In einem abgelegenen türkischen Dorf geschieht im Herbst 1903 ein grausamer Mord. Banditen überfallen ein unbescholtenes Ehepaar und metzeln es nieder. Der Staatsanwalt, der Landrat und der Amtsarzt erreichen den Ort per Pferd und beginnen mit Ermittlungen. Neben den Leichen hält ein zehnjähriger Junge Totenwache, offenkundig der Sohn.
"Darauf wandte der Staatsanwalt sich an den Jungen: "Hast du die beiden ins Bett gelegt?" "Ach was, die waren doch sowieso im Bett. Ich habe ihnen nur Kissen unter die Köpfe gelegt und sie zugedeckt. Sollen die Armen doch wenigstens schlafen. Mehr kann ich nicht für sie tun!" In diesen Worten und dem Verhalten des Kindes kam, mehr noch als ein gewisser Gleichmut, ein starker Wille zum Ausdruck, eine Bestimmtheit, um die ihn mancher erwachsene und umsichtige Mann beneiden mochte. Sich über etwas Unabänderliches zu grämen, noch dazu vor so vielen aus der Stadt angereisten Fremden, ließ sich mit dem Stolz des Jungen anscheinend nicht vereinbaren. Der Landrat fragte weiter: "Hast du hier noch Verwandte?" "Nein, ich habe niemanden außer diesen beiden da!" Die ruhige Würde des Kindes zerriss den Umstehenden das Herz. Ist es doch so, dass der Anblick von Menschen, die einem Unglück mit Stille und Fassung begegnen, uns viel mehr erschüttert als lautes Weinen und Händeringen."
Ein Gespür für plastische Figuren
Der türkische Schriftsteller Sabahattin Ali präsentiert den kleinen Yusuf, den Helden seines gleichnamigen Romans, mit einem Paukenschlag: Der brutale Raubmord an seinen Eltern wirkt wie eine erste Bewährungsprobe für den Jungen, der mit großem Ernst reagiert. Eine außergewöhnlichere und brutalere Wendung ist für das Leben eines Kindes kaum vorstellbar, und auch deshalb entscheidet der Landrat Salâhattin Bey, Yusuf mitzunehmen und in seiner eigenen Familie groß zu ziehen. Seine eher unnütze Frau Şahinde hat ihm zwar eine Tochter namens Muazzez geboren, aber es fehlt an einem Sohn. Yusuf füllt diese Rolle bald aus und unterstützt seinen Ziehvater, der nach einiger Zeit in die Kleinstadt Edremit versetzt wird. Aus der Schule, die Yusuf dort besuchen soll, macht er sich nichts, er kümmert sich lieber um den Olivenhain und hat ein Auge auf die zehn Jahre jüngere Schwester, während die Mutter diversen Zerstreuungen nachgeht. Die zänkische Şahinde besucht von früh bis spät ihre Nachbarinnen, vernachlässigt den Haushalt und überzieht ihren Mann Salâhattin Bey mit Vorwürfen, weshalb der überforderte Landrat seine Abende lieber im Caféhaus bei Kartenspiel und Raki verbringt. Weil sein Ziehvater so schwach ist, steigt Yusuf nach und nach zum Familienvorstand auf, was Şahinde widerwillig akzeptiert. Obwohl er in dem Städtchen einige Freunde gewinnt, nimmt Yusuf in der Gemeinschaft eine Sonderposition ein. Von der gesellschaftlichen Stellung seiner Altersgenossen lässt er sich nicht beeindrucken, für ihn zählen Anstand und Ehrlichkeit. Als er die Niedertracht eines einflussreichen jungen Mannes entdeckt, der die Tochter einer Dienstmagd entehrt hat, nehmen die Verwicklungen ihren Lauf.
