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Buch der Woche
Samenspender, Leihmütter und die neue Ordnung der Familie

Neue Reproduktionstechnologien machen das klassische abendländische Konzept der Kleinfamilie zu einem unter vielen anderen Familienkonzepten. Andreas Bernard zeigt mit seinem Buch, dass der Mensch, seitdem er entdeckt hat, aus welchem Stoff er gemacht ist, zum Gestalter seiner selbst wurde. Was das Spannungsverhältnis von Machbarem und Verträglichem angeht, sieht er die Entwicklung recht sorgenfrei.

Von Angela Gutzeit | 18.05.2014
    In der Schauerliteratur ist das Labor ein dunkler Ort der Verwandlung. Da betritt beispielsweise der Wissenschaftler Dr. Jekyll seine Wirkungsstätte, um sie des Nachts als Mr. Hyde wieder zu verlassen. Grausig verändert treibt er sein Unwesen. Auch im Labor von Dr. Frankenstein ist etwas schief gelaufen. Denn seine künstliche Kreatur aus Leichenteilen, bei Blitz und Donner zum Leben erweckt, hat versehentlich das Gehirn eines Mörders erhalten.
    Noch mehr Beachtung findet in Andreas Bernards Buch "Kinder machen" der 1871 in Düsseldorf geborene Romanautor Hans Heinz Ewers. Literarisch kann der skandalumwitterte Schriftsteller des frühen 20. Jahrhunderts mit seinem Roman "Alraune" den Klassikern von Robert Louis Stevenson und Mary Shelley zwar nicht das Wasser reichen, aber im Kontext der künstlichen Menschenerzeugung ist Ewers Roman von 1911 durchaus interessant. Der Autor versucht nämlich, das Genre der Schauerliteratur auf die moderne Reproduktionsmedizin anzuwenden. Sein Wissenschaftler, der Medizinalrat Ten Brinken, nimmt bei der Prostituierten Alma Raune eine künstliche Befruchtung vor. Samenspender ist der hingerichtete Lustmörder Weinand Noerissen. Das Ergebnis ist das dämonische Misch- oder Halbwesen Alraune. Der geistige Urheber dieser Zeugungsweise ist der Neffe des Arztes, Frank Braun. Als Alraune aus dem Tagebuch des Medizinalrats von ihrer Entstehungsweise erfährt, wendet sie sich voller Verzweiflung an diesen Neffen, ihren ideellen Erzeuger, mit folgenden Worten:
    "Ich will wissen, ob du auch glaubst, dass ich ein anderes Wesen bin als andere Menschen, daß ich dein frecher Witz bin – der dann Formen annahm? Dein Gedanke, den der alte Geheimrat in seinen Tiegel warf, den er kochte und destillierte, bis das daraus wurde, was nun vor die sitzt?"
    Eine etwas schlüpfrige Geschichte. Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus gesehen auch nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Denn drei Jahre vor dem Ersten Weltkrieg, als dieser Roman des späteren Nazi-Anhängers Hans Heinz Ewers erschien, glaubte nun wahrlich niemand mehr, Leben könne außerhalb des Mutterleibs im kochenden Tiegel erzeugt werden.
    Andererseits: In der Geschichte klingen Aspekte an, die sich unter den heutigen Bedingungen der massenhaften Erzeugung von Leben im Labor tatsächlich als brisant erweisen. Es sind die Fragen nach Abstammung, Herkunft, Vererbung, Familie und Identität. Denn Alraune wurde als Produkt der Wissenschaft im Urheber- wie im biologisch-genetischen Sinne von drei Männern und einer Frau erzeugt. Heute kann ein auf künstlichem Wege erschaffenes Kind fünf Elternteile haben: Die sozialen Eltern als Auftraggeber, den Samenspender, die Eizellspenderin und die Tragemutter. Wenn die sozialen Eltern sich trennen sollten, könnten theoretisch noch zwei dazu kommen.
