der Schweiz und den USA nieder. Nach einem abgebrochenen Jurastudium und einer obskuren Verletzung am Rücken, die Henry James' Teilnahme am amerikanischen Bürgerkrieg verhinderte, debütierte er 1864 zunächst anonym mit einer Erzählung, legte kurze Zeit später weitere Kurzgeschichten und Romane vor und machte sich rasch einen Namen. Vor allem das sogenannte international theme, das "internationale Thema", das James im Verlauf seines Werkes immer weiter differenzieren sollte, stieß auf Resonanz - also die Unterschiede zwischen dem zwanglosen, kultivierten, aber moralisch fragwürdigen und mitunter dekadenten Lebensstil der Italiener, Franzosen und Engländer und dem puritanischen, zupackenden Nützlichkeitsdenken der Amerikaner. Vor allem die Komplexität seelischer Prozesse, die Arithmetik der Gefühle und die Folgen brutaler sozialer Zwänge faszinierten den Schriftsteller. Das verband ihn mit seinem älteren Bruder William, einem der aufregendsten Philosophen der Jahrhundertwende und Begründer der amerikanischen Psychologie.
    Von Paris zog es Henry James nach London
    Nach zahlreichen mehrmonatigen Aufenthalten in Frankreich, England und Italien wurde Henry James 1875 Korrespondent der liberalen "New York Tribune" und ließ sich endgültig in Europa nieder, zunächst in Paris, ein Jahr später in London. Ähnlich wie sein sympathischer Blaustrumpf Maria Gostrey und der wackere Strether wurde James in Paris von der amerikanischen Kolonie aufgenommen, genoss die belebten Boulevards, Restaurants und Theater und schloss Freundschaft mit Kollegen wie Turgenjew, Zola und Flaubert. Während ihm im realen Leben die Vereinnahmung durch die Amerikaner nach wenigen Monaten allerdings unerträglich wurde und der Schriftsteller auch aus diesem Grund nach London floh, wo er auf der Suche nach Material für seine Romane tiefer in die sozialen Strukturen einzudringen hoffte, lässt er in der Fiktion seine Helden in der Pariser Aufgeschlossenheit schwelgen. Strether bemerkt schuldbewusst, dass er sich befreit fühlt - schließlich ist er dem kalten Pragmatismus seiner Verlobten Mrs. Newsome entronnen. In weitschweifigen Konversationen und Spekulationen über den Verbleib von Chad, der sich auf Reisen im Süden befindet, dehnt James geschickt die Erzählzeit. Es dauert geschlagene 150 Seiten, bis der Gesandte aus Woollett den Flüchtigen überhaupt zu Gesicht bekommt. Ausgerechnet in einer Theaterloge lässt Henry James ihn die Bühne des Romans betreten, und Strether erkennt den jungen Mann zunächst gar nicht wieder - so sehr hat er sich der verzogene Firmenerbe zu seinem Vorteil gewandelt.
    "Er war braun, massig und stark, und einst war Chad ungehobelt gewesen. Lag der ganze Unterschied also darin, dass er jetzt so geschliffen wirkte? Vielleicht; denn dieser Schliff war so markant wie der Geschmack einer Sauce oder der Druck einer Hand. Der Schliff schien umfassend - er hatte seine Züge retouchiert, in glatteren Linien gezeichnet. Er hatte seine Augen klarer gemacht, seinen Teint temperiert und seine schönen, ebenmäßigen Zähne poliert - die wesentliche Zierde seines Gesichts; und indem er ihm Gestalt und Façon, fast schon Kontur verlieh, hatte er gleichzeitig seiner Stimme ein Timbre eingehaucht, seinen Akzent gebildet, sein Lächeln zu freierem Spiel angespornt und seinen übrigen Gesten Zügel angelegt."
