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Buch der Woche
Liebe, Paare und Eskalationen

Ein Supermarktbesuch, der aus dem Ruder läuft, eine Eskalation am Bridge-Tisch: In ihrem neuen Roman "Glücklich die Glücklichen" lässt Yasmina Reza 18 Frauen und Männer in Monologen von ihren Beziehungen und ihrer Einsamkeit sprechen. Die französische Starautorin beobachtet sie dabei mit einem gesunden bösen Blick.

Von Gregor Dotzauer | 08.06.2014
    Die französische Autorin Yasmina Reza
    Die französische Autorin Yasmina Reza (dpa / pa / Peer Grimm)
    Was ihre Figuren nicht alles über die Liebe zu wissen meinen. "Jedes Paar ist ein unergründliches Rätsel. Es bleibt unbegreiflich, selbst wenn man ein Teil davon ist", sagt einer, der fast ein Leben lange Zeit gehabt hätte, Genaueres herauszufinden. "Glücklichsein ist Veranlagungssache", glaubt ein anderer: "Du kannst in der Liebe nicht glücklich sein, wenn du nicht zum Glücklichsein veranlagt bist." Und eine, die sich schon lange im Alleinsein eingerichtet hat, ist überzeugt: "Man sucht sich irgendein Gesicht aus, man schafft sich Rettungsbojen in der Zeit. Jeder möchte etwas zu erzählen haben." Im tiefsten Inneren rumort in ihnen allen aber etwas, dem sie nur niemals so Ausdruck verleihen würden wie der neurotische Vogel, der darüber Zuflucht bei einem Psychiater gesucht hat: "Wenn ich bei mir zu Hause bin, habe ich Angst davor, dass jemand vorbeikommen und sehen könnte, wie einsam ich bin."
    Die Weisheiten, in denen die Charaktere von Yasmina Rezas Romans "Glücklich die Glücklichen" ihre Erfahrungen zusammenfassen, sind größtenteils trivial. Ganz und gar nicht trivial ist hingegen die Schärfe, mit der die französische Autorin sie bei der Verfertigung ihrer Allerweltsgedanken beobachtet. Dabei erhebt sie sich in ihrem szenischen Reigen nur ein winziges Stück über die 18 Männer und Frauen, die hier quer durch die Lebensalter Kapitel um Kapitel Monologe halten. Die meisten sind klug genug, zu sehen, wie sie selbst in ihren Routinen, ihrem Hickhack und ihren Ausbruchsträumen zappeln. Es hilft ihnen nur nichts.
    Feines Gespür der Autorin
    Yasmina Reza, als einzige mit der Fähigkeit zur Gesamtschau ausgestattet, hat ein feines Gespür für die Mechanik zwischenmenschlicher Verletzungen, die Glanzlosigkeit von Betrug und Selbstbetrug und die Stabilität angeknackster Beziehungen. Und: Sie hat einen gesunden bösen Blick, der die Voraussetzung ihrer Komik bildet. Patrick Grainville hat Yasmina Reza im "Figaro" einen Samuel Beckett mit Lockenwicklern genannt. Sie könnte aber auch gut als Henrik Ibsen auf Lachgas durchgehen oder als Ingmar Bergman in der manischen Phase. Denn in ihren Seelenhöllen ist sozusagen der Springteufel los: Irgendwo rastet immer einer aus.
    Zum Beispiel Raoul Barnèche. Mit seiner Frau Hélène hat er, ein echter Spieler vor dem Herrn, vor Jahren schon einmal das Bridge-Turnier in Juan-les-Pins absolviert. Er weiß, dass es, erwischt von ihrer "kleinen Nachtmusik der weiblichen Gefühle", ein Fehler ist, daran erneut teilzunehmen. Denn Frauen, hat er lernen müssen, verlieren auf der Langstrecke schnell die Konzentration. Genau das passiert auch. Wenn der Bridge-Laie das Fatale der folgenden Situation nicht ganz versteht, macht das gar nichts. Der Witz, mit dem hier ein akutes Zerwürfnis mit einer tiefer liegenden Zuneigung kollidiert, wird dadurch womöglich noch größer. Mit Sieg oder Niederlage steht eine Ehe auf dem Spiel.