Sabahattin Ali hat ein Gespür für plastische Figuren, schürt die Spannung und weiß die soziale Zusammensetzung des Städtchens anschaulich zu beschreiben. Sein Roman liefert ein nuancenreiches Panorama, in das die Gepflogenheiten der Bewohner ebenso einfließen wie ihre Gespräche und die Beschaffenheit ihrer Häuser. Diese Art von erzählerischer Berichterstattung, die so sehr aus dem Leben gegriffen zu sein schien, begeisterte die Leser, und sie rissen sich die Tageszeitung, in der ab 1932 die ersten 26 Folgen von Yusuf erschienen, förmlich aus der Hand. Weil man den Verfasser nicht verabredungsgemäß honorierte, stellte Sabahattin Ali die Serie ein. Erst fünf Jahre später wurde sie in der Zeitschrift Tan fortgesetzt, und 1937 veröffentlichte Ali Yusuf in Buchform. Bereits durch mehrere Erzählungen bekannt geworden, war dies sein Romandebüt, das heute als Klassiker gilt und jetzt erstmals in deutscher Übersetzung vorliegt. Ute Birgi-Knellessen hat vorzügliche Arbeit geleistet und schreibt Ali ein lebendiges Deutsch voller Schattierungen auf den Leib, das bestens zu der jovialen und zugleich engagierten Haltung des Autors, dem gemächlichen Erzählrhythmus und dem Sujet des Buches passt. Zwar arbeitet der Schriftsteller mit wechselnden Perspektiven und nimmt mehrere Blickwinkel ein, seine Sympathien sind dennoch klar erkennbar. Der Landrat Salâhattin Bey hat ein gutes Herz, aber er ist verführbar, vor allem, wenn Raki serviert wird.
Einer der großen Modernisierer der türkischen Literatur
"Eine halbe Stunde später war das Spiel in vollem Gange; auf den zuvor lächelnden Gesichtern zeigten sich jetzt Erregung und Begierde. "Zwei Lira für einen König!" "Einen Dreier, zum Ausgleich!" Eine herbeigezogene Stehlampe gab ihr gelbes Licht lediglich auf die Spielenden ab, der übrige Raum war in stiller Dämmerung versunken. An der gegenüberliegenden Wand führten riesige Schatten der um den Tisch Versammelten grotesk wirkende Bewegungen aus. Ein paar Gläser, eine halbe Karaffe Raki, ein wenig Pastrami mit Eiern und eingelegte Gurken, die schon längere Zeit niemand mehr beachtet oder angerührt hatte, standen auf der Anrichte des Geschirrschranks. Denn die Lebemänner, die vorher immer wieder einmal aufgestanden waren, um sich ihr Glas erneut mit Raki und ihren Mund mit Meze zu füllen, bevor sie zum Spieltisch zurückkehrten, waren längst nicht mehr in der Lage, sich von ihren Plätzen zu erheben. Mit ihren inzwischen erblassten Gesichtern und zitternden Händen boten sie einen mitleiderregenden Anblick. Beim Mischen der Karten fiel ihnen die Hälfte davon auf den Boden, und auch nachdem sie diese eingesammelt und neu gemischt hatten, brachten sie alles durcheinander, indem sie die Karten dem falschen Mitspieler zum Abheben reichten. Dabei fuhren ihre Hände immer wieder einmal in ihre Hosentaschen, um die von ihren Gemahlinnen als Teil ihrer Mitgift in feinster Handarbeit gehäkelten Geldtäschchen hervorzuziehen, denen sie, wiederum mit bebenden Finger, Münzen entnahmen."
Wie auf einer Bühne ordnet Ali die verschiedenen Akteure an, leuchtet die Szene aus und wirft einen Seitenblick auf Speisen und Getränke, bis unter den Gästen nach einiger Zeit Salâhattin Bey hervorsticht. Der Landrat klaubt nämlich die meisten Münzen zusammen, spielt sich um Kopf und Kragen und Haus und Hof dazu. Ohne es zu merken, wird der treuherzige Staatsbedienstete Opfer eines Rachefeldzugs. Ausgerechnet bei dem wohlhabenden Hilmi Bey und seinem Sohn Şakir steht er am nächsten Morgen mit 320 Goldmünzen in der Kreide, den Männern, die das Leben der Dienstmagdtochter zerstört haben. Der verwöhnte Şakir scheint es aber auch auf Salâhattin Beys Tochter, die mittlerweile dreizehnjährige Muazzez, abgesehen zu haben.
