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Buch der Woche
Szenen im Gaslicht

John Hawkes versucht im Roman "Die Leimrute" für Sprache und Themen eine neue Struktur zu finden. Deutlich und eindringlich beschreibt er momenthafte, teils grausame Eindrücke und fordert den Leser mit Brüchen in Erzählhaltung und Handlung. Jetzt ist der Roman von 1964 neu erschienen.

Von Michael Schmitt |
    Ende Oktober 1964 stehen Mary McCarthys "Die Clique" und Max Frischs "Mein Name sei Gantenbein" ganz oben auf der Bestsellerliste des "Spiegel"; weiter unten rangieren Guareschis "Genosse Don Camillo", Henry Millers "Wendekreis des Steinbocks" und "Lehmanns Erzählungen"von Siegfried Lenz. Hinweise auf neue Bücher stehen direkt daneben, darunter auch eine kurze Empfehlung für den ersten ins Deutsche übertragenen Roman des Amerikaners John Hawkes, "Die Leimrute". Man erfährt, dass dieser "stil- und temperamentvolle Roman um Pferdediebstahl, Pferderennen und Mord" mit Gerüchen und Düften von Altweiberhaar, von Brandwunden oder Pferdemist gewürzt sei. Der Leser finde darin alles das, was ein Film nicht zeigen könne, und der Verfasser empfehle sich zu Recht als Spezialist für "Gaslichtszenen".
    Wer dieser kulinarischen Beschreibung Vertrauen schenkt, wird nicht enttäuscht, damals so wenig wie heute – aber die Mischung dieser Elemente wird manchen Freund traditionellen realistischen Erzählens verwundern. Und außerdem – nebenbei bemerkt – wird der Leser herausfinden, dass dieser Buchtipp im Wesentlichen aus zusammengewürfelten Halbsätzen aus dem besprochenen Buch besteht, dass hier einem experimentellen Roman durch geschicktes Kompilieren von kurzen Paraphrasen geradezu das Etikett eines altmodischen Schmökers aufgeklebt worden ist.
    John Hawkes, geboren 1925, gehört seit dem Erscheinen seines ersten Romans "Der Kannibale" im Jahr 1949 zu jenen ambitionierten Avantgardisten, in deren Kreisen in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA die literarische Postmoderne heranreift. Schon als Student hat er Handlung und Ort sowie festumrissene Charaktere als Gift für jeden guten Roman bezeichnet und beeindruckt damit einen seiner akademischen Lehrer derart, dass der ihm umgehend den Weg zu ersten Veröffentlichungen ebnet. Düster-surreale Szenerien prägen seine frühe Texte, sie erscheinen in dem 1936 gegründeten ambitionierten Verlag "New Directions".
    Und während John Hawkes als Lektor und dann auch als Dozent in Harvard arbeitet, entwirft er etwa in dem genannten Roman "Der Kannibale" ein Bild von Deutschland im Jahr 1945, das einem Gemälde von Hieronymus Bosch ähnelt. Erzählt eine Geschichte aus einem besetzten Land, wo sich in einem kleinen Ort ein neuer Führer erhebt, wo kleine Kinder kannibalischen Gelagen zum Opfer fallen und am Ende ein unabhängiges Deutschland wieder erwacht. Ein Schreckensbild, das den ersten großen Förderer des damals dreiundzwanzigjährigen Schriftstellers, Albert J. Guerard, in einem Vorwort zu höchstem Lob inspiriert: Der Roman sei ein Versprechen für die Literatur, das möglicherweise über die Werke von Kafka, von Faulkner oder Djuna Barnes hinausweise; die Fremdartigkeit und Schwierigkeit des Buches beruhten auf einer Mischung von kalter Amoralität und Grauen, von brillantem Stil auch im nebensächlichen Detail und makabrem Humor.
    In der Tradition der Nachkriegsliteratur
    Ein Jahr zuvor, 1948, hat auch Norman Mailer mit "Die Nackten und die Toten" die amerikanische Nachkriegsliteratur neu geprägt – durch reportagehafte Härte und Klarheit in seinem Roman über den Krieg der USA im Pazifik. John Hawkes Anti-Realismus ist das genaue Gegenteil davon, vielleicht die radikalste denkbare Antwort darauf: albtraumartig inszenierte Orte, wie von schwachem Taschenlampenlicht unzureichend ausgeleuchtet, monströse und verkrüppelte Figuren, zerstörte Landschaften, Orte ohne Hoffnung. In weiteren Büchern bleibt Hawkes dieser Mischung treu, erst in seinem vierten Roman, eben der "Leimrute", die 1961 in den USA und 1964 in deutscher Fassung beim Wiesbadener Limes-Verlag erscheint, erkennen versierte Hawkes-Exegeten eine Wendung hin zu ein wenig konventionelleren Erzählformen, in diesem Fall: zum Krimi.