    Äußerlich anziehend und sittlich gereift, so erlebt Strether den jungen Wahl-Pariser - und ist geblendet. Tritt Strether anfangs entschieden auf und formuliert klar seine Erwartungen an den Sohn seiner Verlobten, verliert er nach und nach sein Ansinnen aus den Augen. Als er dann noch begreift, dass niemand anders als eine Frau diesen tiefen Wandel bewirkt hat und die Dame samt Tochter schließlich kennenlernt, ist es vollends um ihn geschehen. Die Enddreißigerin Mme de Vionnet ist, wie in nie versiegenden, von Michael Walter glänzend übersetzten und lexikalisch bewundernswert abwechslungsreich gestalteten Satzschleifen beschrieben wird, schlichtweg "wundervoll" - ein Ausbund an Charme, Güte, Bildung, absichtsloser Kultur. Einen Schönheitsfehler hat sie allerdings: Sie ist verheiratet. Immerhin unglücklich, aber es handelt sich um eine jener adligen Eheschließungen, die schon aus dynastischen Gründen nicht auflösbar sind. Aber selbst das ist Strether nach und nach gleichgültig. Chad nacheifernd, lässt ihn Henry James ebenfalls einen Reifungsprozess durchlaufen, der sich in Schüben vollzieht. Durch die auf Strether zugeschnittene Erzählperspektive, die dessen inneren Zustand immer wieder in allen Facetten ausleuchtet, ohne mit ihm zu verschmelzen, wird der Leser direkt Zeuge seines Wandels. Wie ein zu eng gewordenes Kleidungsstück wirft Strether die kleinherzigen Woolletter Überzeugungen über Bord, missachtet die schriller werdenden Briefe von Mrs. Newsome, erträgt den Kontrollbesuch von Chads Schwester und ergreift am Ende sogar für Chad Partei. Gegenüber dessen Freund, der sich als Künstler versucht, wagt er ein Geständnis:
    "'Vergessen Sie trotzdem nicht, dass Sie jung sind - mit Jugend gesegnet; im Gegenteil, freuen Sie sich dessen und leben Sie entsprechend. Leben Sie, so intensiv Sie können, alles andere ist ein Fehler. Was sie tun, spielt eigentlich keine so große Rolle, solange Sie Ihr eigenes Leben leben. Wenn Sie das nicht gehabt haben, was haben Sie dann überhaupt gehabt? Die Umgebung hier mit ihren Eindrücken - auch wenn Sie sie zu lau finden, um jemanden so aufzuwühlen; alle Eindrücke, die ich von Chad und seiner Umgebung empfangen habe - nun, sie haben mir ihre reiche Botschaft vermittelt, haben mir eben genau das offenbart. Ich erkenne es jetzt. Das habe ich vorher nicht genügend getan - und nun bin ich zu alt; zu alt jedenfalls für meine Einsicht. Oh, immerhin sehe ich jetzt, und mehr als sie glauben oder ich auszudrücken vermag. Es ist zu spät.'"
    Das verpasste Leben
    Hier klingt ein weiteres zentrales Motiv von Henry James an, das er in vielen Romanen variiert: das des verpassten Lebens. Gründe dafür können Zaghaftigkeit, emotionale Taubheit, aber auch wirtschaftliches Kalkül sein, wie in seinem groß angelegten Fresko "Die Flügel der Taube", in dem Berechnung schließlich jede tiefere Gefühlsregung verfälscht und Verstellung eine fatale Dynamik entwickelt. In seinem ausführlichen Nachwort, das in dieser Ausgabe zum ersten Mal auf Deutsch erscheint, erzählt der Autor, wie er 1895 über einen Freund von einem älteren Gentleman hörte, der einen jungen Mann vor der Gefahr des Verzichts warnte. Wie immer in solchen Fällen hielt James die Pointe in seinem Notizbuch fest und skizzierte schon einen möglichen Handlungsverlauf. "Goldkörner" nannte er an anderer Stelle derartiges Material. Dass James nach London übergesiedelt war, hing mit seinen voyeuristischen Bedürfnissen zusammen. Er wollte keinesfalls "am Felsen des Autobiographischen", wie er sich ausdrückte, zerbersten, sondern war beständig auf der Suche nach Stoff. Sein Terminkalender zeugte von einem regen Gesellschaftsleben. Ob Lunchs im Club, Abendessen, Diners oder Teeeinladungen, James nutzte jede Gelegenheit, um mit den alteingesessenen Vertretern der Upperclass ins Gespräch zu kommen. Besonders bei Damen war der Amerikaner, der für angelsächsische Verhältnisse stets eine Spur zu elegant gekleidet war, äußerst