    "Bei der Hand 17 ereignete sich das Drama. Pik-Fünf von Nord-Süd gespielt. Ich spiele die Karo-Zwei aus, klein vom Dummy, Ass von Hélène, klein. Hélène zieht ihr Treff-Ass, Nord legt klein, ich habe drei Treff zum König und lege die Neun, klein vom Dummy. Was macht Hélène? Was macht eine Frau, der ich alles beigebracht haben, und die man inzwischen als Pik-Spielerin einstufen kann? Sie spielt Karo zurück. Ich habe die Treff-Neun gelegt, und Hélène spielt mir Karo zurück! Wir hatten drei Topstiche und haben nur zwei gemacht. Am Ende der Partie zeigte ich meinen Treff-König und schrie, wo soll ich den jetzt hintun? Soll ich ihn auffressen? Willst du mich umbringen, Hélène? Soll ich hier mitten im Kongresszentrum einen Herzanfall kriegen? Ich wedelte ihr mit der Karte vor der Nase herum und stopfte sie mir dann ins Maul. Ich fing an, zu kauen und brachte noch heraus, hast du meine Treff-Neun nicht gesehen, du Idiotin, glaubst du, ich spiele die Neun zum Spaß? Hélène war erstarrt. Die Gegner waren erstarrt. Das setzte mich erst recht unter Strom. Wenn man Pappe isst, wird einem ziemlich schnell schlecht, aber ich legte los, was die Kiefer hergaben, und konzentrierte mich aufs Kauen."
    Das Ganze endet damit, dass Raoul quer über den Spieltisch reihert, das Bewusstsein verliert und erst im Hotelzimmer wieder erwacht. Vorerst. Denn bald karten die beiden auf offener Straße so laut nach, dass die Leute stehenbleiben. Bis Raoul von einer plötzlichen Zärtlichkeitsaufwallung gepackt wird, die ihn wieder ganz zahm macht. Sogar ins verhasste Museum würde er mit der Frau seines Lebens jetzt gehen, und auch die Aussicht, dass um 16 Uhr das Kasino öffnet, stimmt ihn friedlich. Das Stoßmich-Ziehdich-Verhältnis kommt für einen Moment ins Lot.
    Miteinander leben und aneinander vorbei
    Robert und Odile Toscano sind ähnlich gestrickt, nur in ihren Fluchtbemühungen schon fortgeschritten. Er erwägt ein Abenteuer mit der Sprechstundenhilfe Virginie Déruelle, die sich ihrerseits für einen komponierenden Pianisten namens Vincent Zawada interessiert. Sie dagegen hat sich in Gestalt von Rémi Grobe schon einen Gelegenheitsliebhaber genommen, der seinerseits ein Verhältnis mit der Schauspielerin Loula Moreno hat. So leben sie teils miteinander und doch aneinander vorbei, und das Bestechende ist, dass man ihre Geschicke immer auch aus der Gegenperspektive, in anderem Licht, mit neuem Akzent erfährt; in Geschichten, die mal stärker, mal schwächer miteinander korrespondieren und auch jenseits der 18 Sprecher durch einen festen Personenstamm verbunden sind.
    Gehen oder bleiben ist dabei für die meisten keine Frage. Denn weder in ihren Ehen noch in ihren Affären sind sie konsequent. "Ich will Rémi für mich behalten", sagt Odile Toscano. "Rémi rettet mich vor Robert, vor der verstreichenden Zeit und vor allen Arten von Melancholie." Rémi aber will nicht der große Retter sein. Er sieht sie regelmäßig in ihren löchrigen Kinder- und Familienkokon zurückkehren, weshalb er noch während eines Rendezvous mit ihr vorbaut und per SMS Loula anfunkt. Denn Loula "ist schön, sie ist witzig, sie ist verzweifelt. Genau, was ich jetzt brauche." Bequemlichkeit und Ausbruchswille halten sich die Waage, und so verharren sie in einem ewigen Dazwischen, das ständig neue Reibereien heraufbeschwört.