    Der Beginn des Romans aber ist noch wenig überraschend: Er handelt einmal mehr von Kriegserfahrungen, schildert Opfer der Bombardierungen Londons, begleitet einen jungen Mann, genannt Hensher, der auch der Ich-Erzähler dieses Kapitels ist, und seine Mutter durch dunkle Mietzimmer und im Bombenhagel:
    "Zusammen zogen wir ein, zusammen zogen wir aus. Fünfzehn Jahre in Dreary Station im Kreis herum, sie und ich, fünfzehn Jahre Fußabdrücke in Badewannen entdecken oder ein an der Klokette hängendes Halstuch oder Blutspritzer auf dem Rasierspiegel. Fünfzehn Jahre mit Mama von Mansarde zu Mansarde ziehen (...).
    Wenn Sie lange genug mit Ihrer Mutter zusammenleben, werden Sie kochen lernen. Ihre Haut wird wissen, wie sich Kohlblätter anfühlen, alles, was Ihre Mutter isst, werden Sie in den bloßen Händen gehalten haben. Jeden Abend werden Sie aus der Abendzeitung das kleine saubere Päckchen machen, mit Knorpeln, rohem Fett, schmutzigen Schalen und dem noch warmen Rest, den Ihre Mutter auf dem Teller übrig lässt. Und werden dann so leise wie möglich, ein paar Blutspritzer von der Schürze wischend, das Päckchen den Korridor entlang tragen, hinaus in die Kälte und fallenden Schnee, wo Sie es, weich und viereckig, in den großen Abfalleimer der Wirtin direkt unter den Deckel legen. Die Mutter putzt sich den Mund mit Ihrem Taschentuch ab, und Sie stellen den Rest der Nieren auf das rußige, gefrorene Fensterbrett. Decken den Kocher mit einem geblümten Tuch zu und legen Schabemesser, Löffel und Brotkante hinter die kleine Bücherreihe. Der Platz für den Topf ist in der Schublade neben der Unterwäsche."
    Die Intensität der Beschreibung sinnlicher Eindrücke, die Verhaftung ans Detail – das ist John Hawkes Spezialität, davon leben seine Szenerien, so entwirft er in "Die Leimrute" auch ein vage wiedererkennbares Bild von Londons düsteren Seiten. Mehr noch: Er schafft mit Hensher zum ersten Mal in einem seiner Bücher eine psychologisch ausgefeiltere Persönlichkeit, die mehr ist als das erzählerische Vehikel für eine Aneinanderreihung suggestiver Einzelszenen. Hensher ist der verlassene Muttersohn, der lange Jahre nach deren tragischem Tod im Bombenhagel wieder in das gleiche Haus und in das gleiche Zimmer einzieht, in dem er schon einmal, damals noch mit der Mutter, zusammen gelebt hat.
    "Morgens zwischen drei und vier starb sie – vor so vielen Jahren – damals brach ich auf in meinem imposanten schwarzen Mantel, der die kleinen Kinder zum Lachen brachte, ging durch leere Straßen oder mitten im Gedränge und wartete unter der hallenden Kuppel der Dreary Station, inmitten von Eisenträgern und dem zersplitterten Glas des Oberlichts, um wieder einen unserer Truppentransporte zurückkommen zu sehen. Vor so vielen Jahren. (...)
    'Meine Mutter starb in diesen Zimmern, Mr. Banks.'