beliebt, vermutlich, weil er so wunderbar zuhören konnte. Diskret und dennoch voller Anteilnahme lauschte er dem neusten Tratsch über Seitensprünge, Erbschleichereien, verlorene Vermögen oder uneheliche Kinder. James führte penibel Buch und griff das Material mitunter Jahre später wieder auf, um es in komplett verfremdeter Form zu einem Roman umzuarbeiten. Ein rasanter Handlungsverlauf mit klassischen Wendepunkten interessierte ihn dabei gar nicht - ihm ging es um die Exploration von Innenwelten. So lässt er Strether eine tiefe Enttäuschung erleben, als dieser Mme de Vionnet und Chad bei einem Rendezvous auf dem Land erwischt und erkennen muss, dass deren Beziehung mitnichten nur platonischer Natur ist. Mme de Vionnet bittet ihn um einen Besuch.
    "'Darf ich fragen, so gern ich gekommen bin, ob Sie mir etwas Bestimmtes mitteilen wollten?' Er sagte es so, als hätte sie gemerkt, dass er darauf wartete - nicht etwa mit Unbehagen, sondern mit natürlichem Interesse. Dann sah er sie ein wenig verblüfft an, ja sogar erstaunt über das von ihr vernachlässigte Detail - das einzige bisher; denn sie hatte irgendwie angenommen, er werde schon wissen, er werde schon einsehen, werde schon manches unausgesprochen lassen. Sie schaute ihn jedoch einen Moment lang an, als wolle sie ihm gleichsam signalisieren, wenn er alles hören wolle -!
    'Egoistisch und ordinär - so muss ich Ihnen doch vorkommen. Sie haben alles für mich getan, und jetzt sieht es so aus, als verlangte ich noch mehr. Aber nicht etwa', fuhr sie fort 'weil ich Angst hätte - obwohl ich natürlich, wie jede Frau in meiner Lage, ständig Angst habe. Ich will damit sagen, man ist nicht egoistisch, weil man in entsetzlicher Angst lebt, nein, das ist nicht der Grund, denn ich bin bereit, Ihnen heute Abend mein Wort zu geben, dass es mir gleichgültig ist, was noch geschehen und was ich noch verlieren mag. Ich bitte Sie weder, noch einmal den kleinen Finger für mich zu rühren, noch möchte ich auch nur eine Silbe darüber verlieren, wovon wir bereits gesprochen haben, weder über meine Gefährdung noch über meine Sicherheit, noch seine Mutter, noch seine Schwester, noch das Mädchen, das er vielleicht heiratet, noch das Vermögen, das er gewinnen oder auch verlieren könnte, und auch nicht darüber, ob das, was er tut, recht oder unrecht ist.'"
    Feine Dialoge und innere Monologe
    Den Sitten entsprechend, sind sämtliche Beteiligte Meister des uneigentlichen Sprechens. Zwischen dem rhetorischen Aufwand, den sie treiben, und den relativ simpel zu durchschauenden Tatsachen - ein junger Mann löst sich aus den Fängen seiner Mutter - besteht ein starkes Gefälle, und gerade darin liegt die Qualität von Henry James' Prosa. In den "Gesandten" leuchtet er seine Figuren über fein ziselierte Dialoge und innere Monologe aus, die er so kunstvoll wie Pariser Fenstergitter gestaltet. Inspirierend wirkten die Theorien seines Bruders William, der nicht nur den Begriff des "stream of consciousness" prägte und die Vorläufigkeit aller Welterfahrung betonte, sondern auch das Ich als etwas Vielgestaltiges begriff. Der Wissenschaftler unterschied zwischen dem "I", dem Ich als Subjekt, und dem über sich selbst reflektierenden "me", dem Ich als Objekt. Beide zusammen ergeben nach seinem Modell das self. Das Ich, das war, ist nicht unbedingt identisch mit dem Ich, das sein wird, eine Erkenntnis, die Henry auf erzählerischer Ebene immer wieder ausschlachtete. Sein Bruder allerdings, mit dem er Zeit seines Lebens rivalisierte, hieß die Romane des Jüngeren nie gut, er fand sogar, Henry solle schlichter erzählen, direkter. Henry James tat unbeirrbar das Gegenteil, obwohl er über Jahre kaum mehr als zwanzig bis dreißig Exemplare seiner Bücher verkaufte. Zum Glück landete er dann und wann auch einen Erfolg. Er blieb besessen von den Möglichkeiten, mit Sprache die unzähligen Schattierungen der Psyche auszuloten. Ein letztes Mal sucht Strether seine Freundin Maria Gostrey auf.