Sabahattin Ali zählt zu den großen Modernisierern der türkischen Literatur und verknüpft individuelle Erfahrungen mit scharfsinnigen Analysen der zeitgenössischen Gesellschaft. Sein ruhiger erzählerischer Gestus ist besonders wirkungsvoll, wenn er den Zynismus beschreibt, den die etablierten Honoratioren, korrupten Bürokraten und neureichen Aufsteiger gegenüber der Landbevölkerung an den Tag legen. Geboren wurde der Schriftsteller 1907 in Igridere bei Gümülcine, das heute zu Griechenland gehört. Sein Vater war ein kultivierter und weltoffener Offizier, der Wert auf Bildung legte, aber in einer katastrophalen Ehe steckte. Sabahattins Jugend war von enormen politischen Wechselfällen grundiert – der Erste Weltkrieg, der Zusammenbruch des Osmanischen Reiches, die Ausrufung der Republik 1923, dann die aufgeladene Atmosphäre unter Atatürk mit den großen Reformen. 1927 legte Ali in Istanbul sein Lehrerexamen ab und ergatterte über einen einflussreichen Onkel eine Anstellung in der Provinzstadt Yozgat. Dort spielte er mit Erfolg die Rolle des begabten, urbanen Intellektuellen, genoss wegen seiner Unterhaltsamkeit großen Respekt unter den Kaffeehausbesuchern und schrieb Gedichte und glänzende Erzählungen, die immer noch zu den Höhepunkten türkischer Prosa gehören, aber er langweilte sich zu Tode und sehnte sich nach einer inspirierenden Umgebung. 1928 ergab sich eine unverhoffte Gelegenheit: Man bot ihm ein Stipendium für Deutschland an. Sabahattin Ali landete in Berlin, blieb aber, anders als geplant, nicht fünf Jahre, sondern verließ die deutsche Hauptstadt bereits nach 18 Monaten wieder. Weshalb, ist unklar, möglicherweise ergriff er allzu eloquent Partei für das Türkentum, oder er war wegen kommunistischer Umtriebe unerwünscht. Seine Deutschkenntnisse reichten aus, um 1930 eine Lehrbefugnis für die Sprache zu erlangen und im Verlauf der nächsten Jahre Lessings Minna von Barnhelm, Chamisso, E.T.A. Hoffmann und Rilke ins Türkische zu übersetzen. Doch bevor er sich seinen literarischen Interessen widmen konnte, musste Sabahattin Ali an einer Schule in der Provinz unterrichten. Er landete in Aydin, wo er wegen angeblicher kommunistischer Propaganda unter seinen Schülern drei Monate ins Gefängnis kam. Anschließend folgte eine Versetzung nach Konya. Eine auf einer Abendgesellschaft vorgetragene Satire, die nach dem Verständnis der Behörden Kemal Atatürk beleidigte, bescherte ihm kurze Zeit später erneut eine Haftstrafe, die nach vierzehn Monaten vorzeitig endete. Schon während des ersten Gefängnisaufenthaltes ließ sich Sabahattin Ali die Geschichten der anderen Insassen erzählen, und hier begegnete er auch dem Vorbild für seinen Helden Yusuf. Von nun an ließen ihn die tiefen gesellschaftlichen Zerwürfnisse seines Landes nicht mehr los.
Besonders fatal ist die Lage der Frauen
In seinem Erstling kommen die ungerechten Besitzverhältnisse und die Privilegien der Wohlhabenden immer wieder eindrucksvoll zur Darstellung. Recht und Gesetz gelten für die einflussreichen Familien schlichtweg nicht – Zeugen werden gekauft, Richter bestochen, Strafen umgangen. Besonders fatal ist die Lage der Frauen. Ohne den Schutz eines Familienoberhaupts riskieren sie jederzeit ihre physische und moralische Integrität. Ehen haben vor allem eine dynastische Funktion, und die von Ehrgeiz zerfressene Şahinde scheut nicht davor zurück, ihre Tochter als Mittel für einen weiteren Aufstieg zu sehen. Mit Şahinde, die eine Spur klischeehaft wirkt, rechnet der Autor am schärfsten ab. Yusuf kann die Schulden, die sein Ziehvater gemacht hat, schließlich mit der Hilfe seines Jugendfreundes, des Kaufmannssohnes Ali begleichen, und die Familie auf diese Weise aus den Fängen von Hilmi Bey befreien. Aber das Ganze hat seinen Preis.