    Rückkehr in die Kindheit als Wende
    Und dann waren all die Jahre vorbei, und ich erkannte dieses Haus, diesen Flur, trotz Anstrich, Verputz und billigem rotem Teppich, den man auf dem Wohnzimmerboden befestigt hatte. Banks wurde von mir im voraus bezahlt, ja, das tat ich, und er steckte das Geld in die Hosentasche, während Margaret das primitive Pappschild aus dem Fenster nahm. Neuer Anstrich, neue Fensterscheiben, einige neue Bodendielen: an dieses Haus zu denken, das trotz allem nicht ganz herunter gebrannt war, sondern noch stand, jetzt von Menschen bewohnt, die kaum mehr eine Erinnerung an die nächtlichen Brände hatten. Frisch und munter, Margarets Kleider im Schrank und Michaels Hut neben der Tür. Aber eines seiner vier Zimmer war das meine, ganz ohne Frage das meine, und ich wusste, dass ich den alten abgestandenen Rauchgeruch wahrnehmen würde, wenn ich das Gesicht nur fest genug an die verschlissenen Wände drückte."
    Bis hierhin scheint dieser Roman von einem melancholischen Mann zu handeln, der bei einem deutlich jüngerem Ehepaar ins Haus einzieht, um dort in friedlicher Gemeinschaft nebeneinander zu leben. Eine nachvollziehbare Gestalt, vielleicht sogar ein Identifikationsangebot. Aber dabei bleibt es nicht. Übergangslos, für den Leser ein erster Bruch der Erwartungen, verstrickt dieser Hensher seine Vermieter, Michael Banks und dessen Gattin Margaret, in einen kriminellen Coup, in den Diebstahl eines alten Rennpferdes, das unter neuem Namen antreten und für Wettbetrügereien herhalten soll.
    Und umgehend zitiert der Roman von da an die Elemente eines klassischen schwarzen Kriminalromans herbei, spielt an Hafenkais, in Spelunken oder Hotelzimmern, die man in ähnlich schummriger Beleuchtung und bevölkert mit vergleichbar dubiosen Gestalten immer schon mal gesehen zu haben glaubt – etwa in alten schwarzweißen B-Picture-Filmen oder im "Dritten Mann". Hawkes bringt das alles aber in eine neue Ordnung, die Chronologie und Zusammenhänge auflöst. Hensher, der anfängliche Ich-Erzähler, überlebt die nächsten paar Seiten nicht. Und statt seiner übernimmt eine Art von auktorialer Erzählhaltung – führt durch Szenen mit wechselnden Protagonisten, die jede für sich den Leser packen, deren Zusammenhang als "Plot" jedoch nur schwer zu dechiffrieren ist.
    In einem Interview von 1975, das 1988 im 32. Heft der Literaturzeitschrift "Schreibheft" in deutscher Übersetzung zu lesen ist, spricht Hawkes mehrfach davon, dass "Die Leimrute" vor allem als ein parodistischer Roman gedacht gewesen sei. Er habe einerseits gegen "geistiges Knickertum" anschreiben wollen, andererseits aber auch versucht, für seine Sprache und thematischen Interessen "eine neue Struktur" zu finden. Entsprechend bleibt der eigentliche "Fall", der Diebstahl des Rennpferdes bis zum Ende in seinen Konturen unklar. Deutlich und eindringlich sind hingegen momenthafte Eindrücke. Sie entschädigen den, der sich ihnen überlassen kann, reichlich für den möglicherweise erwarteten, aber entgangenen Genuss an einem eher herkömmlichen Schmöker.
    "Michael stand steif am Verschlag, allein. (...)
    Nebel, natürlich, er sollte es gewusst, sollte eine Taschenlampe mitgenommen haben. Doch was auch immer geschah, seine Stunde würde kommen, das wusste er genau, genau so wie diese – langsam, aus dichtem Nebel. Zufälligkeiten, unerwartete Begegnungen, eine auftauchende Gestalt, die ihre Arme um ihn schlang: wo konnte er alles, wovon er träumte entdecken, wenn nicht in einem Nebel? Und er dachte an glitschige Ecken, plötzlich gequetschte Haut, blindlings durch Wasser streifende Enterhaken: wo konnte man all das loswerden, wenn nicht in dem gleichen weißen Nebel?
    Allein wartete er, bis der große Holzschuppen mit dem Nebel gefüllt war, der die Fäulnis am Wasser verursachte. Sein nasses Hemd klebte an seiner Haut. Der gegabelte Eisenkran am Kai war fort, und das Vorhandensein der beiden Tanker, die den verlassenen Anlegeplatz des Vergnügungsdampfers flankierten, bemerkte er nur an dem eintönigen Geräusch, das sie machten. Alles um ihn herum war sichtbare Struktur und Dichte des sich ausbreitenden Nebels. Er lauerte auf das Motorengeräusch des Lastwagens, versuchte sich mit dem Handrücken das Gesicht abzuwischen."