    Entdeckung neuer Familienmodelle
    Andreas Bernard verfolgt in seinem Buch über neue Reproduktionstechnologien verschiedene Spuren. Die literarische Spur spiegelt das Unbewusste, erzählt von Ängsten, wie sie sich seit dem Mittelalter in der Homunculus-Fantasie vom widernatürlich hergestellten Menschenwesen offenbaren. Ein Wiedergänger als Ausdruck gotteslästerlicher Hybris des menschlichen Forscherdrangs. In der Literatur gibt es verständlicherweise keinen Platz mehr für ihn. Die künstliche Menschenerzeugung ist in den Labors der Reproduktionsmedizin zur Alltagsroutine geworden und, verglichen mit den Fiktionen der Schauerliteratur, haftet ihm nichts wirklich Schreckliches mehr an. Aber die Ängste vor medizinischen Grenzüberschreitungen sind keineswegs gebannt und werden es wohl auch nie sein.
    Andreas Bernard liefert mit seiner Studie einen verdienstvollen Beitrag zur Diskussion über wissenschaftlich-ethisch-moralisches Handeln im Zeitalter moderner Reproduktionstechnologien. In einem großen historischen Bogen zeigt er, wie sich durch fortschreitende Erkenntnisse in der Fortpflanzungsmedizin und schließlich durch die Zellforschung unser Zeugungswissen in den vergangenen Jahrhunderten verändert hat. Aufklärung, Emanzipation von religiösen Vorgaben, Wandel von Familien – und Geschlechterrollen gingen dabei Hand in Hand. Insofern verknüpft Bernard in seiner Untersuchung auf erhellende Weise Wissenschaftsgeschichte mit Sozial-, Gesellschafts-, Ideologie- und Mentalitätsgeschichte. Der Autor hat nicht nur viel gelesen, sondern ist auch viel gereist, u.a. hat er Reproduktionsmedizinern auf die Finger geschaut.
    Einmal war Bernard z.B. bei Frau Dr. Angermaier im Labor des Reproduktionszentrums München zu Besuch. Die Embryologin führte eine künstliche Insemination vor nach der ICSI-, der Einspritzmethode einer Samenzelle in die Eizelle. Nach Befruchtungserfolg kann der Embryo in die Gebärmutter der Frau eingesetzt werden. Das ist das heute häufigste Verfahren bei einem späten Kinderwunsch, wenn im weiblichen Körper die Eireifung allmählich versiegt ist, oder bei Unfruchtbarkeit des Ehemannes, wobei dann in der Regel ein Samenspender ins Spiel kommt, also ein anonymer Dritter. In Bernards Schilderung dieses Einspritzverfahrens unter dem Mikroskop halten sich Faszination und eine leichte kritische Distanz die Waage.
    "Die Abstraktion der Darstellung ist übermächtig, ein Ensemble von Joystick und Display, und die Handgriffe der ICSI-Laborantin erinnern plötzlich an eine andere hochvermittelte Tätigkeit unserer Zeit, an den computergesteuerten Einsatz von Drohnen in den gegenwärtigen Kriegen – mit dem Unterschied allerdings, dass durch die Bewegung der Steuerhebel im Labor kein Mensch vernichtet, sondern gezeugt wird."
    "Bei der natürlichen Befruchtung ist es die Eizelle, die entscheidet; bei ICSI bin ich es" sagt Frau Dr. Angermaier. Und da ihr im Gegensatz zu den meisten männlichen Kollegen, die in Bernards Buch zitiert werden, ihre Machtfülle bei der Auswahl und Behandlung des Zeugungsmaterials offensichtlich doch nicht ganz geheuer ist, gleicht sie ihre Zweifel im Gespräch mit dem Autor durch ein merkwürdiges Geständnis aus: Die leidenschaftliche Wagner-Verehrerin erzählt, dass sie nach einem Opernbesuch oft noch schnell eine künstliche Befruchtung im Labor vornehmen würde und dabei manchmal das erhebende Gefühl habe, sie könne mit dem eben genossenen Ereignis dem entstehenden Kind eine besondere Musikalität mit in die Wiege legen.
    In den USA ist die Erfüllung unterschiedlichster Kinderwünsche zur Routine geworden
    Nicht alle Reproduktionsmediziner sind da so zartfühlend. Für viele von ihnen, vorweg die US-Amerikaner, die sich so Manches erlauben, was hier verboten ist, ist die Erfüllung von Kinderwünschen mittlerweile Routine.
