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Buch der Woche
Musik reimt anders als Gedichte

In "Das Regenmobil", dem neuen Buch des US-Schriftstellers Nicholson Baker, macht ein alternder Autor sich auf, in der Musik nach Möglichkeiten zur Erneuerung seiner Dichtung zu suchen. Dabei geht es auch um Spannungen zwischen Alltag und Kunst, zwischen Privatem und Öffentlichem. Aber all das ist mit leichter Hand geschrieben und kann genauso auch gelesen werden.

Von Michael Schmitt | 20.03.2016
    Buchhandlung
    Bücher in einem Regal (picture alliance / dpa / Foto: Ralf Hirschberger)
    Einige Tage nach den Anschlägen vom 13. November 2015 in Paris porträtierte die "Süddeutsche Zeitung" in ihrem Regionalteil den 27-jährigen Alex Diehl, der noch in der Nacht der Attentate seine Trauer und seine Ratlosigkeit innerhalb von einer Viertelstunde in ein Lied gepackt, es mit dem Handy aufgenommen und dann ins Netz gestellt hatte – und dem umgehend Tausende zuhörten, obwohl er nur einfache Worte und schlichte Gitarrenakkorde eingesetzt hatte, um seinem Innersten Ausdruck zu geben. Ist das, nach bekanntem Muster, bloß eine Geschichte mehr über die wunderbaren Möglichkeiten der neuen Kommunikationswelt? Oft gehört, vielleicht sogar ein bisschen nervend, so wie all die Solidaritäts-T-Shirts und -Logos, die mittlerweile nach vergleichbaren Gräueln an jeder Straßenecke auftauchen? Wie auch immer: Dieser Mann ist nicht allein.
    In dem neuen Roman von Nicholson Baker, 2013 in den USA erschienen und jetzt von Eike Schönfeld unter dem Titel "Das Regenmobil" ins Deutsche übertragen, sitzt ein Mann in einer Scheune, der über Songs genauso wie über Lyrik nachdenkt. Über Protestlieder gegen mörderische amerikanische Drohneneinsätze, aber auch über Liebeslieder, die nur eine einzige Adressatin haben, nämlich seine Ex-Freundin. Eigentlich sollte dieser Mann an einem Lyrik-Band arbeiten, stattdessen besorgt er sich eine billige Gitarre und erkundet die Unterschiede zwischen Gedichten und Songs. Dieser Mann ist nicht mehr jung, aber zu jedem künstlerischen Abenteuer bereit. Als er mit der Gitarre nicht recht vorankommt, entdeckt er das weite Feld der Arrangements mittels Computer und Software für sich. Aus der Scheune wird ein kleines Studio, und damit stehen ihm unzählige vorprogrammierte Mittel zum Experimentieren zur Verfügung. Und mit der Fülle von herbeizitierten Klängen dehnt sich zugleich der Resonanzraum des Romans, es geht um Stimme, Schrift und um die Notation von Musik, es geht um Dance-Beat und um Debussy, um den CIA und traditionelle amerikanische Tugenden, um YouTube-Videos und um Reime. Dieser neue Roman von Nicholson Baker hat eine Schrift- und eine Tonspur könnte man sagen – wer will, kann Letzteres parallel zur Lektüre bei YouTube oder iTunes nachhören.
    Ein nur mäßig erfolgreicher Lyriker
    Entscheidend dabei ist: Es geht ständig um all das gleichzeitig, und dennoch ist das ein Roman, der mit leichter Hand geschrieben worden ist und genauso auch gelesen werden kann. Die Neugier, die der Motor dieses Buches ist, gilt der Suche nach eindringlichem Ausdruck. Im Mittelpunkt steht kein hipper Visionär und kein Nerd, sondern ein alternder, etwas schrulliger Einzelgänger, dem seine angestammte Kunst zumindest vorübergehend nicht mehr genügt, der Traditionen schätzt, aber Neuerungen gerne ausprobiert. Der Mann heißt Paul Chowder und ist ein mäßig erfolgreicher Lyriker, dem der bevorstehende fünfundfünfzigste Geburtstag schwer zu schaffen macht. Leser von Nicholson Baker-Leser kennen ihn aus dem 2008 erschienenen Roman "Der Anthologist", einer weit ausholenden, aber nie gelehrt daherkommenden Expedition in das Reich der gereimten Lyrik, die Paul Chowder allen modernistischen Neuerungen vorzieht. In dem früheren Roman hat er an einer Anthologie gearbeitet, die seine Thesen belegen sollte. Seither ist es für ihn nicht ganz schlecht gelaufen: Das Buch "Reim allein" hat sich zu einem bescheidenen Erfolg entwickelt und wird manchmal sogar in Stapeln von Universitäts-Bibliotheken angekauft; er selbst wird zu gut dotierten Podiumsdiskussionen eingeladen, und sein Lektor hat Geduld mit ihm, wenn es mit dem geplanten neuen Lyrik-Buch nicht vorangeht. Dessen trübseliger Arbeitstitel, "Kummermütze", ist allerdings nicht nach dem Geschmack des Verlages, und Chowder selbst fühlt sich damit auch nicht wohl. Also weicht er vom eingeschlagenen Weg ab, stellt fest, dass "Musik anders reimt als Gedichte", und stürzt sich auf die gesungene Sprache. Zu Hilfe kommt ihm dabei, dass er in seiner Jugend einige Jahre lang Fagott gespielt hat.