"Sie gingen gemeinsam in Yusufs Zimmer, wo sie sich nebeneinander auf sein auf einem Holzgestell ausgebreitetes Bett setzten. Muazzez fragte Yusuf geradeheraus, unverblümt und ohne Einleitung: "Für wie viel habt ihr mich verkauft?" Yusuf sah sie verdutzt an. Muazzez wiederholte ihre Frage: "Oder besser noch, für wie viel hast du mich verkauft?" "Was willst du damit sagen?" "Was wohl? Meine Mutter hat mir heute alles erzählt… Angefangen bei der Verschuldung meines Vaters…" "Ja, und? Was hast du an Ali auszusetzen?" "Kommt es dir nicht in den Sinn, mich das zu fragen? Ich habe an niemandem etwas auszusetzen. Aber eines müsst ihr euch klarmachen, ich heirate diesen Ali nicht!" Yusuf, dem der harte Ton ihrer Unterhaltung, für den er sich auch ein wenig verantwortlich fühlte, missfiel, fragte mit milder Stimme und halb wie im Scherz: "Oder denkst du noch an diesen Şakir?" Muazzez fuhr hoch. Obwohl ihre Arme von der Kälte mit einer Gänsehaut überzogen waren, glühte ihr Gesicht tiefrot: "Sag so etwas nicht noch einmal, Yusuf, sag so etwas nie wieder!"
Muazzez widersetzt sich dem Geschacher der patriarchalen Welt, dabei liebt der gutmütige Ali das Mädchen tatsächlich und zählt nicht zu den skrupellosen Lebemännern des Städtchens. Aber sie will ihn nicht. Sämtliche Gefühle Muazzezs, wir ahnen es schon, gehören natürlich dem Ziehsohn des Landrates. In der Gestaltung der Liebesgeschichte ist Sabahattin Ali in Yusuf stärker dem 19. Jahrhundert verpflichtet, die Konstellation mutet wagnerianisch und etwas melodramatisch an. In seinen Erzählungen erfindet der Schriftsteller originellere Wendungen. Die Stärke dieses Romans liegt eher in der unerbittlichen Analyse der komplexen Abhängigkeitsverhältnisse und der Kleinstadtgemeinschaft mit ihren Clans. Alis Berliner Lektüren, zu denen Döblin, Jacob Wassermann und Theodor Storm gehörten, waren für seine schriftstellerische Entwicklung ebenso bedeutsam wie der psychologische Realismus russischer Provenienz von Turgenev bis zu Tschechow. Hinzu kam aber auch noch der Einfluss des Dichters Nazim Hikmet, den Sabahattin Ali aus Istanbul kannte. Nazim war ein überzeugter Sozialist, hatte in Moskau studiert, die Futuristen kennengelernt und war vor allem von Majakowski geprägt worden. Mit romantischem Orientalismus wollte er nichts zu tun haben. Allein durch seine internationale Erfahrung elektrisierte der Lyriker und Dramatiker seine Kollegen und entfaltete trotz der Zensur einen großen Einfluss. Nazim Hikmet versuchte, die jüngeren Autoren für einen sozialkritischen Realismus zu gewinnen, und Sabahattin Ali begann tatsächlich, größeren Wert auf die Schilderungen der Lebensumstände seiner Figuren zu legen. Sein Erstling Yusuf schien den Forderungen Nazims zu entsprechen und erfüllte seinen Förderer mit Wohlgefallen – der Romancier Sabahattin Ali sei sein Geschöpf, ließ er verlauten. Das ist zweifellos eine Selbstüberschätzung, denn ein ausschließlich politisch grundierter Realismus mit pragmatischen Handlungsanweisungen und einer eindeutigen Botschaft war Sabahattin Ali fremd. Er legte großen Wert auf den inneren Zustand seiner Figuren, die oft etwas Zerrissenes charakterisiert.
Ursprünglich war eine Fortsetzung der Geschichte geplant
Nach überraschenden Winkelzügen und dramatischen Zwischenfällen begreift Yusuf, welches seine Bestimmung ist. Er entführt Muazzez kurzerhand, das Paar lässt sich trauen und denkt über ein eigenes Leben an einem anderen Ort nach. Jetzt droht das Ganze endgültig in ein krachendes Melodram abzugleiten, aber Innenschau und Reisebeschreibungen bilden ein Gegengewicht, außerdem ließe sich Yusufs Übergriff als ein modernes Aufbegehren gegen die vorhandenen Strukturen deuten – die beiden wollen sich gerade nicht unterordnen, sondern ungeachtet aller Regeln das tun, was ihren individuellen Wünschen entspricht. Für kurze Zeit bietet die Liebe Erlösung. Doch dann kommt schon wieder die Pflicht dazwischen. In Form eines Patriarchen, wie sonst. Der Landrat spürt die Entflohenen auf.