    Weltweit existieren schon mindestens über fünf Millionen durch In-Vitro-Fertilisation entstandene Menschen. Bei dieser Methode wird die Befruchtung herbeigeführt durch Vermischung von Eizellen und Samenzellen in der Petrischale. Aber vor allen Dingen die intrazytoplasmatische Spermieninjektion, die eben genannte ICSI- Methode, funktioniert mittlerweile sehr erfolgreich und verspricht auf bunten, munter formulierten Homepages der Reproduktionszentren unbeschwertes Baby- und Familienglück:
    "Die ISCI-Methode, in ihrer äußersten Reduktion, ist die radikale Umsetzung eines Wunschtraums, der die Medizin schon lange beschäftigt hat. Bereits 1878 fanden die ersten erfolgreichen Tierexperimente mit Befruchtungen außerhalb des Mutterleibs statt. Heute werden in den gut 140 deutschen Reproduktionszentren über 10.000 Kinder pro Jahr dank der Verfahren der 'assistierten Empfängnis' gezeugt."
    Und noch eine Zahl: 100.000 durch Samenspende gezeugte Menschen soll es heute allein in Deutschland geben.
    Andreas Bernard konfrontiert uns in seinem Buch mit allen Zeugungsmethoden, die heute möglich sind. Beruhigend ist zu erfahren, dass in Deutschland nicht alles davon erlaubt ist. Das Beunruhigende ist, dass alles, was medizinisch machbar ist, auch gemacht wird – wenn nicht hier, dann eben über den Umweg im Ausland. Die rechtlichen Bestimmungen innerhalb und außerhalb Europas sind da recht unterschiedlich.
    Medizinisch möglich ist etwa die Leihmutterschaft, wobei ein Ehepaar eine fremde Frau dafür bezahlt, mit dem Samen des Mannes ein Kind auszutragen. In den USA haben sich in Folge dieser Methode bereits furchtbare Dramen vor Gericht abgespielt, wenn die Leihmutter als genetische Mutter den Auftraggebern nach der Geburt die Übergabe des Kindes verweigerte. Kein Wunder, dass diese Methode heute – auch aus rechtlichen Gründen – weitgehend entfällt.
    Als unkomplizierter hat sich dagegen das Verfahren der sogenannten Tragemutterschaft erwiesen. Bernard bezeichnet sie so in Unterscheidung zur vorherig geschilderten Variante. Bei der Tragemutterschaft trägt eine Frau mithilfe von Eizell- und Samenspende ein mit ihr nicht genetisch verwandtes Kind aus. Auch diese Methode ist in Deutschland verboten. Wie überhaupt hierzulande die Eizellspende Anstoß erregt, aber interessanterweise eben nicht die Samenspende. Bernard bringt das ideologiegeschichtlich mit der besonders in Deutschland hohen Bedeutung von Mutterschaft und Mutter-Kind-Beziehung in Verbindung.