    Über Umwege und Abschweifungen zum zentralen Punkt
    "Vor fünfunddreißig Jahren, da war ich zwanzig, habe ich mein Heckel-Fagott verkauft. Das war’s dann. Jetzt soll ich einen neuen Gedichtband schreiben, den ich 'Kummermütze' nenne. Ich will nicht daran arbeiten. Heute habe ich zur Anregung in ein extrem langes Gedicht von Samuel Rogers namens 'Human Life' reingeschaut, weil mir der Titel gefiel. Es hat mir nicht besonders viel gebracht, aber mir ist wieder eingefallen, dass Samuel Rogers mit Tennyson und Coleridge befreundet war, und deswegen habe ich dann auch meine alte Tennyson-Ausgabe hervorgeholt und mir sein extrem langes Gedicht 'Maud' angesehen, erzählt von einem weitschweifigen Gestörten. Tennyson war, als er 'Maud' schrieb, sehr krank, wenn nicht klinisch verrückt, und einiges davon ist unlesbar. Aber eine sehr hübsche, hochfliegende Stelle gibt es, an die erinnert sich jeder. Sie beginnt so: 'Komm in den Garten, Maud, / denn Nacht, die schwarze Fledermaus, ist los.' Da hat Tennyson uns erwischt. Die Nacht ist eine schwarze Fledermaus. Wie aufregend und unviktorianisch ist das denn? In derselben Passage ist die Rede von einer ungewöhnlichen Kammermusikgruppe, die anscheinend die ganze Nacht den Rosen ein Ständchen gebracht hat – eine Flöte, eine Geige und ein bassoon – ein Fagott eben. Es ist ein Fagott, nicht weil Tennyson Ahnung vom Fagott gehabt hätte, sondern weil er ein ausdrucksstarkes Wort brauchte, das sich auf tune und moon reimt."
    Paul Chowder ist nach wie vor ein souveräner Kenner der Lyrik und wird ihr, aller musikalischen Ambitionen ungeachtet, die Treue halten. Er ist zugleich ein Virtuose der Umwege und Abschweifungen: Einer der sich scheinbar auf seinen Wegen verliert, aber immer wieder zurückfindet zu dem zentralen Punkt seiner Interessen, sicher könnte man auch sagen: seiner Besessenheiten. Wie einen Kundschafter schickt Nicholson Baker ihn auf unbekanntes Terrain, als Stellvertreter, wohl auch als Alter Ego. Denn so wie die Essays, die Baker mit schöner Regelmäßigkeit zu weit gestreuten Themen veröffentlicht, sind auch seine Romane ein Versuch, "die Wildnis der Welt durch Neugier zu ordnen", wie Baker es 2004 in einem kurzen Text mit dem Titel "Mähen" ausgedrückt hat.