    Der Journalist als zweite Erzählebene
    Genauere Orientierung über den Zusammenhang solcher Orte und Eindrücke geben lediglich kurze Ausrisse aus den Artikels eines Sport- und Gesellschaftsreporters, der in marktschreierischem Stil seine Beobachtungen an der Pferde-Rennbahn und an den Wettschaltern verbreitet und dem geplanten Verbrechen hinterher recherchiert. Sie leiten jedes einzelne Kapitel des Romans ein und sind wohl erst spät in den Roman eingearbeitet worden, nach Hawkes' Aussagen auf Anregung des Herausgebers von "New Directions". Dem Leser des Romans hilft das alle paar Seiten auf die Sprünge, liefert das Gerüst und eine zweite sarkastisch kommentierende Erzählebene.
    "Sidney Slyter sagt (...) Nie verliere ich bei meinen Tipps Liebe oder Geld aus den Augen, werde ich es jetzt tun? Aber für mich gilt: Business first... Eine späte Meldung, die zu denken gibt, ist Rock Castle, der einem gewissen Michael Banks gehört. Das ist der springende Punkt: Wenn es sich bei der Meldung wirklich um Rock Castle handelt, wie der Besitzer behauptet, weiß ich, dass das Pferd zum Stall jener alten verwitweten sportliebenden Dame, Lady Harvey-Harrow, gehört, wie kommt es nun aber, dass es unter den Farben (hellgrün und schwarz) von Mr. Banks gemeldet ist? Wenn ich mich nicht täusche, ist hier etwas faul, ein Fall für die Polizei. (...)"
    Slyter wird Recht behalten, aber die Polizisten, die gegen Ende des Romans auftauchen, werden kein Licht in das Dunkel bringen. Das Buch folgt keinem "Who-done-it"-Muster, sondern setzt ihre zentralen Figuren, eine nach der anderen unterschiedlichen – mal albtraumhaften, mal wunscherfüllenden – Situationen aus. Die Leidtragenden sind vor allem das Ehepaar Michael und Magaret Banks, die sich in ein Abenteuer hineinziehen lassen, für das sie nicht gemacht sind und in dem sie so gefangen bleiben wie Vögel auf der Leimrute:
    Michael Banks, der biedere Ehemann, gerät in die Fänge einer Gruppe undurchschaubarer Pferdetrainer, Jockeys und leichtlebiger Frauen, die ihn mit der Aussicht auf hohen Gewinn oder sexuelle Eskapaden locken. Seine Frau Margaret – der Platz einer Ehefrau ist an der Seite ihres Mannes, ist ihre Devise – will ihren Michael nicht allein lassen an der Rennbahn und in den Pferdeställen, wird dann aber von den Gangstern gefangen genommen und fern von Michael festgehalten und vom Wortführer der Bande bedroht:
    "(...) er schaute auf Margaret, auf ihre nackten Füße, ihr weißes Armsünderhemd, auf ihre in dem großen Armstuhl zusammengesunkene Gestalt. (...) sie war preisgegeben, ausgezogen wie für einen gefährlichen chirurgischen Eingriff.
    (...)
    Sie hatten Margarets braunen Rock, ihre Schuhe und Strümpfe verbrannt, und Thick war mit den Spielkarten und dem weißen Gewand zurückgekommen. Little Dora hatte es ihr hingehalten – 'Sie werden in diesem Ding nicht unter Menschen gehen wollen, es ist hinten offen' – und dann die Bänder zugebunden. Einst war ihre Kusine am Unterleib operiert worden, und sie erkannte das Gewand wieder: immer wenn es sich ergab, erzählte Thick leise, wie er seine Mutter im Krankenhaus besuchte hatte, um die jungen Frauen auf den Stationen zu sehen. Jetzt wurde sie selbst besucht und schämte sich, sich zu bewegen."
    Einmal versucht sie zu fliehen, in kuriosen Kleidern, die sie in einem Koffer gefunden hat, wird aber wieder eingefangen, nachdem sie aus der Ferne kurz von ihrem Ehemann gesehen, aber nicht gerettet worden ist. Eine verzweifelte Jagd über das Gelände der Pferderennbahn findet statt, in deren Verlauf dem Ehemann klar gemacht wird, dass er und seine Frau unabwendbar in der Hand der Gangster sind. Und der Leser irrt mit ihnen - der Roman ist zwar eine Parodie auf ein Genre, als Leseerfahrung jedoch passagenweise auch ein Schock.