    Wettbewerb der Reproduktionskliniken
    Aber es gibt für jeden Wunsch Ausweichmöglichkeiten, z.B. in die Ukraine. Dort kann in einer der zahlreichen Reproduktionskliniken, die bekannteste ist "Biotexcom" in Kiew, einer für diese Zwecke sozusagen "gemieteten" Frau eine befruchtete Eizelle eingepflanzt werden. Besonders für gleichgeschlechtliche Paare ist diese Form oft der einzige Weg, um sich ihren Kinderwunsch zu erfüllen. Bei der Tragemutterschaft ist die Frau, die das Kind austrägt, lediglich so etwas wie ein vorübergehendes Behältnis. Von ihr kann laut Vertrag verlangt werden, dass bei Missbildung des Fötus eine Abtreibung vorgenommen wird. Auch zur Austragung von Zwillingen kann sie verpflichtet werden. Mit der Geburt hat sie dann ihre Pflicht erfüllt und jeglicher Anspruch erlischt. Aus Geldnot haben sich manche Frauen schon mehrere Male für diese Auftragsarbeit zur Verfügung gestellt. Andreas Bernard führt den Fall einer "Natascha" an, die keine Probleme gehabt haben soll, das mit ihr nicht verwandte Kind gleich nach der Geburt abzugeben. Es habe ihr ja nicht ähnlich gesehen. Ob das alle Tragemütter körperlich und seelisch so gut verkraften? Und erfahren diese Frauen in Georgien, in Indien oder eben in der Ukraine Unterstützung in ihrem familiären und sozialen Umfeld? Oder müssen sie diese Form von Arbeitsbeschaffungsmaßnahme vertuschen? Bernard kann darüber nicht hinreichend Auskunft geben. Und deshalb bleibt sein Fazit fragwürdig:
    "Die professionellen Tragemütter im Jahr 2014 haben die Abspaltung zwischen ihrem Körper und dem von ihnen geborenen Kind erfolgreich bewerkstelligt; die Klienten wiederum ertragen das Wissen, dass sich ihr Wunsch nach leiblichen Nachkommen durch den Kauf einer Schwangerschaft verwirklichen lässt und sie in dem weitaus ärmeren Land eine Art Biokolonialismus betreiben. In sozialer und psychologischer Hinsicht sind Leihmütter-Arrangements also von großer Pragmatik bestimmt."
    Auch Andreas Bernards Meinung zeugt von Pragmatik. Seine Kritik zielt bei dieser Form des 'Biotourismus' vor allen Dingen auf die unklare rechtliche Haltung von Auswärtigem Amt und Botschaften, die den so gezeugten Kindern laut Gesetz die Einreise nach Deutschland verbieten müssten. Sie schauen jedoch bewusst in der Regel nicht so genau hin, wenn die Geburtsurkunde die Zeugungsumstände hinreichend kaschiert. Wenn rechtlich keine Eindeutigkeit herrscht oder wenn geltendes Recht nicht angewendet wird, sind Missständen und bedenklichen gesellschaftlichen Entwicklungen Tor und Tür geöffnet. So muss man Andreas Bernards Position in seinem Buch verstehen.
    Das schließt auch die Stellung der Kinder ein, die unter diesen Umständen der künstlichen Befruchtung, der sog. "assistierten Empfängnis" in die Welt gesetzt werden. Laut UN-Kinderrechtskonvention von 1989 hat jedes Kind das Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung. Das ist auch deutsches Recht. Aber hier, das zeigt Bernard, klafft aus verschiedenen Gründen eine empfindliche Lücke. Denn die meisten Eltern klären ihr Kind über ihre Entstehungsweise nicht auf. Es erfährt nicht, dass es mit seinem Vater womöglich nicht verwandt ist, dass es einen Samenspender gibt, von dem es genetisch abstammt. Eltern haben Angst, ihren Kindern die Wahrheit über ihre Zeugungsweise mitzuteilen. Und Schuld daran, da lässt der Autor keinen Zweifel aufkommen, sind insbesondere Reproduktionsmediziner, die sich mit ihrer Tätigkeit nicht in gesellschaftlicher Verantwortung sehen. Samenbanken und Reproduktionskliniken sind ein mächtiger Geschäftszweig geworden. Sie engagieren sich für eine reibungslose Produktion, nicht aber für das Produkt, wie Bernard u.a. an Cappy Rothman und seiner "California Cryobank", der größten Samenbank Amerikas, zeigt.
    Probleme bei der Suche nach der eigenen Identität
    "Was Cappy Rothman und seine deutschen Kollegen vollständig ausblenden, ist der Standpunkt der Kinder, die aus einer Befruchtung mit Spendersamen hervorgegangen sind. Samenbanken helfen allein bei der Zeugung von Babys; wie die jugendlichen oder erwachsenen Menschen später mit ihrer Entstehungsweise umgehen werden, fällt nicht in ihren Zuständigkeitsbereich. Ihre Aufgabe besteht in der Anwerbung, Lagerung und Einspritzung von Keimzellen, Letzteres ein Vorgang von nur wenigen Minuten, und dass es die Eigenart dieser Zellen ist, Leben hervorzubringen, ist in der Logik der Ärzte ein nachträglicher Effekt."