    Von Gedichten und Protestsongs
    Paul Chowders "Wildnis" wird vor allem von drei Themen bestimmt. Von seinem Zorn auf den CIA und die US-amerikanische Kriegspolitik, von der ungebrochenen Liebe zu seiner Verflossenen, die mittlerweile mit einem gesundheitspolitisch engagierten Arzt zusammen lebt, und von seinem zeitweise ausufernden Versuch, das Geheimnis des Zigarrenrauchens zu erkunden. Vergeblich arbeitet er an einem Langgedicht über einen der frühen führenden Propagandisten des CIA, über den Dichter Archibald MacLeish, kommt damit jedoch nicht voran. Also probiert er es mit dem Schreiben und Arrangieren von Protestsongs in der besten Tradition amerikanischer Singer/Songwriter und wird darin von einem Freund bestärkt, der als wahrer "Aktivist" kaum eine Kundgebung auslässt. Aber Paul Chowder ist ein zu skrupulöser Künstler, um damit wirklich zufrieden zu sein:
    "Tim sagte, es gebe keinen guten Anti-Drohnen-Song. Ich überlegte, ob ich versuchen sollte, einen aus der Sicht des Präsidenten zu schreiben. Ich würde Präsident Obama ungefähr Folgendes singen lassen: 'Heute ist Dienstag, und ich bin der oberste Krieger. Meine Leute kommen ins Büro, und wir gehen die Liste durch. Ich möchte wissen, wer als Nächster sterben soll. Und ich möchte, dass die Welt weiß, dass ich ein sachlicher Killer bin, der uns mit Roboterflugzeugen Sicherheit gibt. Hinterher möchte ich rausgehen und eine rauchen, in dem Wissen, dass ich entschieden habe, welchen meiner Feinde ich töten soll. Manchmal werden dabei auch kleine Kinder getötet, und das tut mir leid, aber so was passiert eben, und ich kann das nicht kommentieren, weil es eine geheime Sicherheitsinformation ist. Heute ist Dienstag, und ich bin der oberste Krieger.' Aber ich weiß, das gäbe einen fürchterlichen Song ab – zu platt. Zu hart. Zu wütend. Zu wenig Beschwernis. Wir brauchen keine Beschwerden, sondern Beschwernisse, sagte Robert Frost."
    Ein Anteil nehmender Umgang mit der Welt
    Will sagen: Kunst ist mehr als Wut, Beschwerden sind weniger als Beschwernis, also als beharrliche Reflexion. Und Amerika ist mehr als das Land von Drohnenkrieg und Waffenexporteuren. Ein politisches Lied, ein politisches Gedicht genauso wie mancher gut gemeinte Blog können Chowder nicht überzeugen. Was er stattdessen den monströsen Aspekten seiner Heimat entgegenstellt, ist zum einen die literarische Tradition, in der er sich zuhause fühlt; es ist aber auch sein Sinn für eine altmodische Findigkeit, für eine handwerkliche Fertigkeit und Tüftelei, die er als uramerikanische Tugend betrachtet und die er selbst als Lyriker im Umgang mit der Sprache pflegt. Was im Gedicht der Reim ist, verkörpern andernorts technische Errungenschaften aus älteren oder neueren Tagen. Das Regenmobil zum Beispiel, das dem Roman seinen Titel gibt – ein technisch überholtes, aber vor Jahrzehnten raffiniert ersonnenes selbstfahrendes Bewässerungsgerät für den Hausgarten. Chowder besitzt gleich zwei davon und setzt sie mit Entzücken nicht nur im eigenen Garten ein. Er stimmt jedoch kein billiges, sentimentales Loblied auf die "guten, alten Dinge" an, sondern entscheidet sich damit für die Art von sorgfältigem und Anteil nehmendem Umgang mit der Welt, die Art von sorgfältigem und Anteil nehmendem Umgang mit der Welt, die er im Verlauf des Romans auch mit seiner Musiksoftware ausprobieren wird.
    "Mit dem Steinway Hall Piano nahm ich eine Harmonie auf – anscheinend komme ich immer wieder auf das Steinway zurück –, tat dann ein paar klickernde, klimpernde Rhythmen von dem indischen und nahöstlichen Drumkit und ein wenig Gitarre dazu und experimentierte dann mit gesampelten klassischen Männerstimmen, die ah und oh sangen, und legte die Eierschneidertöne darüber. Ich bereitete wohl eine Art Klangsalat. Aber dann passte der Eierschneider nicht gut dazu, und ich schaltete ihn stumm. Der Besen kam ziemlich gut, mit einer Art Doppelbumm, der Eierschneider dagegen war enttäuschend. Nirgendwo in Logic fand ich Klatschsamples – obwohl ich sicher bin, dass es irgendwo welche gibt –, also nahm ich selbst welche auf und sah mir auf einem YouTube-Video an, wie man ein einzelnes, unzulängliches Klatschen aufnimmt, es verdoppelt und dann die Klatscher herumschiebt, sodass sie echter wirken, indem man auf dem Stereo-Center eine Klatschspur nach links und eine nach rechts zieht. Ich spielte ab, was ich bis dahin hatte, und fand, dass ich die Anfänge eines Songs beisammen hatte. Jetzt fehlten nur noch Melodie und Text. Ich richtete eine 'Male Ambient Lead'-Gesangsspur ein. Meine untermotorisierte Stimme wurde in den Kopfhörern riesig. Mit meiner mächtigen Stereostimme sang ich nun zu dem Loop. Erst sang ich ohne Worte: ba-dudel dudel dudel duh, dot dudel duh. Dann sang ich: 'Warten, dass die Zeit bald kommt, warten, dass die Zeit bald kommt, warten, dass die Zeit bald kommt.' Da war er, der Anfang eines Songs, und es hatte nur vier Stunden gedauert. Vier Stunden Schwitzen in der lachhaft heißen Scheune."