    Detaillierte Beschreibungen des Grausamen
    Schon in den ersten Büchern von Hawkes war sein Interesse an brutaler Gewalt und an Sexualität deutlich spürbar. Er selbst erklärt in dem schon zitierten Interview von 1975, seine Prosa diene dem Versuch, den Konflikt zwischen Sexual- und Lebenspotential auf der einen und Destruktions- und Todestrieben auf der anderen Seite zu beschreiben. Er erforsche das "Böse" als etwas, das die Menschen selbst erschaffen haben, das es außerhalb ihrer selbst nicht gibt – nicht als satanische Kraft, nicht als psychoanalytisch zu verstehender Nachhall einer individuellen Vergangenheit. Den Beweis dafür bleibt er nicht schuldig, und die harmlose Margaret trifft es nach ihrer gescheiterten Flucht am härtesten:
    "'Ich habe schon früher Mädchen geprügelt', flüsterte er, hielt den Knüppel ins Dunkle und stützte sich mit seiner fetten Hand gegen die Mauer, 'und ich hinterlasse keine wunden Stellen. Wenn es vorbei ist, wirst du es kaum jemandem beweisen können. Eine Menge Mädchen – Halbwüchsige, die Nackttänzerin unten in Robin's Egg Blue, die Nutten an den Nähmaschinen, ein Kind namens Sally. Die Violet Lane war mein Revier, Gaslichtszenen sind meine Spezialität. Und wenn ich mein Werkzeug zufällig nicht bei mir hatte', er hob ein wenig den weißen Knüppel, 'das nächstbeste ist eine gerollte quatschnass gemachte Zeitung. Paß auf, so fühlt es sich an.' Er senkte den Arm, und sie spürte eine leichte Berührung des Knüppels am Oberschenkel, sanft, wie ein Spazierstock im Gedränge.
    'Gar nicht so schlimm', flüsterte er
    (...)
    Dann passierte etwas mit seinem Gesicht. Genau gesagt mit dem Mund. Der saure Schweiß war da, und der Mund wurde weiß, so starr und geschwollen, dass er einen Augenblick lang verstummte: aber plötzlich verstand sie, verstand gut genug, was Thick sagte – zu sich selbst, zu ihr – und in der Dunkelheit und beim Anhörender leisen Sinfonie war sie auf einmal erstaunt, dass er solche Dinge sagen konnte.
    Sein Arm hob sich zitternd über seinen Kopf, der Knüppel holte aus und fiel hart und massiv herunter, wie ein von einem Schwein abgezogenes kaltes Stück Fett, schlug in sie ein, direkt über dem Knie; dann in das Fleisch des Oberschenkels; auf die Hüften; dann auf die Beine. Und jeder Schlag schneller und härter als der vorhergegangene, bis die Schläge wild auf sie niederprasselten, blindlings auf Unterleib und Leisten, auf das dünne Fett und das Fleisch darunter; jedes Mal ließ er den Knüppel da liegen, wo er gelandet war., dann zog er ihn der Länge nach über Magen, Bauch oder Hüfte, riss ihn wieder hoch und prügelte weiter.
    (..)
    Als er endgültig aufhörte, blutete sie, aber die Wunde war unsichtbar.
    Während Margaret derart bis aufs Blut geschunden wird, erlebt ihr Ehemann Michael nicht weit entfernt so etwas wie ein sexuelles Erwachen. Er wird mit leichten Mädchen zusammengebracht, er lässt sich gerne und intensiv ablenken, denkt gelegentlich daran, was er vielleicht auch mit seiner Gattin im Bett alles anstellen könnte. Hawkes stellt das unvermittelt neben die Folterszenen, so dass beides sich gegenseitig beleuchtet und kommentiert. Klar wird dadurch vor allem: Auch die Lust, die Michael erfährt – mit mehr als einer Frau in einer einzigen wilden Nacht vor dem entscheidenden Rennen und dem abschließenden Chaos auf der Rennbahn – ist immer auch Angstlust, denn die Situation an sich ist bedrohlich, und die Bettgenossinnen sind undurchschaubar.