    Aus Sicht von Medizinern wird die künstliche Befruchtung mit Samenspende am unkompliziertesten praktiziert, wenn Samenspender, die ihrer Tätigkeit als vorübergehende Verdienstquelle auffassen, möglichst unsichtbar bleiben. Deshalb raten sie ihren Kunden, also Paaren mit Babywunsch, zur Verschwiegenheit gegenüber ihren Sprösslingen. Deshalb wird auch die Herausgabe und jahrzehntelange Aufbewahrung von Spenderdaten, die Auskunft geben könnten über die Identität des Erzeugers eines sogenannten "Spenderkindes" möglichst vermieden. Auch wenn in einem Fall ein Gericht in Hamm im vergangenen Jahr eine Klinik genau dazu verpflichtet hat, bergen die Verfahrensweisen im Umgang mit der künstlichen Reproduktion noch viel Sprengstoff - für alle Beteiligten. Andreas Bernard beschreibt das Problem folgendermaßen:
    "In Ermangelung eines spezifischen Gesetzes ist nirgendwo festgelegt, dass der Samenspender nach der Geburt des Kindes zwangsläufig als Vater und somit als Adressat von Erbschafts- und Unterhaltsforderungen ausscheidet. Nach Vollendung des 18. Lebensjahres könnte es theoretisch die geltende Vaterschaft anfechten, die Samenbank zur Herausgabe der Spenderdaten zwingen und ein juristisches Verfahren zur Neubestimmung der Vaterschaft in Gang setzen."
    Dass das noch nicht geschehen sei, so Bernard, könne daran liegen, dass eben von den heute erwachsenen Spenderkindern nur die wenigsten von den Umständen ihrer Zeugung erfahren haben. Eine Generation, deren Eltern offener mit dieser Frage umgehen, wachse gerade erst heran. Die Reproduktionsmediziner Thomas Katzorke und Michael Polluda haben im Gespräch mit dem Autor deshalb immer wieder von einer "Zeitbombe" bzw. einer "Sprengladung" gesprochen – in Erwartung der bevorstehenden rechtlichen Auseinandersetzungen mit Menschen, die Aufschluss über ihren Erzeuger haben wollen.
    Die Zeitbombe tickt allerdings eben auch in vielen Familien. Eine zu späte Aufklärung kann zu Dramen, Kontaktabbruch mit den Eltern und schweren Identitätskrisen des Spenderkindes führen. Wenn Aufklärung allerdings zur richtigen Zeit kommt, möglichst im frühen Kindesalter, so resümiert Bernard nach zahlreichen Gesprächen mit Betroffenen, dann gebe es keinen Anlass zur Sorge. Im Gegenteil, Spenderkinder, auch in gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften, würden nicht selten behüteter und umsorgter aufwachsen als in sogenannten normalen Familien. Blutsverwandtschaft garantiere keineswegs ein gutes Familienverhältnis. Schaut man sich im Internet die Website des Vereins "Spenderkinder.de" an, so werden Bernards Aussagen durch die zahlreichen Beiträge zu diesem Thema durchaus bestätigt. Diese Interessengemeinschaft kämpft für das Recht auf Wissen um die Abstammung des Einzelnen. Auch wollen ihre Mitglieder wissen, ob und wie viele Halbgeschwister es noch gibt. Erbschafts- oder Unterhaltsansprüche an Samenspender schließen sie übrigens nachdrücklich aus. Liest man den erst kürzlich eingestellten Vortrag, den das Vereinsmitglied "Stina", so nennt sie sich, im November 2013 während eines Symposiums in Erlangen gehalten hat, erahnt man allerdings die Belastungen und Herausforderungen, mit denen eine solche Familienkonstellation zu kämpfen hat.