    Aus dem Ruder laufender Supermarktbesuch
    Ein Glanzstück, in dem Yasmina Rezas handfest betriebene Psychologie geradewegs ins Handgreifliche umschlägt, ist Roberts und Odiles aus dem Ruder laufender Supermarktbesuch. Sie will in der Käsethekenschlange ein Stück Morbier zurückgeben, das er zu ihrem Ärger eingekauft hat; er versucht, von ihr die Autoschlüssel zu ergattern, um schleunigst nach Hause zu kommen.
    "Gib sie bitte her. Odile lächelt. Sie keilt die Schultertasche zwischen ihren Körper und die Käsevitrine. Ich trete näher, um an der Handtasche zu ziehen. Ich ziehe. Odile leistet Widerstand. Ich ziehe am Riemen. Sie krallt sich daran fest und hält dagegen. Es macht ihr Spaß! Ich packe die Handtasche am Boden, in einem anderen Kontext hätte ich keine Mühe, ihr die Handtasche zu entreißen. Sie lacht. Sie klammert sich fest. Sie sagt, sagst du nicht drei? Warum sagst du nicht drei? Sie nervt mich. Und dass diese Schlüssel in der Handtasche sind, nervt mich auch. Aber ich mag es, wenn Odile so ist. Und ich sehe sie gern lachen. Ich bin haarscharf davor, mich zu entspannen und dem neckischen Spiel zu verfallen, als ich ganz in der Nähe ein Glucksen vernehme, und ich sehe die Frau mit Filzhut, wie sie, ganz trunken vor weiblichem Einverständnis, mir offen ins Gesicht lacht, völlig schamlos. Mir bleibt keine Wahl. Ich werde brutal. Ich presse Odile gegen das Plexiglas und versuche, mir einen Weg in die Handtasche zu bahnen, sie wehrt sich, beschwert sich, ich täte ihr weh, ich sage, gib jetzt diese Schlüssel her, verdammte Scheiße, sie sagt, du spinnst ja, ich entreiße ihr den Morbier und schmeiße ihn in den Gang, schließlich ertaste ich die Schlüssel in dem Handtaschenchaos, angle sie heraus, schüttele sie vor ihren Augen und lasse Odile dabei nicht los, ich sage, wir hauen hier sofort ab. Die Frau mit dem Hut schaut jetzt entsetzt drein, ich sage zu ihr, du lachst ja gar nicht mehr, was ist? Ich zerre Odile und den Einkaufswagen, ich manövriere sie an den Verkaufsständen vorbei und zu den Kassen am Ausgang, ich halte ihr Handgelenk fest gepackt, obwohl sie sich gar nicht mehr wehrt, eine Unterwürfigkeit, die nichts Unschuldiges an sich hat, mir wäre lieber, ich müsste sie rauszerren, am Ende muss ich es immer teuer bezahlen, wenn sie ihr Märtyrerkostüm anlegt."
    Stillere Kämpfe
    Neben dem offenen Geschlechterkrieg versteht sich Yasmina Reza aber auch auf stillere Kämpfe wie den von Hélène Barnèche, der Frau des Spielers. Im Pariser Bus begegnet sie nach 30 Jahren Funkstille ihrem Liebhaber Igor Lorrain, damals Medizinstudent, heute Psychiater. "Ein verbrauchter alter Schönling" sitzt vor ihr, dessen Körperrhythmus ihr fremd geworden ist. Doch zugleich fährt ihr sofort wieder in die Glieder, wie tyrannisch er sie einst bewachte, maßregelte und regierte, wohingegen ihr Raoul, mit dem sie bereits verheiratet war, eine Freiheit ließ, die sie gar nicht wollte. Die Schläge fallen ihr ein, mit denen Igor sie traktierte und die sie nach Kräften zurückgab, bevor sie sich anschließend im Bett gegenseitig trösteten. Und während sie noch an den zumeist sanften, liebevollen Raoul denken muss, von dem sie weiß, dass er sich mit ihr langweilt, läuft sie mit Igor auf einmal Hand in Hand über den Boulevard Raspail: eine Frau, die nur kurz vergessen hat, dass manche Wünsche einfach nicht vergehen wollen.
