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„Im Berg ist ein Leuchten“
Buch des Verschwindens

Ein Dorf im Strukturwandel, ein Mythos, der sich hartnäckig hält und eine junge Frau, die nach ihrem verschollenen Vater sucht: Der Schweizer Andri Perl hat mit „Im Berg ist ein Leuchten“ eine schmale, aber vielschichtige Erzählung vorgelegt.

Von Christoph Schröder |
Andri Perl: "Im Berg ist ein Leuchten"
Jahrhunderte alte Dorfmythen, Aberglaube und Irrationalität - Andri Perls Roman "Im Berg ist ein Leuchten" (Portraitfoto: Privat / Buchcover: Elster & Salis)
Es ist der alte Mattia Bischoff, der zu Beginn von Andri Perls Buch der Ich-Erzählerin Lisa von einer 60 Jahre zurückliegenden Begebenheit berichtet. Mattia ist wie Lisa in dem Dorf Sulvaschin aufgewachsen; beide haben dem in einem Seitental gelegenen Ort den Rücken gekehrt und leben mittlerweile in der nächstnäheren Stadt.
Im heißen Sommer des Jahres 1958 hütete der junge Mattia im Auftrag seiner Tante eine Horde Esel. Da das Wasser der Dorfbrunnen versiegt war, führte Mattia die Tiere zum Tränken auf eine vom Fluss und vom Felsen eingeschlossene Landzunge, von den Dorfbewohnern nur „die Insel“ genannt. Dort befand sich seinerzeit ein militärisches Übungsgelände; zudem hauste auf der Insel ein zurückgezogen lebender Eigenbrötler namens Stuppan.

Dorfmythen, Aberglaube, Irrationales

Als Mattia am Abend die Esel in den Stall zurückführen will, sind sie verschwunden. Stattdessen haben Soldaten das Gelände für eine Übung besetzt. Verzweifelt durchstreifen Mattia und ein Freund die Gegend auf der Suche nach den Tieren, als sie aus einem verfallenen Kirchengebäude eine Stimme hören:
„Die beiden Freunde standen unter dem Portal und lauschten. Jemand sang. Ein wüstes Lied war es. Im ehemaligen Chor der Kirche saß der alte Stuppan auf dem Boden. Er hatte ein Feuer gemacht, von welchem nur noch die Kohle gloste. Er sang und nagte zwischen den obszönen Strophen an einem großen Stück Fleisch. Als er die Jugendlichen entdeckte, stand er auf.
‚Im Berg ist ein Leuchten. Der Berg ist voller Wut‘, predigte er.“
Andri Perls schmale, konzentrierte Erzählung ist im Kern eine Spurensuche und die Rekonstruktion von Strukturen, die sich über Jahrzehnte hinweg aufgelöst haben. Lisa, die Ich-Erzählerin, hat in Sulvaschin gelebt, bis ihr Vater eines Tages auf der Insel verschwunden ist. Ihre Familie verließ daraufhin das Dorf. Doch der Vater blieb verschollen; nun, viele Jahre später, will Lisa herausfinden, was seinerzeit geschah.

Strukturwandel ländlicher Regionen

An einem Krimiplot hat Andri Perl allerdings kein Interesse. Ihm geht es zum einen darum, die Melange aus Jahrhunderte alten Dorfmythen, Aberglauben und Irrationalität in ihren historischen Tiefenschichten darzustellen. Zum anderen führt Perl am Beispiel des Dorfes den Strukturwandel ländlicher Regionen vor. Beides, so suggeriert es die zwischen Realismus und Schauergeschichte ambivalent gehaltene Erzählung, könnte für das Verschwinden von Lisas Vater verantwortlich sein.
Die Ich-Erzählerin befragt die Menschen im Dorf; ihren alten Lehrer, der ein Archiv führt, oder auch die Nationalparkaufseherin. Vor allem aber erhofft sie sich, von ihrer Großtante Auskunft zu erhalten, die im hohen Alter zur Gemeindepräsidentin des Dorfs geworden ist:
„Du recherchierst. Und zwar für dich. Du willst nach all den Jahren endlich wissen, was es mit dem Verschwinden deines Vaters auf sich hat. – Ich würde es auch wissen wollen an deiner Stelle.
Und an deiner Stelle? Was weißt du?‘“

Nüchterner, reportageähnlicher Ton

Andri Perl schreibt in einem betont nüchternen, streckenweise reportageähnlichen Ton. Und doch gelingt es ihm, das Geschehen in der Schwebe zu halten. Die Großtante und Lisas Vater, so stellt sich heraus, waren in Feindschaft verbunden. Der Vater wollte den Nationalpark auf das Gebiet der Insel ausweiten; die Großtante das dortige Kieswerk und die Arbeitsplätze erhalten. Hat man den Vater verschwinden lassen?
Zugleich aber raunt es bis in die Gegenwart durch das Dorf: Von sagenumwobenen Albino-Hirschen, vom Leuchten und Rumoren aus dem Berg, von gigantischen Pilzgeflechten, die für das Leuchten verantwortlich sein könnten. Nach all den Berichten aus zweiter Hand, die Lisa gesammelt hat, beschließt sie, der Sache selbst auf den Grund zu gehen:
„Ich möchte das Leuchten sehen, auch wenn es nur Glühwürmchen sind. Noch ist genug Licht da, dass ich auf den Weg hinunter über die Brücke und zur verfallenen Bergbausiedlung mühelos finde. Dort angekommen, setze ich mich auf den Boden, den Rücken an das Brunnenbecken vor den Ruinen des Knappenhauses gelehnt. Und warte.“

Rationalität und Aberglauben werden miteinander verschlungen

„Im Berg ist ein Leuchten“ ist ein charmantes, atmosphärisch ausgeklügeltes Stück Literatur, das Andri Perl in einem kalkuliert knappen erzählerischen Raum angesiedelt hat. Eine Landschaft und ihre Bewohner, unterschiedliche ökonomische Interessenlagen, Rationalität und Aberglauben werden hier zu einem unauflösbaren Geflecht miteinander verschlungen. Dass Andri Perl bis zum Ende keine Eindeutigkeiten schafft, ist keine Schwäche, sondern eine Stärke seines Textes.
Andri Perl: „Im Berg ist ein Leuchten“
Elster & Salis Verlag, Zürich. 110 Seiten, 20 Euro.