    Wissenschaftler warnen vor psychischen Problemen von Spenderkindern
    "Spenderkinder-Familien sind keine ganz normalen Familien. Sie sehen nur meistens von außen so aus, und daher ist die Verlockung möglicherweise groß, so zu tun als ob. Nicht normal zu sein, ist aber nicht schlimm - wir Spenderkinder wünschen uns mehr Mut zu der Tatsache, anders zu sein und dazu zu stehen. Wenn ein Dritter an der Zeugung beteiligt ist, den die Eltern nicht kennen, handelt es sich um eine Ausnahmesituation. Ich glaube nicht, dass die Eltern diesen Aspekt je vergessen. Ab der Entscheidung für die Samenspende ist der Spender aber Teil des Familiengefüges. Er ist ein unsichtbarer Dritter, der auch auf das Verhalten der Eltern den Kindern gegenüber Einfluss nimmt."
    Das Konzept der abendländischen Kleinfamilie, so Andreas Bernard, sei eine Konstruktion, keineswegs naturgegeben. Ihren Ursprung habe sie, und da verweist er auf die Studie des Anthropologen Jack Goody, in der Machtpolitik der christlichen Kirchen im frühen Mittelalter. In ihrem Interesse lag es, die einflussreichen Sippenverbände zu sprengen. Indem Bernard diesen historischen Exkurs unternimmt, macht er deutlich, dass Familie eine wandelbare Institution ist. Nach Bernards Meinung sei sie durchaus in der Lage, unterschiedliche Lebensmodelle in sich zu vereinigen. Im Kern habe sie sich jedoch als robust erwiesen. Angesichts der Tatsache, dass die Auswirkungen der modernen Reproduktionsmedizin mit ihren Methoden der künstlichen Kinderproduktion auf Familie und Gesellschaft erst in Ansätzen sichtbar werden, ist Andreas Bernards Vision allerdings reichlich verfrüht:
    "Durch diese Entwicklung scheint am Horizont der Vorstellungen ein neues Bild von Großfamilie auf, ein harmonisches Miteinander aus sozialen Eltern, Spendern und Halbgeschwistern, das die herkömmliche Kernfamilie nicht bedroht, sondern bereichert. Und es bereitet den Mitgliedern offenbar keine Schwierigkeiten, eine für alle Angehörigen akzeptable Intensität des Kontakts herzustellen, Sehnsüchte zu erfüllen und Distanzen zu wahren."
    Bernhards Buch als interessanter Debattenbeitrag
    Verfrüht ist dieses harmonische Zukunftsbild auch, weil sich die Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin mit Riesenschritten ständig erweitern. Längst kann Zeugungsmaterial, wie es die Mediziner nennen, jahrelang konserviert werden, was unlängst in Israel zu der absurd anmutenden Situation führte, dass eine Frau mit dem eingefrorenen Samen eines zehn Jahre zuvor gefallenen Soldaten befruchtet wurde, den sie niemals kennengelernt hatte. Ein Mädchen wurde geboren, dessen geistige Urheber die Eltern des Toten sind, die ein mit ihnen genetisch verwandtes Enkelkind haben wollten. Und längst ist auch in Deutschland die sogenannte Präimplantationsdiagnostik üblich, die unter anderem durch genetische Auswahl für unversehrte Nachkommen sorgen kann. Eugenik durch die Hintertür, nennt das Bernard mit kritischem Unterton. Und man soll sich nichts vormachen: Irgendwann könnte es durchaus auch das Kind auf Bestellung geben. Kein Homunculus oder teuflisches Wesen wird dabei dem Labor entschlüpfen, sondern wohlgestaltete Menschen. Menschen nach Maß. Die Frage ist eben nur, ob und wie wir sie mit unserem ethischen Selbstverständnis in Einklang bringen können.
    Andreas Bernard zeigt mit seinem sehr anregendes Buch, dass der Mensch, seitdem er entdeckt hat, aus welchem Stoff er gemacht ist, zum Gestalter seiner selbst wurde. Und auf welche Grenzen er dabei stößt. Was das Spannungsverhältnis von Machbarem und Verträglichem angeht, sieht er die Entwicklung allerdings recht sorgenfrei. Die Debatte über künstliche Erschaffung von Menschen muss weitergehen. Bernards Buch bietet dafür eine Menge Stoff.
    Andreas Bernard: "Kinder machen. Samenspender, Leihmütter, künstliche Befruchtung. Neue Reproduktionstechnologien und die Ordnung der Familie". S. Fischer Verlag. 543 Seiten, 24.99 Euro.