"'Red doch keinen Unsinn… Muazzez ist ein solches Leben nicht gewohnt… Wem willst du das junge Ding anvertrauen, wenn du zur Arbeit fährst? Und glaubst du etwa wirklich, dass man dich in Ayvalik arbeiten lässt? Wo hat man je gehört, dass in jener Stadt Muslime willkommen sind? "Dann geh ich eben nach Dikili oder nach Izmir… Wenn es sein muss, auch nach Baikesir!" Salâhattin Bey genehmigte sich eine zweite Schale mit Raki, lehnte sich zurück und fragte Yusuf. "Was hast du gegen Edremit? Kehr mit mir zurück; ich kaufe dir eine Kutsche und die Pferde dazu. Vielleicht finde ich dir auch eine bessere Arbeit." Yusuf wollte etwas erwidern, doch Salâhattin Bey hieß ihn mit einer Geste schweigen. "Keine Widerrede!" Dann beugte er sich vor und sagte leise: "Glaubst du etwa, ich bin zum Vergnügen hierhergekommen? Wie kannst du mich so allein lassen! Ist das denn alles, was ich von dir und meiner Tochter erwarten darf? Einfach abzuhauen und mich mit Şahinde allein zurückzulassen? Wen hab ich denn noch außer euch beiden in diesen letzten Tagen meines Lebens? Entscheide du, Yusuf; wenn du absolut nicht mit mir zurückkommen willst, dann bleibe ich bei euch, und du musst mit deinem Verdienst sowohl deine Frau wie auch mich durchbringen!'"
Natürlich beugt sich Yusuf dem Wunsch seines Ziehvaters, bei dem er moralisch in der Schuld zu stehen meint, und das Unglück nimmt seinen Lauf. Immerhin wagt Sabahattin Ali einen tragischen Schluss, und ursprünglich hatte er eine Fortsetzung der Geschichte geplant. Als Yusuf 1937 erschien, war für Sabahattin Ali eine produktive und erfüllte Lebensphase angebrochen. Mittlerweile verheiratet und Vater einer Tochter hatte er in Ankara als Dramaturg ein Auskommen. Er schrieb seine großen Romane, verkehrte unter Intellektuellen und Schriftstellern, lud zu Zusammenkünften bei sich zu Hause ein und wirkte als Herausgeber von Satire-Zeitschriften. Damals deutete sich auch ein Wandel der politischen Verhältnisse an. Nach 1925 hatte Atatürk aus Angst vor einem Auseinanderdriften des Landes die Säkularisierung vorangetrieben und die freie Meinungsäußerung eingeschränkt, was dem Geheimdienst zunächst große Macht verlieh. Überall schlichen sich Spitzel ein, auch in Künstlerkreisen herrschte Vorsicht und Befangenheit. Aber nach Atatürks Tod 1938 gewann der Bildungsminister Hasan Ali Yücel an Einfluss, was die Atmosphäre deutlich entspannte. Unter den Intellektuellen herrschte ein vorsichtiger Optimismus. Denn der fortschrittliche Kemalist Yücel, der sein Amt zwischen 1938 und 1946 ausübte und vielen Parteifunktionären eher ein Dorn im Auge war, suchte offensiv Anschluss an die europäische Kultur und förderte zahlreiche Initiativen, wozu auch ein Übersetzungsbüro gehörte, das die großen Klassiker der Weltliteratur ins Türkische übertragen ließ. Doch nach dem Zweiten Weltkrieg griff antikommunistische Hysterie um sich; Sabahattin Ali verlor seine Anstellung und geriet zusehends unter Beschuss. Der fortwährenden Gängelung und Zensur durch die Behörden müde, floh der als zu sozialkritisch verrufene Schriftsteller im April 1948 über die Grenze nach Bulgarien ins Exil und wurde noch unterwegs ermordet. Ob die türkische Geheimpolizei ihre Finger im Spiel hatte oder es ein Raubmord war, ist bis heute ungeklärt. In Yusuf beschwört Sabahattin Ali immer wieder Gewalttaten, so als habe er sein eigenes Ende geahnt. Uns bleiben seine Romane.
Sabahattin Ali: "Yusuf", aus dem Türkischen von Ute Birgi-Knellesen,
Dörlemann Verlag, Zürich 2014, 368 Seiten, 22,90 Euro
Dörlemann Verlag, Zürich 2014, 368 Seiten, 22,90 Euro