    "'Sie wissen, es gibt nichts, was ich nicht für Sie täte.' 'O ja - ich weiß.' 'Nichts', wiederholte sie, 'auf der ganzen Welt.' 'Ich weiß. Ich weiß. Aber trotzdem, ich muss gehen.' Endlich fiel es ihm ein. 'Um im Recht zu bleiben.' 'Um im Recht zu bleiben?' Sie hatte es mit gelinder Missbilligung wiederholt, doch er spürte, es leuchtete ihr bereits ein. 'Das, sehen Sie, ist meine einzige Logik. Dass ich für mich selbst nichts gewonnen habe bei der ganzen Sache.' Sie überlegte. 'Aber mit Ihren wunderbaren Eindrücken werden Sie sehr viel gewonnen haben.' 'Sehr viel' - er stimmte zu. 'Aber nichts, was Ihnen vergleichbar wäre. Sie wären es, die mich ins Unrecht setzen würden!' Anständig und klug, wie sie war, konnte sie nicht lange so tun, als sähe sie es nicht ein. Trotzdem, ein bisschen konnte sie es schon. 'Aber warum müssen Sie immer so schrecklich im Recht sein?' 'Weil - wenn ich gehen muss -, Sie die Erste wären, die es von mir erwarten würde. Und ich kann nicht anders.'"
    So ist er eben, der gute Strether, loyal bis auf die Knochen, und das verklausulierte Angebot von Miss Gostrey, ihn mit durchzufüttern, kann er unmöglich annehmen. Henry James, unverkennbar homosexuell, auch wenn unklar ist, inwieweit er seine Neigungen jemals auslebte, übt sich hier in später Wiedergutmachung tatsächlicher Versäumnisse gegenüber Frauen, die auf ihn gesetzt hatten. Bereits als junger Mann ließ er seine Cousine, die quecksilbrige Minnie Temple im Stich. Nach 1880 war es dann die Freundin und langjährige Reisebegleiterin Constance Fenimore Woolson, die Großnichte des Lederstrumpf-Verfassers Fenimore Cooper, schriftstellerisch ungleich erfolgreicher als Henry und mit einem messerscharfen Verstand ausgestattet. Sie war es, die ihm riet, aus seinen Frauenfiguren Liebende zu machen, und sie ermöglichte ihm lange Aufenthalte in Italien. Tief enttäuscht von der Distanz, auf die Henry James immer wieder großen Wert legte, und zerrüttet von Depressionen, stürzte sich Constance 1894 aus dem Fenster ihrer venezianischen Wohnung; für James ein tiefer Einschnitt. Sein Held Strether entzieht sich dem Ansinnen der Pariser Freundin und kehrt zurück nach Amerika. "Die Gesandten" fächert Vermeidungsstrategien aufs Eleganteste auf. Auch Henry James stellte sich dem wirklichen Leben eher nicht. Lieber schrieb er wieder einen Roman, in dem das wirkliche Leben noch wirklicher erscheint als in der Realität.
    Henry James: "Die Gesandten"
    Übersetzt von Michael Walter. Carl Hanser Verlag München 2015. 700 Seiten. 39,90 Euro