    Grundsätzliche Fragen an Texte und Stimme
    Aber ist sein Umgang mit den elektronischen Helferlein mehr als nur der Umgang mit Versatzstücken ohne wahren, also persönlichen Kern? Natürlich stehen ihm nun ungeahnte Varianten von Stilen und Rhythmen zur Verfügung – aber wie er selbst erkennt: es fehlen noch Melodie und Text. Ziemlich schnell hat er ziemlich viele Anfänge von Songs unterschiedlichster Couleur beisammen – aber sind sie mehr als der schnelle Reflex seiner Stimmungen, seiner Euphorie oder seiner Melancholie? Der Computer hilft – aber er ersetzt nicht die traditionelle Feinarbeit am Kunstwerk aus Worten und Tönen. Paul Chowder tastet sich voran, bekommt von dem jugendlichen Sohn seiner Nachbarin, der vor allem derbe Raps arrangiert, wertvolle Tipps für den Umgang mit Software und Effekten und hütet Textzeilen, die vielleicht einmal Teil eines Liedes werden könnten. Das ist eine Art von Stoffwechsel, der ihn in seinem Alltag begleitet – vor allem dann, wenn er über seine Ex-Freundin Rosslyn nachdenkt, wenn er sie herbeisehnt und sich ihr als wahrer Freund zeigt, als er erfährt, dass sie sich einer größeren Unterleibs-Operation wird unterziehen müssen. Überschwang und Schwermut gehen in solchen Momenten miteinander Hand in Hand, und die Versatzstücke der digitalen Musikproduktion, ein Reichtum und eine Reizüberflutung sondergleichen, verbinden sich in seiner Fantasie mit dem nicht minder großen Reichtum der Lyrik und der klassischen Musik, etwa mit den Werken von Debussy, die er schon als Fagottist kennengelernt hat:
    "Ich starre voll auf den blöden Mond, und es ist mir gleich, wer das weiß. Ich habe so viele Logic-Töne aus meinem Computer und durch den Kopfhörer kommen hören, dass ich es fast nicht aushalte. Ich bin betrunken von Ton, so wie das dreizehnjährige brasilianische Mädchen. Möchte ich etwas mit Marimba schreiben, kann ich Marimba haben. Möchte ich balinesisches Gamelan, gibt’s Gamelan. Chinesische Guzheng-Zither? Ist da. Japanische Shakuhachi-Flöte? Klar. Es gibt zahllose Bassdrums, manche echt, manche synthetisch, und bei der E-Gitarre – da habe ich Twangy Guitar, New Surf Lead Guitar, Nice Crunch Guitar, Dirty Rotor Guitar und Dutzende weitere. Fast zu viel. Alles schön gesampelt. Debussy hätte am Rad gedreht, wenn er auf seinem Computer Logic gehabt hätte. Die Musikgeschichte wäre vollkommen anders verlaufen."
    Am Beispiel von Claude Debussy spiegelt der Roman die künstlerischen und lebenspraktischen Probleme von Paul Chowder genauso intensiv wie an der Lyrik früherer Tage. Debussy als kranker Mann im fortgeschrittenen Alter; Debussy, dessen "Versunkene Kathedrale" für Paul Chowder eine unauslöschliche Erfahrung darstellt; Debussy, der den Schock der Neuerungen in Igor Stravinskys "Le sacre du printemps" kaum verkraften kann – der Komponist erscheint dem Lyriker wie ein Vertrauter mit einem strukturell vergleichbaren Schicksal; er dient ihm zugleich sicher auch als Projektionsfläche. Je mehr er sich im Verlauf des Romans in sein Thema wühlt, desto grundsätzlicher werden seine Fragen an Texte und Stimme, an Schrift und Ausdruck, an Absichten und Deutungen.