    Yasmina Reza ist in "Glücklich die Glücklichen" ganz in ihrem theatralischen Element. Sie war Schauspielerin, bevor sie 1994 mit dem Dreipersonenstück "Kunst" zur meistgespielten Theaterautorin der Welt wurde und mit der Wohnzimmerfarce "Der Gott des Gemetzels", die Roman Polanski nach ihrem Drehbuch verfilmte, auch das Kino eroberte. Unter ihren drei Prosaarbeiten, die als Roman firmieren, ist "Glücklich die Glücklichen" die bisher umfangreichste. Doch so leicht man auch dieses Buch und seine Redegewitter für die Bühne aufbereiten könnte, so weit greift es, ohne die Beschreibungskulissen des realistischen Romans zu errichten, vom dramatischen Augenblick in Zeiten und Erinnerungsräume aus, die sorgfältig gelesen werden wollen. Das Theatralische ihrer Prosa entsteht vor allem aus der Revue theatralischer Figuren.
    Sie platzen fast vor Rededrang, und in ihrer Exaltiertheit haben sie wenig zu verschweigen - außer jene Abgründe, an die sie nicht heranreichen. Hysteriker sind sie oder, heutigem Sprachgebrauch zufolge, histrionische Persönlichkeiten, wie sie die Internationale statistische Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation WHO definiert. Dramatische Selbstdarstellung, theatralisches Auftreten oder übertriebenen Ausdruck von Gefühlen, leichte Beeinflussbarkeit durch Andere und labile Affekte - das sind einige Kriterien. Weiterhin suchen sie ständig nach aufregenden Erlebnissen, in denen sie im Mittelpunkt stehen, und fallen durch unangemessen verführerisches Erscheinen auf. Freilaufende Klein- und Großbürger, die nur nicht hospitalisiert werden, weil sie ihr Gestörtsein anders als der 19-jährige Jacob Hutner, der vielleicht als einziger mit sich zufrieden ist, halbwegs sozialverträglich ausleben. Der Preis dafür ist hoch: Er hält sich, wie seine Mutter Pascaline berichtet, für die Sängerin Céline Dion.
    "Körperlich ist er normal geblieben, er imitiert keine Frau. Das sitzt viel tiefer als eine Imitation. Lionel und ich haben schließlich angefangen, ihn Céline zu nennen. Und unter uns kann es auch vorkommen, dass wir von 'ihr' sprechen. Dr. Igor Lorrain, der Psychiater, der sich in der Klinik um ihn kümmert, sagt, er sei nicht unglücklich, außer wenn er Nachrichten schaut. Er ist ganz besessen davon, wie willkürlich sein Glück und sein privilegierter Status sind. Die Krankenschwestern überlegen schon, ihm den Fernseher wegzunehmen, weil er bei sämtlichen Abendnachrichten weint, sogar wenn irgendwo der Hagel eine Ernte vernichtet. Den Psychiater besorgt noch ein anderer Aspekt seines Verhaltens. Jacob geht ins Foyer hinunter und signiert Autogramme. Er schlingt sich mehrere Schals um den Hals, um sich nicht zu erkälten, die Welttournee verpflichtet, witzelt der Arzt (ich mag diesen Arzt nicht besonders), und dann postiert sich Jacob vor der Drehtür, überzeugt, dass die Leute, die die Klinik betreten, kilometerweit gefahren sind, um ihn zu sehen."
    Lust an Übertreibung
    Yasmina Rezas Übertreibungslust kennt kaum Grenzen. Sie bleibt aber nicht beim Skurrilen und Liebenswerten stehen. Dem einen ist der Tochter gegenüber die Hand mit der Hundeleine ausgerutscht, ohne dass er es bedauern würde. Der andere, dem Krebstod gerade noch einmal von der Schippe gesprungen, liest im Krankenhaus Raul Hilbergs Studie über die Vernichtung der Juden, um sich an noch größeren Katastrophen aufzurichten. Und sein Arzt Philip Chemla, Jude wie er, ein Mann, der im Beruf nichts als Kompetenz und Humanität ausstrahlt, ergeht sich nachts in bizarren Begegnungen. An die Stelle der sexuellen Zärtlichkeiten, die er als Kind mit seinem Bruder ausgetauscht hat, sind Ausflüge in den Bois de Boulogne und andere Stricherorte getreten.