    "Es war zwei Uhr morgens seiner letzten Nacht – letzte Dunkelheit vor dem Tag des Goldpokals – und die Decken wurden abgeworfen. Sie hatte ein einziges Versprechen gegeben und es schon dreimal gehalten, er wusste jetzt, was er zu erwarten hatte, kannte ihre Beschaffenheit und wusste, wie erregend sie im Bett sein konnte. Ein Spiel von ihr war, aufzustehen, wenn sie ein Perle verlor – und sie hatte drei Perlen verloren –, die Decken mit akrobatischer Behändigkeit und Eile weg zu stoßen und von ihm zu verlangen, in den durcheinandergeratenen, verwickelten Laken nach dem Schmuck zu stöbern. Jetzt vollführten die Decken akrobatische Kunststücke, fielen alle auf einmal über seine Schultern, und die vierte Perle musste gefunden werden. Plötzlich kam Syb am unteren Bettende zur Ruhe, kreuzte die Beine, lachte, atmete, und er konnte sehen, wie tief sie die Luft einsog.
    (..)
    Auf allen Vieren kam er angekrochen, noch zögernd nach der Erregung, nach der phantastischen Erotik, und wurde sich in dem Durcheinander, das sie mit den Laken gemacht hatten hatte, bewusst, dass er sich noch nicht vom Atem ihres Wiedererwachens erholt hatte, von der Schnelligkeit, mit der sie vom Höhepunkt der Liebe zum Spiel wechselte."
    Ein literarisches Experiment in Neuauflage
    Es gehört zu John Hawkes' Büchern, dass nur relativ wenige Leser ihm Gefolgschaft geleistet haben – darunter aber stets einflussreiche Kritiker oder Schriftstellerkollegen wie etwa William H. Gass, Saul Bellow oder Leslie Fiedler – also der Mann, der um 1967/68 die literarischen Spiele der Postmoderne für salonfähig erklärt. Fiedler schreibt beispielsweise für die amerikanische Ausgabe der "Leimrute" 1961 ein Vorwort, in dem er John Hawkes als einen Schriftsteller charakterisiert, dessen Werk nur einigen wenigen gehöre, nämlich denen, die sich nicht dem Massengeschmack hingeben.
    Das ist sicher nicht falsch, unterschlägt aber, dass Hawkes stets auch mit einer Fülle von Preisen und Stipendien bedacht worden ist, also kein vergessener Dichter ist. Fünfzig Jahren später wäre es interessant, das als zeitgenössische Einschätzung nachzulesen – doch genauso wie die deutschsprachige Erstausgabe von 1964 verzichtet auch die aktuelle Wiederauflage im Wiesbadener luxbooks-Verlag darauf. Was schade ist, weil sowohl die damalige "Nova-Reihe" des Limes-Verlages wie die heutige Reihe "Ohrensessel" bei luxbooks unverkennbar literarische Ambition signalisieren und sie auch einlösen, etwa durch die Übersetzung, die 1964 von der für ihre eigenen Bücher vielfach preisgekrönten Schriftstellerin Grete Weil vorgelegt wurde und die nun, verändert lediglich durch die Anpassung an die neue Rechtschreibung und durch Korrekturen von offensichtlichen Fehlern wieder aufgelegt worden ist.
    "Die Leimrute" ist damals ein Experiment und heute in erster Linie ein eindrückliches Werk der Literaturgeschichte, so wie alle frühen Bücher von John Hawkes, der 1998 gestorben ist. Raymond Federman, Harry Mathews, Donald Barthelme, Robert Coover – die Namen der experimentierfreudigen Schriftsteller neben denen John Hawkes als Gleicher unter Gleichen steht, sind bekannt und zahlreich. Er ist auch nicht der einzige unter ihnen, der den Weg zum Publikum nur mit Mühe findet. Die Neuausgabe der "Leimrute" bei luxbooks ist daher ein willkommenes Angebot, nachdem in den späten Achtzigern und frühen Neunzigern zunächst der Verlag P.S. Selinka und dann auch Suhrkamp sich eher erfolglos um Hawkes' Werk gekümmert haben. Wer sich an diesem Roman fest liest, den werden auch die Schreckensszenarien in anderen Hawkes-Romanen faszinieren können.
    John Hawkes: "Die Leimrute". Aus dem Amerikanischen von Grete Weil, Luxbooks Verlag, Wiesbaden.