    Den Strom der Assoziationen immer wieder aufgebrochen
    "Aber was bedeutet es, dass man eine Stimme hat, wenn man Dichter ist? Wenn man die Stimme bewusst weggeschmolzen hat und einem nichts als das Drahtskelett geblieben ist? Alles Wachs, alle Knochen und Muskeln des Tons sind weg. In 'Die Fliege', dem Film von David Cronenberg, kommt gegen Ende ein Augenblick, wo die große humanoide Fliege einem Mann Säure auf den Arm spritzt. Sie verbrennt den Arm bis auf den Knochen. Genau das passiert, wenn man einen Satz oder eine Strophe hinschreibt. Wenn man daran denkt, stellt man ihn sich in all seiner ausgestalteten, vollstimmig gesprochenen Fülle vor. (…)
    Und dann macht der Dichter etwas Komisches, und ich weiß nicht, ob es gut ist. Der Dichter sagt: Nein danke, ich will nicht das Fleisch, ich will die Knochen. Ich will nur die Wörter. Weil wir da so ein schickes Notationssystem entwickelt haben, das ziemlich ausgeklügelt ist. Es benutzt sechsundzwanzig Symbole, und diese Symbole können jedes Wort aufzeichnen, das ich spreche, und sogar, mit Hilfe von Kommata, Semikolons und Punkten, einige grobe Nuancen der Pausen zwischen meinen Wörtern. Und so bringe ich alles als Knochen. Ich nehme dieses lebendige Ding und gebe es wieder, dampfe es ein. Früher gab es Töne, jetzt gibt es Wörter auf dem Blatt."
    Es gehört zu den eher unauffälligen Feinheiten des Romans, dass er diese Unzufriedenheit mit dem Ausdrucksvermögen der Schriftsprache schon in seiner Form aufgefangen hat, ehe Paul Chowder mit seinen Liedern endlich vorankommt. Nicholson Baker lässt seinen Helden nicht einfach nur als Ich-Erzähler in eigener Sache dem Strom seiner Assoziationen folgen, sondern bricht diesen Textduktus immer wieder durch kurze Passagen, die für ein Blog, vielleicht ein Internet-Voice-Blog oder für eine Radiokolumne gedacht zu sein scheinen, denn Chowder spricht darin "Hörer" an. Die Schrift abstrahiert und nivelliert, sagt er; die ursprüngliche Erfahrung eines Gedichtes aber sei eine andere; spätere Leser werden zwar in der gedruckten Sprache eine Dichterstimme erkennen können – aber wird es die sein, die der Dichter in sich selbst gehört hat?
    Aus der Expedition in die Gefilde der Musik wird ein Werkstattbericht
    In der Musik sieht er nun eine Möglichkeit diesem Abstraktionsprozess entgegen zu arbeiten, um Differenzen, um Unterschiede und damit das Individuelle, das Eigene zu bewahren. In der Musik klinge stets "das A eines Cellisten ein wenig anders als das A eines anderen", und mit der Stimme verhalte es sich genauso. Darauf läuft Chowders ganze Anstrengung schließlich hinaus, und am Ende wird er seine persönliche Stimme, die er als Dichter vorübergehend nicht hat, wiederfinden – in einem Club, wo Menschen seines Alters eigentlich nicht mehr hingehören; als Gesang und Dance-Beat abgemischt für junge Leute, eigentlich jedoch nur für Rosslyn. Und aus der Expedition in die Gefilde der Musik ist unter der Hand ein Buch geworden: ein Werkstattbericht, der an die Stelle des vormals geplanten Lyrikbandes treten könnte - zugleich auch eine Liebeserklärung:
    "Ich möchte mit einer Frau wirklich zusammen sein. Damit meine ich, dass ich fähig sein möchte, mit ihr bis spät aufzubleiben und über alles zu reden. Ich möchte ihr alles zeigen, was ich rausgefunden habe, was vielleicht nicht sehr interessant ist, aber was anderes habe ich eben nicht. Und ich möchte, dass sie mir alles zeigt, was sie rausgefunden hat."
    So jammert er am Anfang des Romans - und lässt von diesem Ziel niemals ab. Und weil die Liebe ihm sozusagen Flügel verleiht, fügt sich alles, was er in ihrem Namen unternimmt, zuletzt einer übergeordneten, wenn auch durch viele Chowder'sche Idiosynkrasien gut getarnten Erzähl-Absicht unter: "Das Regenmobil" ist eine umfassende Erkundung der Möglichkeiten zur Erneuerung von Dichtung und Leben, eine fein ausgearbeitete Darstellung der Spannungen zwischen Alltag und Kunst, zwischen Privatem und Öffentlichem, zwischen Ausdruckswille und Ausdrucksvermögen. Und Paul Chowder, den die Leser dabei begleiten, ist genauso ein Schelm wie Nicholson Baker, der ihn erfunden hat.
    Nicholson Baker: "Das Regenmobil", Roman, Deutsch von Eike Schönfeld, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 19,95 Euro