    "Zwischen all den anderen Imperativen, leck mich, schlag mich, küss mich, steck mir deine Zunge rein (viele tun das nicht), kann man sich 'tröste mich' nicht vorstellen. Was ich wirklich will, kann ich nicht äußern. Ins Gesicht geschlagen werden, mein Gesicht den Schlägen hinhalten, meine Lippen, meine Zähne, meine Augen darbieten und dann ganz plötzlich liebkost werden, wenn ich es nicht erwarte, und dann wieder geschlagen werden, im richtigen Rhythmus, im richtigen Maß, und nachdem ich gekommen bin, in die Arme genommen und mit Küssen bedeckt werden. Diese Vollkommenheit gibt es, außer vielleicht in der Liebe, die ich eben nicht kenne. Seit ich bezahle und Ansagen mache, bin ich unabhängig. Ich tue das, was ich im realen Leben nicht zu erreichen weiß: Ich gehe auf die Knie, ich liefere mich aus. Ich bohre meine Knie in die Erde. Ich begebe mich in die totale Unterwerfung. Das Geld verbindet uns wie jede beliebige andere Bindung."
    Yasmina Reza ist in Frankreich auf privaten Bühnen groß geworden. Nur in Deutschland hat sie ihren Weg über die öffentlichen Theater gemacht. Für das spezifische Gewicht ihrer Arbeit bedeutet diese Unterscheidung rechts des Rheines mehr als links davon, wo das Leichte und das Schwere besser miteinander auszukommen scheinen. Und doch lohnt sich die Frage, in welchen literarischen Regionen ihre Texte angesiedelt sind.
    "Glücklich die Glücklichen" zitiert in Titel und Motto "Fragmente aus einem apokryphen Evangelium", ein Gedicht des Argentiniers Jorge Luis Borges, der es wiederum dem Matthäus-Evangelium entlehnt hat. Cesare Paveses bewegendes Tagebuch "Das Handwerk des Lebens" wird zitiert. Samuel Becketts "Glückliche Tage" spuken durch die Seiten, und Philip Chemla liest Rilkes "Duineser Elegien". Die Signale gelten also dem Höchsten. Dass Yasmina Reza dabei in den Niederungen von Paarbeziehungen herumstochert, spricht nicht gegen ihren literarischen Ehrgeiz – und ihr komisches Talent schon gar nicht gegen die Radikalität des Unternehmens. Gerade der Panoramablick auf die Liebesgehege des großen bunten Menschenzoos führt aber auch zu einem großen einverständigen Seufzen, das die Bitternis der Einzelfälle wieder aufhebt: Ach, sind wir nicht alle Liebesversehrte!
    Querschnitt durch die Generationen
    Zum ersten Mal hat Reza, die bisher fast ausschließlich ältere Figuren schuf, um nur ja nicht in die Verlegenheit zu kommen, sie selbst einmal spielen zu müssen, hier einen Querschnitt durch die Generationen gewagt. So hampeln sie alle in ihren kleinen und größeren Leben herum. Sie rebellieren mal mehr, mal weniger gegen die Einsamkeiten, die sie in ihrem jeweiligen Alter erfahren, und der Leser mag sich ertappt fühlen in seinen eigenen Verhaltensweisen. In der Summe gelangt aber auch er selbst nur zu den billigen Erkenntnissen, mit denen sich Rezas Figuren trösten. "Frauen fliegen auf fürchterliche Männer, weil fürchterliche Männer immer Maske tragen", sagt eine, die 48 Jahre an der Seite eines verlogenen, besitzergreifenden Mannes verbracht hat. Und einer, der nicht grundlos verlassen worden ist, erklärt: "Frauen nehmen sich keinen Geliebten. Sie verlieben sich, sie fantasieren sich einen Film zusammen. Sie werden komplett verrückt. Ein Mann braucht einen sicheren Ort, um der Welt gegenübertreten zu können."
    Das alles ist irrwitzig virtuos gemacht - im Spannungsfeld von überzeugend simulierter Natürlichkeit der Monologe und sichtlicher Künstlichkeit der Konstruktion. Reza hat sich dabei nach eigener Auskunft von Fernsehserien inspirieren lassen, in deren Episoden die Figuren abwechselnd in den Vordergrund rücken. Die Komik dieses sorgfältig gedrechselten Pointenwunders entsteht dabei meistens aus zwei oder drei motivischen Einfällen, die solange verquirlt werden, bis sich die Figuren in ihrem eigenen Textgewebe eingesponnen haben. Hinreißend amüsant auch, welche Störfaktoren dabei zum Einsatz kommen.
    Wenn Paola Suares, die Geliebte von Luc Condamine, darauf besteht, endlich einmal die Wohnung des verheirateten Familienvaters kennenzulernen, kommt auf jeden Moment ostentativ gespielter sexueller Enthemmung ein Moment grausamer Ernüchterung. Hier steht ein Kinderbuggy, dort ein Familienfoto, und wie geschmacklos ist erst die Einrichtung! Yasmina Reza setzt solche Brüche mit sicherer Hand, und nirgends sind sie so deutlich als Stilmittel zu erkennen wie in der nächtlichen Szene zwischen Odile und Robert, wo sie verzweifelt einen Krimi zu Ende will, wovon sie nur ein müder Gatte abhält.
    "Robert sagt, seit drei Nächten kann ich nicht schlafen, soll ich krepieren? Ich hebe den Blick nicht von meinem Buch und sage, nimm doch eine Rohypnol. - Ich nehme diese Scheiße nicht. - Dann jammer nicht rum. - Ich bin müde, Odile ... Mach das Licht aus. Mach's aus, verdammt. Er rollt sich unter der Decke zusammen. Ich versuche, zu lesen. Ich frage mich, ob das Wort 'müde' aus Roberts Mund nicht mehr als alles andere zu unserer Entfremdung beigetragen hat. Ich weigere mich, ihm eine existentielle Bedeutung beizumessen. Von einem Helden der Literatur nimmt man es hin, dass er sich in das Reich der Schatten zurückzieht, aber nicht von einem Ehemann, mit dem man das häusliche Leben teilt. Robert schaltet seine Lampe wieder ein, wurschtelt sich unverhältnismäßig heftig aus der Decke und setzt sich auf den Bettrand. Ohne sich umzudrehen, sagt er, ich gehe ins Hotel. Ich schweige. Er rührt sich nicht. Ich lese zum siebten Mal 'Im Tageslicht' das noch durch die verwitterten Fensterläden drang, erblickte Gaylor den Hund unter dem zerlöcherten Stuhl, die abgestoßene Emaille des Waschbeckens. Von der gegenüberliegenden Wand schaute ihn ein Mann traurig an. Gaylor näherte sich dem Spiegel ... 'Wer ist dieser Gaylor noch mal? Robert sitzt vornübergebeugt da, mit dem Rücken zu mir. In dieser Haltung tönt er, was hab ich getan, hab ich zuviel geredet? Bin ich aggressiv? Trinke ich zuviel? Hab ich ein Doppelkinn? Na los, spul deine Litanei ab. Was war's heute Abend?"
    Das Hochartistische dieser Prosa mag dazu beitragen, dass einem niemand in diesem Buch wirklich ans Herz wächst. Ein entscheidender Grund, weshalb sie darüber aber nicht hinauswachsen kann, liegt darin, dass die Figuren von "Glücklich die Glücklichen" fast ausschließlich in ihren individuellen Konflikten erscheinen. Als ehemaliger Vorstandsvorsitzender, Politiker, Schauspielerin und Sprechstundenhilfe kommen sie aus durchaus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen, doch nichts davon scheint sie in ihren Rollen festzulegen und den Erwartungen, die sich an sie richten. Yasmina Reza hat erklärt, dass sie sich für wirtschaftliche und politische Belange nicht zuständig fühle. Das ist ihr gutes Recht. Es führt aber auch in die Irre, die sehr französischen Wirren, von denen sie erzählt, als anthropologische Konstante zu betrachten.